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Jazzzeitung

2003/06  ::: seite 22-23

dossier

 

Inhalt 2003/06

STANDARDS

Editorial / News / break
musiker-abc:
Joe „King“ Oliver
all that jazz:
Bildverlust, Tonstörung
no chaser:
Body & Soul
Farewell.
Nina Simone


TITEL / DOSSIER


Schöne obskure Welt des Jazz.
Die Saxophonistin Carolyn Breuer geht zurück nach München
Üben und lernen und üben…
Ein Vorbild allein genügt nicht: Beispiel John Coltrane


BERICHTE


Burghausen.
Internationale Jazzwoche 2003
Hamburg. Haden und Metheny in der Musikhalle
Illmenau. Internationale Jazztage
Leipzig. „Headfake“ im Spizz


PREVIEW

Feuerwerk in Schleswig-Holstein
13. JazzBaltica in Kiel, Husum und Salzau


 JAZZ HEUTE


Bye Bye Mojo. Abschied vom legendären Club an der Reeperbahn
Moers-Festival ohne WDR.
Aufbruch am Niederrhein mit neuen Akzenten
Tönender Beweis für die Szene. Barbara Dennerlein zur Jazzbotschafterin berufen


 PORTRAIT / INTERVIEW


Gute Erfahrungen.
Jenny Evans feiert 25-jähriges Bühnenjubiläum
Klimpernder Freimaurer mit Ich-AG. Multitalent Harry Kulzer und seine Liebe zum Boogie-Piano
Wegweisend in allen Rollen. Bassklarinettist, Flötist und Altsaxophonist: Eric Dolphy
Vielfalt beglückt. Ralf Altrieth und Johannes Reichert und ihr Label meta records


 PLAY BACK / MEDIEN


CD. CD-Rezensionen 2003/06
Bücher. Biografien über Stan Getz und Buddy DeFranco
Noten. Techniken des Schreibens
Instrumente. Tech 21 und der Kompaktverstärker Landmark 60
Internet
. Link-Tipps


 EDUCATION


Abgehört 16. Die Melody Maker: Jaco Pastorius spielt Pat Metheny
Play-Alongs einer Ich-AG. Stefan Berker erweitert sein Grundlagenwerk für den Jazzeinstieg
Mit grossen Schritten. Ein Workshop der etwas anderen Art
Ausbildung. Kurse, Fortbildungen etc.


SERVICE


Critics Choice

Service-Pack 2003/06 als pdf-Datei (kurz, aber wichtig; Clubadressen, Kalender, Jazz in Radio & TV, Jazz in Bayern und anderswo (558 kb))

Üben und lernen und üben…

Ein Vorbild allein genügt nicht: Beispiel John Coltrane

„Die Rolle von Vorbildern im Jazz am Beispiel von John Coltrane“ lautet der volle Titel dieser Zusammenfassung eines Vortrages, den Professor Joe Viera, Lehrbeauftragter der Universitäten München und Passau und langjähriger Jazzzeitungsautor anlässlich einer Tagung zum Thema „Spiritualität und Jazz: John Coltrane“ im September 2002 in der Evangelische Akademie Tutzing hielt.

Jazzmusiker haben schon immer mit Vorbildern gearbeitet, auch die Großen: Louis Armstrong hatte King Oliver als Vorbild, Bix Beiderbecke Nick LaRocca, Fats Waller James P. Johnson, Lester Young Frank Trumbauer, Charlie Parker Lester Young, Dizzy Gillespie Roy Eldridge, Oscar Peterson Art Tatum ... Das ist heute noch genauso. Warum? Ganz einfach vieles (und gerade ganz Wesentliches) im Jazz ist nicht notierbar: die so vielfältigen Instrumentalklänge, die Feinheiten der Phrasierung (vor allem der swing), die Artikulation, dynamische Schattierungen ... all das ist nur durch das genaue Studium von Vorbildern, vor allem von deren Aufnahmen, erfahr- und nachvollziehbar.

Vorbild für mehr als eine Generation: John Coltrane. Beide Fotos: Jazzzeitungs-Archiv

Jazzmusiker – und mit diesem Begriff sind im folgenden immer auch Musikerinnen, Sängerinnen und Sänger gemeint – brauchen also Vorbilder. Ohne diese würden sie völlig in der Luft hängen; sie wären isoliert, weil sie nicht verstehen würden, worum es im Jazz geht. Die öfter zu hörende Ansicht, das Studium von Vorbildern würde dazu führen, dass man an diesen gewissermaßen „hängen bleibt“ und nur noch so wie sie spielt, ist falsch. Wegen der vielen individuellen Feinheiten dieser Musik, die einerseits erwünscht, andererseits aber auch unvermeidlich sind, spielen keine zwei Musiker völlig gleich. Man muss nur genau genug hinhören. Dass Paul Quinichette genau wie Lester Young gespielt habe, stimmt ebenso wenig wie etwa die Behauptung, Lester Young habe ohne Vibrato gespielt. Er hat nur eine neue Art von Vibrato entwickelt (Endvibrato bei längeren Tönen statt Durchvibrieren jedes Tones), was für seine Phrasierung notwendig war und erst recht für die sich daraus entwickelnden Be Bop-Figuren. Die meisten von ihnen sind mit einem Vibrato a la Louis Armstrong nicht spielbar das war das Problem, mit dem Coleman Hawkins ständig kämpfte, als er sich dem Be Bop immer mehr näherte.

Trotz den gegenüber früher sehr verbesserten Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten für Jazzmusiker ist das „Practicing on stage“, das Üben und Lernen während der Auftritte, wobei jeder Musiker einer Band zum Vorbild für die übrigen wird, nach wie vor ein wesentliches Mittel, um als Musiker weiterzukommen. Dazu ein eigenes Beispiel. In den 60er-Jahren spielte ich in München im Regina-Hotel einige Male mit einem amerikanischen Saxophonisten (den Namen habe ich nicht behalten), der mir in einer Pause einige der alternate fingerings zeigte, die Lester Young auf dem Tenorsaxophon entwickelt hatte und die in keinem Lehrbuch standen. Das sind alternative Griffe für bestimmte Töne, die eine gegenüber den normal gegriffenen Tönen andere Klangfarbe ergeben. Ebenso zeigte er mir den „Webster Cry“, eine besondere Figur, ebenfalls nirgends beschrieben, die von Ben Webster stammt. Ich habe das Gelernte natürlich sofort bei den nächsten Stücken, die wir an diesem Abend spielten, angewendet und ausprobiert, und von da an meinem Griffrepertoire als festen Bestandteil hinzugefügt. So etwas geht bei uns sehr schnell. Jazz zu spielen ist eben eine besondere, hoch spezifizierte Handwerkskunst, die auch heute noch zum Teil mündlich von den älteren an die jüngeren Musiker weitergegeben wird. Kritiker wie Jazzfans wissen darüber häufig nur wenig oder gar nichts, was sehr schade ist, denn dieses Wissen macht vieles in der Musik verständlicher. Da aber heute die Meisten der jüngeren, die über Jazz schreiben, ihn auch selbst spielen oder gespielt haben, wird diese Kluft zum Glück kleiner.

Interludium A

Wie ist der Jazz aufgebaut? Der Jazz ist im Gegensatz zur klassischen Musik wegen seiner schwarz afrikanischen Wurzeln eine sprachähnlich strukturierte Musikform. Man kann bei Jazzfiguren tatsächlich von Silben, Worten, zusammengesetzten Worten und Sätzen sprechen, sodass Urteile über Musiker wie „er erzählt eine Geschichte“ oder Aufforderungen wie „Tell your story“ durchaus wörtlich zu nehmen sind.

„Wir lernen Jazz am besten und schnellsten wie eine Sprache. Was tun wir, wenn wir Englisch lernen wollen? Wir besuchen einen Sprachkurs. Ein Lehrer erklärt Schreibweise und Aussprache von Worten, dazu grammatikalische Regeln. Dann schreibt er Wort für Wort an die Tafel, spricht die Worte vor und wir sprechen sie nach. Je genauer wir die Aussprache des Lehrers kopieren, desto schneller lernen wir. Schließlich werden Sätze gebildet. Wir sind mehr und mehr imstande, uns auszudrücken. Gleichzeitig lernen wir zu improvisieren, nämlich spontan mit Worten umzugehen. Dabei brauchen wir keine Angst zu haben, unser Leben lang nur so wie der Lehrer zu sprechen. Je weiter wir kommen, desto selbstständiger werden wir.“

Vorbild für mehr als eine Generation: John Coltrane. Beide Fotos: Jazzzeitungs-Archiv

Genauso im Jazz. Wir lernen zunächst einen eintaktigen Rhythmus nach dem anderen, später zwei- und mehrtaktige Rhythmen. Wir lernen sie erst klatschen und gleichzeitig ihre Schreibweise. Dann spielen wir sie auf unserem Instrument, erst auf einem Ton, dann in Kombination mit verschiedenen Tönen (wir rhythmisieren beispielsweise Tonleitern und Arpeggien). Dann harmonisieren wir sie. So schaffen wir uns ein Repertoire an Worten in der Sprache des Jazz. Wir brauchen es sowohl bei Spiel von Arrangements und Kompositionen als auch beim Improvisieren.

Das Ziel heißt zunächst nicht Innovation, sondern Kommunikation. Kommunikation zwischen Menschen setzt eine gemeinsame Sprache voraus. Wir haben im Jazz auch keine Scheu vor Wiederholungen. Wir verwenden ja im täglichen Leben auch zum Teil immer wieder dieselben Formulierungen. Besondere Akzente und Färbungen drücken dabei unseren augenblicklichen Gemütszustand aus.“ (aus „Grundlagen der Jazzrhythmik“/Universal Edition, vom selben Autor).

Jazz lernen heißt: Vokabeln lernen, sich einen Wortschatz zulegen. Freilich können die Worte der Sprache Jazz in viel weitergehender Form als in jeder gesprochenen Sprache miteinander kombiniert und verändert werden. Die Stile sind Dialekte, die schulebildenden Spielweisen der großen Musiker Unterdialekte. Hieraus folgt, dass es keinen Hochjazz (analog zur Hochsprache) gibt, sondern nur Dialekte (Hauptdialekt ist der Bebop).
Strenggenommen steht der Jazzmusiker dem Schriftsteller und dem Schauspieler näher als dem Musiker klassischer oder Neuer Musik. Wenn die zehn besten Schauspieler deutscher Sprache hier wären und denselben Text sprechen würden, so würden sie sich doch erheblich voneinander unterscheiden, im Klang ihrer Stimme, im Sprechtempo, in der Artikulation u.a.m. Das entspricht dem Spiel von Noten. Wenn sie improvisierend einen Text erfinden würden, so würden sie auch dann keine neuen Worte erfinden, sondern alle dieselbe deutsche Sprache verwenden, da sonst ihre Verständlichkeit sehr erschwert oder unmöglich würde. Aber ihre Gestaltungsfreiheit wäre noch größer. Ich sage zu meinen Schülern immer: „Die Wahrscheinlichkeit, dass einer von uns, mich eingeschlossen – einen Rhythmus oder einen Akkord erfindet, der noch nie gespielt wurde, ist sehr gering. Aber jeder von Euch kann bei entsprechendem Einsatz so weit kommen, dass er die Sprache Jazz in einer persönlichen, schließlich vielleicht sogar unverwechselbaren Art und Weise spricht. Er kann sich damit in einer Intensität ausdrücken, die in einer auskomponierten Musikform kaum oder gar nicht möglich ist. Darin liegt Eure Chance.“ Die Möglichkeiten in einer Musik mit Improvisation sind naturgemäß viel größer für den einzelnen Künstler als in einer auskomponierten Musik. Aber sie sind nicht unendlich groß. Darum ist es bei der immer mehr zunehmenden Zahl von Jazzmusikern nicht verwunderlich, dass Ähnlichkeiten zwischen ihnen zunehmen. Aber Ähnlichkeiten sind keine Übereinstimmungen. Je älter wir werden, desto öfter treffen wir jemanden, dessen Stimme uns an jemand anderen erinnert. Aber trotzdem werden wir die beiden nicht miteinder verwechseln.

Interludium B

Wie sieht guter Instrumentalunterricht im Jazz heute aus? Der Lehrer arbeitet abwechselnd mit

  • Noten
  • Akkordsymbolen
  • Vorspielen – Nachspielen (Spiel nach Gehör)
  • Improvisationen
  • er begleitet den Schüler am Klavier
  • mit Mitspiel-CDs
  • ohne Begleitung
  • Aufnahmen großer Musiker, die analysiert werden

Der Lehrer ist für den Schüler ebenfalls ein Vorbild, versucht aber nicht aus Eitelkeit, ihm von Studium der großen Musiker abzuhalten. Und er schafft eine möglichst entspannte Atmosphäre. Dazu gehört auch das Erzählen der vielen Geschichten, die es über Jazzmusiker gibt (häufig noch nicht publiziert),und die natürlich immer zahlreicher werden. Sie sind fast ein Teil der Musik. Jazzmusiker haben was mit den Anforderungen des Improvisierens zusammenhängt einen stark entwickelten Sinn für Situationskomik; oft sind sie selbst die Urheber solcher Situationen.

Interludium C

Vorbilder werden wegen der beliebigen Wiederholbarkeit vor allem an Hand von Tonaufnahmen studiert:

  • Hören, hören, hören

Die Hälfte des Übens im Jazz besteht aus dem Hören von Aufnahmen, die ein viel genaueres Bild einer Spielweise ergeben als Noten. Zudem ist dies eine ideale Vorbereitung auf das Spiel in einer Gruppe, wo wir ja auch ständig auf alle anderen hören und auf sie reagieren.

  • Grobanalyse eines Solos (Transkription)
  • Feinanalyse
  • Nachspielen und Verarbeiten einzelner Figuren
  • Nachspielen des ganzen Solos (eventuell Auswendiglernen) Selbst Charlie Parker, der größte aller Jazzmusiker, konnte Solos seines Vorbildes Lester Young auswendig spielen.

Es ist ein Irrtum, zu glauben, dadurch würden Spontaneität und Kreativität behindert. Im Gegenteil: beides wird durch diese Arbeit angeregt und gefördert. Sie war im Jazz immer schon üblich; nur erfolgt sie heute systematischer als früher und wird zudem durch entsprechende Literatur, die es früher nicht oder nur in unzureichender Form gab, unterstützt.

Beileibe nicht jeder große Musiker eignet sich als Vorbild für einen Anfänger. Dieser braucht Modelle, die durchschaubar sind und nicht zu viele Töne enthalten; das hat nur bedingt mit ihrem künstlerischen Rang zu tun. Dexter Gordon war einer von den Großen, aber er spielte immer verstehbar, und er konnte mit einem einzigen Ton schon eine ganze Geschichte erzählen. Sicher kann man von jedem Musiker etwas lernen. Aber das Vorbild für einen Anfänger muss ohne lange Vorarbeit begreifbar sein. Ein Anfänger konzentriert sich zweckmäßigerweise zunächst auf ein Vorbild, ohne die anderen großen Musiker seines Instruments zu vernachlässigen oder gar zu negieren.

Durch das Studium von Vorbildern lernen wir – allgemein gesprochen – optimale Lösungen der Aufgabe kennen, bestimmte Stücke zu spielen, d.h. Thema und Improvisationen. Bei mehrstimmigen Stücken lernen wir auch eine ganze Menge über das Satzspiel. Hinzu kommen Informationen über Begleitformen der Rhythmusgruppe . Dadurch erweitern wir unser Vokabular wie auch unsere Gestaltungsmöglichkeiten. Darüber hinaus lernen wir neue Themen kennen und neue Musiker mit anderen Spielweisen.

Lernen im Jazz ist ein ständiges Sammeln von Bausteinen und Fähigkeiten, die wir im Laufe der Zeit Stück für Stück zu einem persönlichen Mosaik zusammensetzen; dabei lösen wir uns allmählich von unseren Vorbildern ...

John Coltrane war einer der genialen Musiker des Jazz. Seine markante Spielweise auf dem Tenorsaxophon wurde schon bald nach 1955, dem Jahr seines Durchbruchs, schulebildend und schließlich stilprägend. Sie ist gekennzeichnet durch Neuerungen in allen Bereichen musikalischer Gestaltung und ferner durch Faktoren wie Konzentration, Energie und später auch Spiritualität. Ab 1960 erlangte Coltrane die gleiche Bedeutung auch auf dem Sopransaxophon.

Eines seiner Vorbilder als Tenorsaxophonist war sicherlich Dexter Gordon, der ihm auch einmal eines seiner Mundstücke gab (das richtige Mundstück und das genau dazu passende Blatt zu finden ist für Saxophonisten im Jazz eine Wissenschaft für sich).

Coltranes Ton war trotz seiner Lautstärke nicht aggressiv, sondern melancholisch. Ich glaube, dass viele seiner Schüler dies missverstanden haben. Coltrane war ein einsamer Mensch, der nur wenige wirkliche Freunde hatte. Er war so etwas wie ein „Spätberufener“; seine ersten wichtigen Aufnahmen machte er erst 1955, mit 29 Jahren (Miles Davis, nur vier Monate älter, bereits 1945).

John Coltrane war sehr religiös. Ich habe übrigens nie einen schwarzen Jazzmusiker getroffen oder von einem gehört, der nicht religiös war. Wir dürfen nicht vergessen: der Atheismus ist eine europäische Erfindung. Coltrane nannte seine Musik einmal „the spiritual expression of what I am“ (Lewis Porter: John Coltrane, S.298).

Die 60er-Jahre waren eine Zeit des gesellschaftlich-politischen Aufbruchs und damit verbundener Unsicherheiten. Viele – beileibe nicht nur Musiker – spürten in Coltrane einen Seelenverwandten, einen Suchenden. In seiner Melancholie und in seinem Unterwegs-Sein erkannten sie sich wieder; er wurde für sie zu einem Sprecher, ja zu einem Botschafter. Es gab bei ihm, vor allem in seinen letzten Jahren (er starb 1967) eine ständige Wechselwirkung zwischen seinem Alleinsein und seinem unermüdlichen Suchen in der Musik (dazu passt auch, dass er oft stundenlang wie besessen übte).

Er hat den Jazz um eine neue Ausdrucksmöglichkeit bereichert, die es so vorher nicht gab. Aber mit der Ausschließlichkeit, mit der er sie praktizierte, hat er ihn auch eingeengt.

Coltranes Melancholie ist übrigens der Grund, weshalb ich als Tenorsaxophonist nie so klingen wollte wie er. Ich bewundere ihn – aber er war nie ein Vorbild. Für mich war und ist der Jazz eine Musik, die immer eine unbändige Lebensfreude ausstrahlt. Man kann ja fröhlich sein, weil es einem gut geht oder obwohl es einem schlecht geht. Jazz war immer auch eine Musik des „obwohl“, was sich etwa auch an unseren Arbeitsbedingungen zeigt, die oft so sind, dass sie kein klassischer Musiker akzeptieren würde (und es auch nicht braucht). Und trotzdem gibt es auch in solchen Fällen viele gute und immer wieder auch sogar hervorragende Konzerte. Coltranes Musik strahlt diese Lebensfreude oft nur bedingt aus, in seinen letzten Jahren immer weniger.

Er hatte einen immensen Einfluss auf andere Musiker, nach seinem Tod mit nur 40 Jahren noch mehr als vorher egal welches Instrument sie spielten (ähnlich wie Charlie Parker, der 12 Jahre zuvor gestorben war). Manche seiner Schüler, wie etwa Michael Brecker, wurden selbst schulebildend. Und auch in vielen Ensembles war sein Einfluss posthum sehr prägend, denken wir nur an die seiner früheren Bandmitglieder McCoy Tyner und Elvin Jones. Viele seiner improvisierten Figuren sind in das Basisrepertoire unzähliger Musiker eingegangen. Komponisten wie Terry Riley und Philip Glass und auch eine Reihe von Rockmusikern haben ihn als wichtigen Impulsgeber genannt. Der Saxophonist Andrew White hat bis 1973 insgesamt 209 (!) Coltrane-Solos transkribiert und veröffentlicht (Feather/Gitler: Encyclopedia of Jazz in the Seventies, S. 340)

Sein spiritueller Einfluss reichte noch weit über den Bereich der Musik hinaus. In San Francisco gibt es seit 1971 eine ihm gewidmete Kirche (One Mind Evolutionary Transitional Church of Christ). 1982 wurde die Gemeinde Teil der Africa Orthodox Church. Auch seine Frau Alice hat seine spirituelle Botschaft nach seinem Tod in vielfältiger Form weitergetragen.

Coltranes Musik, auch die frühe, ist zu komplex, um einem Anfänger viel zu nützen. Ich treffe aber immer wieder junge Saxophonisten, die ihn gerne hören, wogegen natürlich überhaupt nichts einzuwenden ist, die aber deshalb meinen, er könne ihnen schon in ihrem noch frühen Entwicklungsstadium als Vorbild dienen.

Es ist auch, wie bei manchen anderen großen Musikern, z.B. bei Thelonious Monk, nicht einfach, von ihm zu lernen, ohne in Versuchung zu kommen, ihn ohne eigene Verarbeitung nur zu imitieren. Daher ist hier ein guter Lehrer notwendig, der einem zeigt, wie man sich seine Figuren am besten zu eigen macht.

Postskriptum

Wir dürfen uns nicht wundern, dass Coltranes enorme Instrumentaltechnik auch eine besondere Spezies hervorgebracht hat, den „Skalenläufer“. Dieser eilt fortwährend unter Vernachlässigung der rhythmisch-melodischen Gestaltung Skalen hinauf und hinunter und schlägt dabei mit seinen musikalischen Flügeln mindestens so schnell wie ein Kolibri. Und dann gibt es noch den „Bohrsäger“, dessen spitzer Ton Löcher in die Luft gräbt, die man mitunter direkt sehen kann. In manchen Gegenden wurden auch Kreuzungen dieser beiden Arten beobachtet; sie verständigen sich oft mit Lauten, die wie „Mark“ oder „Otto Link“ klingen.

Joe Viera


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