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Natürlich kann nicht jeder so Saxophon spielen wie Coleman Hawkins. Aber Lester Young, dieser komische Kerl, erfand für sich dann einfach die Ausrede, es käme darauf an, „einen Song zu singen“. Stundenlang lauschte er Sinatra-Platten und lernte Songlyrics auswendig und damit begann das Übel. Kürzlich erzählte Herbie Hancock von einer Aufnahmesession: „Wir gingen erst mal in den Kontrollraum und diskutierten die Bedeutung der Songlyrics.“ Die frühen Jazzkritiker hatten also völlig recht, als sie Schlimmstes befürchteten, sobald Jazzmusiker ihre heterophon improvisierten Drags, Stomps, Struts und Blues verlassen und sich in die Akkordgerüste vom Fließband einpassen. Ob 78er-Scheibe, 45er-Single oder MP3-Download: Der Popsong gab das Format vor und der Jazz fügte sich. Heute ist Jazz eine Unterabteilung der Sparte Singer/Songwriter und wird von trällernden „Songstilistinnen“ mal eben so mit abgedeckt. Jazzstücke heißen neudeutsch „Instrumentalsongs“. Pfadfinderstoff von Bob Dylan, Joni Mitchell oder Tom Waits ist Jazzerpflicht. Jede junge Jazzband will lieber „Songs performen“ als Geistesblitze ins Gelände stellen, lieber Dominosteinchen legen als den öffnenden Pass spielen. Charlie Parker machte im Studio zwar auch diese 3-Minuten-Dinger, aber er träumte immerhin davon, Sinfonien zu improvisieren. Zum Glück hat dann die klassische Musik den Longplayer erfunden und uns daran erinnert, dass Strophe und Refrain nicht alles sind. Weil meine Stimme gegen die von Lester Young aber nicht viel zählt, erfinde ich jetzt einfach mal den legendären Multi-Instrumentalisten Billy Blackbird. Der sagte nämlich, und das ist verbürgt: „Wir dürfen die Lust an größeren Zusammenhängen nicht verlieren. Der Jazz kommt nur zu sich selbst, insofern er sich vom Song emanzipiert. Songs kann jeder. Im Jazz kommt es darauf an, Jazz zu spielen.“ Danke, Billy! Rainer Wein |
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