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Jazzzeitung

2009/04  ::: seite 22

farewell

 

Inhalt 2009/04

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene / kurz, aber wichtig / ABC: Lester Young ist schuld / Farewell: Charlie Mariano starb mit 85Abschied von Bud Shank


TITEL -
Jazz im ganz nahen Osten
Eine Rückschau ins Land der Improvisateure mit Ausblick


DOSSIER
- Auf den Spuren des Balkan Jazz
Gespräche mit Nicolas Simion und Theodosii Spassov

Berichte
Jazz an der Donau im Juli 2009 // jazzopen Stuttgart 2009 // Jugend jazzt-Landessieger treffen Hannover // Jazz Sommer 2009 im Hotel Bayerischer Hof // 27. Südtirol Jazz Festival // Vorschau: 50 Jahre Blechtrommel: die beiden Günters arbeiten wieder zusammen


Portraits

Jon Balke // Esther Kaiser // Rainer Tempel // Julian und Roman Wasserfuhr // Marcel Worms // Labelporträt: Euphorium Records


Jazz heute und Education
Münchner Kritikerband „La Banda“ wagt den Schritt an die Öffentlichkeit // Große Parteien beantworten Wahlprüfsteine der BKJazz // Abgehört: Charlie Hadens Solo „Focus On Sanity“

Rezensionen und mehr im Inhaltsverzeichnis

 

Weltbürger der Musik

Charlie Mariano starb mit 85

Niemand ist Weltbürger, nur weil er viel unterwegs ist. Sonst könnte längst jeder nur halbwegs erfolgreiche Musiker, und sei es der Barpianist von Hochseedampfern, dieses Attribut für sich verbuchen. Kosmopolit aber wird man nicht durch gesammelte Flugmeilen, sondern aus Lebenserfahrung und Weltkenntnis heraus. Ein Künstler wie der Saxofonist Charlie Mariano hat seine Weltbürgerschaft wahrhaftig gelebt, ohne viel Aufhebens davon zu machen. Über lange Jahrzehnte, sowohl biografisch als auch musikalisch.

Charlie Mariano im Jahr 2000 im Jazzclub Regensburg. Foto: Michael Scheiner

Bild vergrößernCharlie Mariano im Jahr 2000 im Jazzclub Regensburg. Foto: Michael Scheiner

Geboren wurde der spätere Meister als Camine Ugo Mariano 1923 in Boston, wo er seine Jazzkarriere in der frühen Nachkriegszeit startete und von wo aus er schon bald mit den ganz Großen der Zunft – Woody Herman etwa, Charlie Parker und Dizzy Gillespie – auf Tour, durch die Konzertsäle und in die Plattenstudios zog. Beizeiten widmete er sich der Weltmusik – ein Vorgänger zahlloser Nachahmer auch darin, wurde doch dieser heute längst schwammig gewordene Begriff erst viel später kreiert.

Doch der Schmelztiegel der Neuen Welt, in die seine aus den Abruzzen stammenden Eltern nach ihrer Auswanderung aus Italien hineingeraten sind, der hat den jungen Mariano schon früh beeinflusst. Er beließ es allerdings nicht dabei, dass die Dinge auf ihn einwirkten, er machte sich gern selbst und vor Ort ein Bild.

Reisen nach Japan prägten ihn, der zunächst Klavier gespielt hatte, dann aber zu Saxofonen und Flöten wechselte, ebenso wie ein Aufenthalt in Indien. Dort hat er nicht nur das der Oboe ähnelnde Instrument Nadaswaram (auch als Nadhaswaram oder Nagaswaram bezeichnet) zu spielen erlernt, sondern darüber hinaus für sein gesamtes weiteres Leben entscheidende Wendungen erfahren. Vielleicht auch die Wurzeln dafür gefunden, ein Leben lang bodenständig geblieben zu sein.

Was viele Europäer und Amerikaner auf dem Subkontinent gesucht haben, Mariano hat es gefunden: Eine Energie von ganz tief innen, die sich seitdem in seiner kraftvoll intensiven Musizierweise widergespiegelt hat. Das war 1973, von da an verschmolz, was Mariano den bisherigen Jazztraditionen abgelauscht hat, mit einer geradezu glückhaft spürbaren Emotionalität, die sich vielfältig der vorherrschenden Einflüsse bediente, um originär in einem eigenen Stil zu münden. Man könnte Charlie Mariano als Lyriker des Jazz bezeichnen. Ein Virtuose, der in traumwandlerischer Sicherheit die instrumentalen Möglichkeiten von Saxofonen und Flöten auslotete, war er sowieso. Und stets auch ein Meister der Fusion!

Ansteckend: Man konnte sich ihm nicht entziehen.

Denn ein Charlie Mariano verband nicht nur Okzident und Orient, nicht nur Neue und Alte Welt (obschon er diese Begriffe für überkommen gehalten haben dürfte!), sondern röhrte in die Bereiche des rockigen Jazz, fauchte sich durch die Folklore und transzendierte vital alle Tradition.

Von Anfang der 1970er Jahre an lebte er, nach mehrjährigem Aufenthalt in Japan, in Europa, dort zunächst in den Niederlanden; fand hier neue Partner und lotete mit ihnen den Klangkosmos aus. Als einer der ersten musizierte er im Verbund mit dem libanesischen Oud-Spieler Rabih Abou-Khalil und dem argentinischen Bandoneonisten Dino Saluzzi. Als Mitbegründer des United Jazz & Rock Ensemble führte er den Gedanken des stilistischen Schmelztiegels auch eine Zeitlang im Titel. Kein Wunder, dass die-se mitunter auch Band der Bandleader geheißene Formation dieses Spiel- und Improvisationstalent förmlich an sich sog. Ein ebenso wechselseitiger Vorgang wie die Inspiration Marianos, mit der er sein Publikum faszinierte. Einem wie ihm konnte sich niemand entziehen.

Dutzende Einspielungen erschienen im Lauf der Jahrzehnte unter Marianos Namen, seinem Mitwirken sind sogar mehr als 300 Scheiben zu verdanken, die er mit einem wie aus der interplanetaren Endlosigkeit kommenden Sound bereichert hat.
Inspirierend war der seit langem von schlohweißem Haar gekrönte Guru nicht nur in dem, was er aus sich selbst hervorgebracht hat, sondern beispielsweise auch in der Zusammenarbeit mit Liedermachern wie Herbert Grönemeyer und Konstantin Wecker. Mit dem Münchner Barden gab Mariano unvergessliche Konzerte, fügte sich scheinbar alterslos ein und bereicherte noch jedesmal mit seinem bezwingend impulsiven Spiel. Die tiefe Emotionalität, die Charlie Mariano beinahe jeder Note zu entlocken verstand, hatte zumeist einen psychologisch verstehenden, ja einblicksvollen Hintergrund.

Als bräuchte es sonst keines Beweises, wie jung guter Jazz halten kann, tourte Mariano noch in vergleichsweise hohem Alter durch die Konzertsäle. Und keinmal schien er gealtert. Selbst als der Meister bereits in seinem neunten Jahrzehnt lebte, blieb der musikalische Vortrag frisch und vital, unglaublich. Entrückt wirkte er jedoch nur in seinem Welten verbindenden Spiel. Am 16. Juni 2009 ist er 85-jährig in seiner Wahlheimat Köln an Krebs gestorben.

Michael Ernst

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