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„Aus den Schluchten des Balkan – Der Jazz entdeckt Südost-Europa“ konstatierte 2005 der Jazz-Kritiker und -analyst Hans-Jürgen Schaal auf seiner Homepage „Schaal’s Site“ eine bemerkenswerte Entwicklung, die schon vor einer ganzen Reihe von Jahren begonnen hatte. Aber wann eigentlich und durch wen? Schaal meint, es lasse sich wohl nicht mehr feststellen, wer als Erster die Idee gehabt habe, Jazz und Balkanmusik „zu verheiraten“, und deshalb erkläre er kurzerhand Dusko Goykovich zum Vater des Balkan Jazz.
Tatsächlich hatte der im Herzen des damaligen Jugoslawien, im bosnischen Jajce von serbisch-montenegrinischen Eltern geborene Trompeter bereits 1966 die LP „Swinging Macedonia“ produziert, mit solch berühmt gewordenen, an Volkslieder seiner Heimat angelehnten Eigenkompositionen wie „Bem-Basha“, „Nights of Skopje“ und „Balkan Blue“. Auch später ging Goykovich immer wieder gern „back to the roots“, ohne jedoch die Verknüpfung von Jazz und Folklore zu einem Leitmotiv seiner musikalischen Karriere zu machen. Doch gehört – neben einigen einzelnen seiner Kompositionen – zu einem „Balkan Jazz“-Katalog unbedingt seine großorchestral angelegte Jazzsuite „Balkan Blues“. An einen anderen Ahnherrn des Balkan Jazz erinnert Nicolas Simion, der in Köln lebende rumänische Saxophonist, Komponist und Bandleader, der sich selbst zu einem der profilierten Vertreter dieses Genres entwickelt hat („Balkan Jazz und mehr“, Jazzzeitung 3/05). Er spricht mit größter Hochachtung von dem bulgarischen Pianisten, Komponisten Milcho Leviev (geb. 1937), der von 1971 bis 1976 die ohnehin schon revolutionäre Big Band des Trompeters Don Ellis durch seine Arrangements mit den für die Balkan-Volksmusik typischen ungeraden Takte und schnellen Tempi noch zusätzlich aufmischte. Mit der Welle der Weltmusik und ihren „Unterwellen“ Latin, Cuba, Afro, Asian, Indian, selbst Aborigin überspülte uns bald auch eine Balkanwelle mit rasanten Gypsy Brass Bands wie den Fanfare Ciocârlia und den Taraf de Haïdouks aus Rumänien oder dem Kocani Orkestar aus Mazedonien, mit stimmgewaltigen Sängerinnen wie der mütterlichen Esma Redepova aus Skopje. Einschlägige Filme wie Emir Kusturicas „Time of the Gypisies“ mit der Musik von Goran Bregovic trugen ihr Teil zu einer allgemeinen musikalischen Balkan-Begeisterung bei. In der musikalischen Balkan-Euphorie, die übrigens in seltsamem Gegensatz zu den Schrecknissen der Jugoslawien-Kriege stand, wurden viele der Folklore-Ensembles und Blasorchester zu Jazzfestivals eingeladen, obwohl die meisten mit Jazz nichts zu tun haben, – wie Nicolas Simion meint. Wenn nun jemand das Spezifische sowohl der Folklore in Südosteuropa als auch die Möglichkeiten ihrer Adaption durch den modernen Jazz erläutern kann, dann wohl doch ein Jazzmusiker wie Nicolas Simion, der in einem siebenbürgischen Dorf in der Nähe von Brasov/Kronstadt mit dieser Musik aufgewachsen ist und sich zeit seines Musikerlebens mit dem Spannungsverhältnis zwischen Jazz und Folklore auseinandersetzt. Die Jazzzeitung traf ihn in Köln und fragte: Was hat es auf sich mit diesen komplexen Takten und Rhythmen südosteuropäischer Volksmusik, die auch Mittel- und Westeuropäer mitreißen, aber auch verwirren können und bei langsameren Tempi emotional tief berühren? Die Antwort, meint Simion, sei nicht einfach und nicht in kurze Worte zu fassen. Aber er versucht es: „Einmal sind es diese ungeraden Takte, zum Beispiel 5/8, 7/8, 9/8, auch 11/8 oder 13/8. Die Musik hat sich nach dem Text, nach der Betonung der Verse entwickelt, und die verliefen meist nach dem Rhythmus ‚kurz kurz kurz lang, kurz kurz kurz lang’. Und so sind auch die Tänze dazu gekommen und das Element der Geschwindigkeit. Auch ist immer ein improvisierter Teil dabei. Die Leute spielen nicht zweimal das Gleiche, auch wenn das Lied immer erkennbar bleibt. Jeder Instrumentalist tut was Eigenes dazu, noch ein paar Triller drauf, ändert ein bisschen die Linie. Es ist ein wenig so wie in der indischen Musik, die entwickelt sich auch ständig, aber sie hat schon eine Basis, sozusagen eine Syntax. „Die Musik“, fährt Simion fort, und seine Stimme wirkt bewegt von Erinnerung, „war und ist eigentlich immer noch ein Teil der Gesellschaft in all diesen Ländern. Überall, bei Hochzeiten, bei Begräbnissen, bei allen möglichen Festen wird Musik live gespielt, auf der Straße, auf den Höfen, in den Häusern. Die Menschen singen und tanzen. Immer ist eine Kapelle dabei, und wenn es bei armen Leuten manchmal nur eine Geige und ein Akkordeon, ein Dudelsack und eine Flöte ist. Dann gibt es diese typischen Chöre wie in Albanien und Bulgarien, wo die Frauen in hohen Vierteltönen singen. Die Musik in der ganzen Region Südosteuropas ist ungemein reich, und es ist kein Zufall, dass der große Béla Bartók und sein Kollege und Freund Zoltán Kodály diese Musik gesammelt, analysiert, transkribiert haben, unterstützt auch von dem mit den beiden Ungarn befreundeten rumänischen Musikethnologen Constantin Brâiloiu. Diese großartigen Menschen haben gewusst, dass es dort einen Thesaurus der Volkskultur zu erhalten gibt, und sie haben ihn der Nachwelt erhalten. Allein Bartok hat über 10 000 Instrumental- und Vokallieder aus Siebenbürgen transkribiert, für die einzelnen Instrumente wie Geige, Dudelsack, Flöten, Klarinette, das Alphorn, rumänisch Bucium, und natürlich auch die menschliche Stimme.“ Nicolas Simion waren 1988 bei einem Zwischenaufenthalt in Budapest die Transkriptionen für Klavier in die Hände gefallen. Er war so fasziniert von der oralen Tradition und dem Reichtum der Volksmusik seiner Heimat, dass er all seinen mühsam verdienten Hilfsarbeiterlohn für den Erwerb der Hefte ausgab. Und 1991, nachdem ihm drei Jahre zuvor die Flucht nach Wien geglückt war, zierte er seine erste im Westen veröffentlichte CD mit dem Titelstück „Black Sea“, denn dem Schwarzen Meer war eines der schönsten rumänischen Lieder aus Bartóks Sammlung gewidmet, das der junge Simion nun dem modernen Jazz zu öffnen versuchte. Simion verfügt über eine viel zu große Bandbreite, als dass er sich ausschließlich als Vertreter des Balkan Jazz sieht. Er komponiert auch Kirchenmusik, Ballettstücke, Werke für Sinfonieorchester und Jazzband, ist auch als Jazzinstrumentalist von Be Bop über Hard Bop bis zum Free Jazz in allen Sätteln gerecht. Bei den jüngeren Kollegen in Rumänien vermisst er die Weiterpflege der rumänischen und balkanischen Volksmusiktradition wie sie in den sechziger und siebziger Jahren mit großen, auch über die Grenzen Rumäniens hinaus bekannten Jazzmusikern verbunden war wie dem Pianisten Yancy Körössy, den Simion aus Amerika zurückgeholt und dem europäischen Jazzleben zurückgegeben hat, dem Pianisten und Bassisten Johnny Raducanu, der nach erfolgreichen Jahren in den USA auch wieder heimgekehrt ist, dem mit 40 Jahren allzu früh verstorbenen Pianisten und genialischen Komponisten Richard Oschanitzky, den es bei uns noch zu entdecken gilt. „Die Musiker der mittleren Generation aber“, beklagt Simion,“ wollen möglichst amerikanisch klingen und amerikanische Standards spielen, was ja nicht verkehrt ist, aber wie kann ein Rumäne besser Standards spielen als ein Amerikaner?“ Er selbst gastiert oft in seinem Heimatland, versucht dabei auch, rumänische Musiker zu unterstützen, mit einzubeziehen, aber er bemerkt, dass bei vielen von ihnen wie auch beim breiten Publikum außer den klassischen Standards entweder modischer Jazzrock und Fusion oder billige kommerzialisierte Folklore besser ankommen als sein anspruchsvoller Ethno-„Balkan Jazz“, mit dem er sich inzwischen in unseren Breiten einen Namen erspielt hat. Mit anderen Worten: „Der wirkliche Balkan Jazz wird hierorts gespielt?“ Simion darauf lachend: „Genau so ist es. Es ist ein Paradox!“ Eine ironische Überspitzung, gewiss, aber mit den Definitionen im Jazz, ja mit dem Begriff Jazz selbst, ist es bekanntlich eh so eine Sache, und als vor genau zehn Jahren und an eben jenem Ort, an dem die Jazzzeitung jetzt Nicolas Simion zum Gespräch über Balkan Jazz traf, nämlich im Kölner Stadtgarten, die Deutsche Welle mit der „Nicolas Simion Group feat. Dusko Goykovich“ ein Konzert mit dem Titel „Balkan Jazz“ veranstaltete, aus dem eine beachtliche CD gleichen Titels entstand, da war der Simion, wie er jetzt eingestand, „von dieser Idee eines Oberbegriffs ‚Balkan Jazz’ nicht so begeistert“, aber mittlerweile finde er ihn doch schon irgendwie treffend. Mit einigem berechtigtem Stolz verweist Simion darauf, dass er 2004 mit seiner Band zu einem Konzertprojekt mit der WDR Big Band eingeladen worden war, für das deren früherer Chef Bill Dobbins Simions Stücke für Big Band arrangiert hatte und eigens aus den USA angereist war, um die Proben und die Konzerte zu leiten. Titel des Projekts – „Balkan Jazz“! Noch in diesem Jahr wird die CD bei NRW Records erscheinen. Ähnlich flexibel und unbekümmert um Definitionen zeigte sich wenige Wochen vor dem Treffen mit Nicolas Simion ein anderer prominenter Jazzmusiker vom Balkan, der bulgarische Kavalspieler Theodosii Spassov. In der Ansage seines Kölner Konzerts hatte es geheißen, die Zuhörer würden „Jazz aus Bulgarien“ hören. Aber der immer freundlich und im Gegensatz zu seinem temperamentvollen Spiel zurückhaltend auftretende Spassov erklärte danach ganz ruhig: „Ich werde Musik spielen, die hundertprozentig aus Bulgarien kommt. Einige Leute sagen, das sei Folklore, andere nennen sie Jazz, wieder andere Zeitgenössische Musik (Contemporary). I don’t know what is the name of this music. It is Bulgarian Music. Enjoy!“ Im Gegensatz zum Multiinstrumentalisten Simion beschränkt sich Spassov auf ein Instrument, die achtlöchrige hölzerne Hirtenflöte Kaval, eines der ältesten Instrumente Europas, wenn nicht der Welt, das er seit frühester Kindheit bei seinem Vater, einem Musiklehrer an der heimatlichen Dorfschule, lernte und später an der Hochschule in Plovdiv ausgiebig studierte, dabei sein Spiel nicht nur zu höchster Virtuosität führend, sondern auch einen völlig neuen, ganz eigenen Stil entwickelnd. Diese Spieltechnik im Verein mit seiner hoch entwickelten Musikalität, seiner Improvisationskunst und seinem Einfühlungsvermögen befähigt ihn, eine Synthese aus traditioneller Folklore mit Jazz, Fusion, Pop und Klassik einzugehen, manchmal getrennt, manchmal hintereinander, manchmal verschmolzen. Als ganz junger Mensch hatte er unter den traditionellen Instrumenten der Volksmusik das Kaval gewählt, weil er mit ihm romantische Gefühle verband, Schäfer, die mit ihren Herden durch Wälder und Auen streiften, in freier Natur und ohne Sorgen. Den natürlichen Klang der Flöte, wie er ihn als Knabe geliebt und zu spielen erlernt hatte, schätzt und pflegt er auch heute noch, natürlich sehr viel ausgebildeter, raffinierter, unglaublich virtuos und passagenweise zutiefst anrührend. Aber er vermag auch durch elektronische Manipulation die schrägsten, ja schrillsten Effekte zu erzielen, so dass sich der Zuhörer fragt, wo aus dem kleinen Instrument der Spieler diese Klänge hervorbringt. Wieder lacht Spassov verschmitzt und verweist auf sein Geburtsjahr 1961: „Ich wuchs mit der Musik jener Zeit auf, der Hippie-Zeit, der Musik von Jimmy Hendrix, Deep Purple, Uriah Heep etc. Und auf der Jazz-Seite gab es Hubert Laws, den amerikanischen Flötisten, und Jethro Tull, dann Roland Kirk, von diesen Leuten gewann ich als junger Mensch meine Soundästhethik. Normalerweise benutze ich den Originalsound meines Instruments, aber die junge Generation liebt noch immer sehr die elektronische Spielweise der Sechziger.“ Auf diese Weise kann er auf die speziellen Wünsche von Konzertveranstaltern eingehen. Wird traditionelle bulgarische oder Balkan-Folklore verlangt, stellt er ein entsprechendes Ensemble zusammen, mit den traditionellen Instrumenten und den typischen drei Sängerinnen. Auf internationalen Jazz-Festivals wartet er mit einem Mix aus Balkan Jazz, Oriental, Rock oder gar Pop auf. Auf die skeptische Frage „Aber Ihre Person, Ihre Persönlichkeit bleibt dieselbe?“ folgt die fast bekenntnishafte Erwiderung: „Mein Kopf ist derselbe, mein Körper ist derselbe, mein Herz ist dasselbe, nur die Kleider sind verschieden. Manchmal sind sie traditionell, manchmal mehr modern, mehr zeitgemäß, es hängt vom Projekt ab. Als ich jung war, träumte ich davon, auf meinem Instrument mit allen Musikern aller Richtungen und Stile zu spielen, von der europäischen Klassik, über die Musik der östlichen Hemisphäre und Indiens, über den Jazz, den Rock, die Popmusik. Dieses mein Instrument zu spielen, bedeutet wahre Kommunikation, geistige Kommunikation mit anderen Musikern meiner Zeit.“ Zu diesen Musikern gehört natürlich Milcho Leviev, der – längst wieder in Sofia lebend – hoch geachtet und ausgezeichnet noch immer aktiv ist. Und wie es der Zufall will, finden wir eine überaus lobende Rezension dieses Veteranen des Balkan Jazz auf der ersten eigenen CD „Thracian Dance“ des jungen bulgarischen Saxophonisten Vladimir Karparov, als er im Duo mit seinem Landsmann, dem renommierten Pianisten Antoni Donchev, im Mai in Bonn Rahmen der Reihe „Euro Jazz 21“ in einem fulminanten Konzert auftrat. So schließt sich der Kreis, zumal Leviev hier auch noch seinen alten Boss Don Ellis zitiert. Was lag näher, als abschließend diese beiden bulgarischen Musiker ebenfalls zu unserem Thema zu befragen. Der in Berlin lebende Karparov, der erst in der Fremde, während seines Studiums in Hamburg, sich mit der Volksmusik seiner Heimat intensiv zu beschäftigen begann, um sie nun fortwährend in seine Jazzmusik zu integrieren, bejaht zwar, dass es so etwas wie Balkan Jazz gebe, aber da der Begriff Balkan derzeit in der Pop-, DJ-und Disco-Branche inflationär verwendet werde, zieht er es vor, ganz konkret von rumänischem, griechischem, türkischem Jazz oder eben bulgarischem Jazz zu sprechen, wie er ihn großartig gelungen auf seiner Jungfern-CD bietet. Der vielseitige, auch als Komponist für Film und Schauspiel tätige, bei deutschen Theatern viel beschäftigte Donchev hält es dagegen kühl mit Theodosii Spassov: „I cannot agree with the term Balkan Jazz. There is only Jazz.“ Aber auch er besteht darauf, dass die Einflüsse balkanischer Volksmusik dem Jazz und der improvisierten Musik eine zusätzliche „freshness“, eine ganz eigene originelle Note und zusätzliche Authentizität verleihen. Doch wie auch immer man den von südosteuropäischer und balkanischer Volksmusik beeinflussten Jazz definieren oder rubrizieren mag, in ihrem qualitativen Urteil dürften alle, die sich intensiver mit dieser Musik befassen, übereinstimmen: „It’s great stuff.“ So lapidar formuliert es Theodosii Spassov für die Simion/Goykovich CD „Balkan Jazz“. Und das darf getrost verallgemeinert werden. Dietrich Schlegel CD-Tipps •
Dusko Goykovic: Swinging Macedonia, enja 1988 |
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