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Jazzzeitung

2009/04  ::: seite 1

titelstory

 

Inhalt 2009/04

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene / kurz, aber wichtig / ABC: Lester Young ist schuld / Farewell: Charlie Mariano starb mit 85Abschied von Bud Shank


TITEL -
Jazz im ganz nahen Osten
Eine Rückschau ins Land der Improvisateure mit Ausblick


DOSSIER
- Auf den Spuren des Balkan Jazz
Gespräche mit Nicolas Simion und Theodosii Spassov

Berichte
Jazz an der Donau im Juli 2009 // jazzopen Stuttgart 2009 // Jugend jazzt-Landessieger treffen Hannover // Jazz Sommer 2009 im Hotel Bayerischer Hof // 27. Südtirol Jazz Festival // Vorschau: 50 Jahre Blechtrommel: die beiden Günters arbeiten wieder zusammen


Portraits

Jon Balke // Esther Kaiser // Rainer Tempel // Julian und Roman Wasserfuhr // Marcel Worms // Labelporträt: Euphorium Records


Jazz heute und Education
Münchner Kritikerband „La Banda“ wagt den Schritt an die Öffentlichkeit // Große Parteien beantworten Wahlprüfsteine der BKJazz // Abgehört: Charlie Hadens Solo „Focus On Sanity“

Rezensionen und mehr im Inhaltsverzeichnis

 

Jazz im ganz nahen Osten

Eine Rückschau ins Land der Improvisateure mit Ausblick

Nein, es war nicht alles gut in der Deutschen Demokratischen Republik. Sonst gäbe es dieses ummauerte Konstrukt womöglich noch heute. So aber ist es seit zwei Jahrzehnten Geschichte, Zeit für diverse Bilanzen; die Bundesrepublik Deutschland hat (banale Tatsache, nur scheinbar bewusst) seit einem Drittel der Zeit ihres Bestehens das einstige Land der Improvisationskunst verinnerlicht.

Günter „Baby“ Sommer vor seiner Butze. Foto: Michael Scheiner

Bild vergrößernGünter „Baby“ Sommer vor seiner Butze. Foto: Michael Scheiner
Lesen Sie auch den Artikel zu Sommer und Günter Grass auf Seite 5!

Seitdem geht die Rede von Ostalgie, von Ost-Produkten, von Ost-Rock sogar. Aber Ost-Jazz? Nie gehört, diesen Begriff. Dabei war er ein Markenzeichen, das deutschen Sprachraum noch weit über Oder und Neiße hinaus überwand, auch in Polen, sogar an der Donau in Ungarn erklang. Im restlichen Ostblock blieb Jazz, wenn überhaupt, bis zuletzt nur in Nischenhaft. Die polnische Szene verdiente gesonderte Darstellung, ein Thema für sich. Also beschränken wir uns auf den Jazz aus und in den neuen deutschen Bundesländern. Auf dem Gebiet war dort tatsächlich nicht alles schlecht. Was ist er gewesen, wie klang er, vor allem: Was blieb von ihm übrig?

Für Jazz hat es nach ’89 keine Treuhand gegeben. Keine hitzig abwickelnden Raubritter, die sich an diesem Genre bereichern und vorhandene Werte hätten vernichten mögen. Breuel & Konsorten könnten Probleme schon beim Buchstabieren bekommen haben. Und da sie ohnehin nicht gut rechnen konnten, verdienten an den Hinterlassenschaften von Rundfunk und Schallplattenindustrie inzwischen andere Unternehmen recht gut. Profit vor allem für Jazzfans. Denen liegen Studioaufnahmen in exzellenter Qualität vor, sie können 40 Jahre sehr spezieller Jazzentwicklung nachvollziehen, die zwischen Dulden und Fördern meist auf außerordentlich schmalem Grat balanciert ist.

Die Protagonisten, soweit sie noch leben und auch aktiv sind, nähren sich (und ihr Publikum) von Tradition, also vormaliger Größe, und von dereinst erlernter Widerspenstigkeit. Ihre Musik klingt bis heute nicht aalig angepasst, nicht mainstreamig multiverwendbar für Club- und Shopping-Arenen.

Um ein paar Namen zu nennen: Joachim Kühn hat sich dank einer Einladung von Friedrich Gulda frühzeitig abgesetzt, Eigenheiten ausgebaut und Einflüsse aufgegriffen, ist unverkennbar geworden, war inzwischen wieder mehrfach auch in der einstigen Heimatstadt Leipzig präsent (und gefeiert!). Nicht nur mit seinem großen Bruder Rolf Kühn, dem Klarinettisten, treibt der 1944 geborene Pianist erstaunliche Grenzüberschreitungen, längst ist er auch Förderer neuer Talente.

Auch ein anderer Mann am Klavier stammt aus dem Osten, was wohl weitgehend unbekannt ist, zumal der sich längst nur mehr als Malerfürst feiern lässt: Markus Lüpertz. Geboren in Reichenberg (Liberec), ging er einst im sächsischen Crimmitschau zur Schule. Nur selten setzt er sich heute an einen Flügel, sammelt sich dann aber gern in alter Herrenrunde und lädt zum launigen Stelldichein. Gut zu wissen, dass dieses Feld auch heute noch mit Tradition und Wissen bestellt wird.

Wesentlich frecher agierten von Anfang an Leute wie Uschi Brüning, Ernst Ludwig Petrowski und Günther „Baby“ Sommer. Dieses Dreigestirn schaffte und schafft sich so nachhaltig wie eigenständig, ist kaum je in Charts angelangt, fristet aber auch kein armseliges Nischendasein. Mannen wie die Posaunistenbrüder Conny und Hannes Bauer, die Gitarristen Helmut „Joe“ Sachse und Uwe Kropinski gehören in eine vergleichbare Liga. Uli Gumpert nicht zu vergessen – und schon gedenkt der Fan des aus einer Formation namens Synopsis hervorgegangenen Zentralquartetts. Geschichte, Geschichten, die nachhallen ...

Was aber ist aus dem Ostjazz geworden? Diverse Festivals bieten inzwischen mehr Mainstream als Wagnis, mehr Abklatsch als Lust auf Entdeckung; eine Ausnahme mag da vielleicht Leipzig, nicht aber das Missverständnis von Dresden sein. Berlin findet und erfindet sich alle paar Jahre neu. Vom brandenburgischen Peitz ist schon längst keine Rede mehr. Dessen Inseldasein scheint verlorene Welt zu sein.

Längst sind inzwischen Austausch, Konkurrenz und Vergleichbarkeit spürbare Faktoren geworden. Fruchtbar vor allem für die Ausbildung und den Nachwuchs im Jazz. Berlin, Dresden und Leipzig gelten da als lebendige Zentren, wo gestandene Praktiker unterrichten. Studentischer Zuspruch und eine endlich auch adäquate Internationalität sind enorm. Wo hin und wieder Beliebigkeit durchklingt, wird die Zeit den Spreu vom Weizen trennen. Erstaunlich ist, dass etwa ein Stimmwunder wie Pascal von Wroblewsky nicht mehr in erster Reihe steht, ein virtuoser Solist, Komponist und Bandleader wie Stephan König größeren Durchbruch verdient hätte, Jacques-Loussier-Apologeten aber die Moden vorgeben. Selbst Günther Fischer zeigt sich abkömmlich, lebt längst im irischen Cork, ist nur hier und da – meist mit Tochter Laura – festivalpräsent. Da klingt also reichlich Wehmut durch, ist aktuell nur selten Innovation vorhanden. Doch wo wäre das anders? Auch ein Till Brönner wird nicht alle Tage neu geboren.

Die einst so herrlich unangepassten Altvorderen sind nach wie vor sehr tonangebend, erweisen sich eigenständig, unterweisen den Nachwuchs mal professoral, mal pur konzertant oder ungefragt via Konserve. Zwar finden die musikalischen Reibungen längst absolut weltoffen statt, doch lässt sich nach wie vor eine inhaltsbezogene und sowieso spieltechnisch bestens ausgebildete Musizierweise heraushören. Die Protagonisten des Ost-Jazz freilich kommen längst nicht mehr nur aus dem Osten, sondern sind Weltbürger wie die Gattung global ist.

Michael Ernst

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