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Jazzzeitung

2003/02  ::: seite 11

farewell

 

Inhalt 2003/02

STANDARDS

Editorial / News / break
musiker-abc:
Stan Kenton
all that jazz:
Transfers
no chaser:
Deutschland, deine Jugend
Farewell.
Abschied von Mal Waldron


TITEL


Immens gut.
Attila-Zoller-Festival


BERICHTE


Mambozart.
Klazz Brothers
Berlin.
Alexander von Schlippenbach trifft Vincent von Schlippenbach
Dachau. Stars der Szene hautnah
Elmau. 5. European Jazztival
Ingolstadt. Jazztage 2002
Köln. Biréli Lagrène und Brad Mehldau
Regensburg. Orbit Experience
Regensburg. Popa Chubby
Ulm. YVP-Jazztage


 JAZZ HEUTE


Die Mischung macht’s.
Moods in Zürich feierte zehnjähriges Jubiläum
Guten Mutes trotz Insolvenz.
Das BuJazzO und das BJO auf Tournee · Interview


 PORTRAIT / INTERVIEW


Erkenne dich selbst.
Jim Mullen mit einer Solo-CD bei Bobtale Records
Den Jazz aus der Box lassen. Eric St.Laurent, Jacobien Vlasman und Paul Brody mischen Gumbo in Berlin
Round Midnight. Zum 80. Geburtstag von Dexter Gordon
Lässig, elegant, unaufgeregt. Der Pianist Kenny Barron mit einer neuen CD


 PLAY BACK / MEDIEN


Geist von Kansas City.
Weitere Montreux-Mitschnitte auf CD
CD. CD-Rezensionen 2003/02
Bücher. Coltrane-Monografie bei Oreos
Bücher. Buchempfehlungen zum Thema Schlagzeuger
Noten. Neue Noten für Pianisten
Instrumente. Zoom MRS-4 Multitracker
Internet. Link-Tipps


 EDUCATION


Abgehört 12. Bill Evans-Eddie Gomez-Duo spielt „Falling Grace“
Mr. Red Horn kam nach Dessau.
Jugend-Big-Band Anhalt konzertierte mit Nils Landgren
Dabei sein ist alles. „Jugend jazzt“ in der Musikakademie Marktoberdorf
Kurzportrait. Etna


DOSSIER


Zwischen allen Ideologien.
Contrapunkt – westöstlicher Dialog zum Thema Jazz


SERVICE


Critics Choice

Service-Pack 2003/02 als pdf-Datei (kurz, aber wichtig; Clubadressen, Kalender, Jazz in Radio & TV, Jazz in Bayern und anderswo (178 kb))

Derwisch des Klaviers

Abschied von Mal Waldron

Beim Hören seiner Musik konnte man in eine Art Trance geraten. Kennzeichen seines Klavierstils war nämlich das, was er einmal als „power of repetition“ bezeichnet hat: Durch die variierende Wiederholung rhythmisch prägnanter kurzer Motive konnte Mal Waldron seinen Improvisationen hypnotisierende Wirkungen entlocken. Visualisiert man Waldrons Spiel, stellen sich oft Bilder kreisender Bewegungen ein: Man vermeint Kreisel, Strudel, sich bewegende Ringe auf dem Wasser zu sehen oder tanzende Derwische – eines seiner Alben heißt sogar „The Whirling Derwish“. Ob Wirbelwind, wie auf vielen frühen Aufnahmen, oder sanft oszillierende Klangspirale, wie beim altersweisen Meister, immer trug diese rotierende Energie unverkennbar seine eigene Handschrift.

Autor Marcus Woelfle mit Mal Waldron im Kloster Schlehdorf. Foto: Sr. Josefa Thusbaß

Mit diesem Hang zum Minimalismus setzte er sich deutlich von den beiden Pianisten ab, die ihn einst geprägt hatten: Von Thelonious Monk, dessen karge Sperrigkeit bei ihm Spuren hinterlassen hatte, unterschied ihn die Neigung zum Ostinaten (wofür es bei Monk immerhin Ansätze gab). Und gegenüber Bud Powell wirkte Mal Waldron, der seine Laufbahn immerhin als Bebop-Pianist begann, geradezu wie ein Stoiker, insbesondere im Spätwerk. „Waldrons höchst individueller Klavierstil, bei dem über dunkel funkelnden Baßostinati perkussive Wiederholungsfiguren zu immer größerer rhythmischer Dichte im Diskant geschichtet werden, entwickelte schon immer seine ganz eigene Magie,“ brachte der Waldron-Spezialist Thomas Fitterling das Wesen Waldron’scher Klangkunst auf den Punkt. Und Frank Schindelbeck erläutert: „Unter Waldrons Fingern entwickeln die grollend-ostinaten Figuren der linken Hand tatsächlich enorme Kraft und eine charismatische Magie.

,Telegraphenstil’ hat man seinen Stil einmal genannt, weil seine rhythmischen Figuren wie geheimnisvolle Morsezeichen wirken. Perkussiv ist seine Phrasierung, die Figuren in den unteren Registern des Pianos werden durch kürzelhafte Einwürfe der rechten Hand aufgebrochen, kommentiert und umspielt.“

Es ist kein Zufall, dass sich immer wieder deutsche Autoren so intensiv mit diesem Klaviermagier beschäftigten, lebte er doch jahrzehntelang in unseren Breiten. Auch deutsche Plattenfirmen verdanken ihm viel: Platten von Mal Waldron (seit 1967 Wahlmünchner) gehörten zu den ersten Veröffentlichungen der Münchner Labels ECM und Enja; sie entstanden noch zu einer Zeit, als der Prophet noch etwas in der „Heimat“ galt. Später erschienen viele seiner Alben beim Münchner Label Tutu. Schließlich suchten deutsche Bands immer wieder die Zusammenarbeit mit Waldron: Ob in den 70er-Jahren im boppigen Quintett des Drummers Klaus Weiss oder jahrzehntelang als Gast der legendären Weltmusikformation Embryo (dessen Mitglieder sich als seine „Kinder“ sahen), Mal Waldron war überall wo er spielte ein wichtiger Impulsgeber.

Und das war schon bei Malcolm Earl Waldrons amerikanischen Anfängen nicht anders. Der am 16. August 1925 geborene New Yorker (viele Nachschlagewerke machen ihn fälschlich ein Jahr jünger) machte erst einmal als Jazz-Saxophonist und klassischer Pianist Erfahrungen, bevor er in den in 50er-Jahren als Pianist bei Charles Mingus und dann als letzter Klavierbegleiter Billie Holidays (1957–1959) auf sich aufmerksam machte. Schon damals ließ die Originalität seiner Spielweise auf vielen Platteneinspielungen aufhorchen. So spielte er schon bei Mingus (1954-1957) Cluster, lange bevor sie im Free Jazz üblich wurden.

In den späten 50er- und frühen 60er-Jahren zog die Marke Prestige immer wieder Mal Waldron heran. Dabei entstanden nicht nur großartige Platten, bei denen er als Leader (etwa „Mal –2“ mit John Coltrane) oder Co-Leader (des mit dem Vibraphonisten Teddy Charles geleiteten Prestige Jazz Quartet) in Erscheinung trat. Da Mal Waldron als eine Art Hauspianist und Allround-Talent für Prestige tätig war, gehen auch viele scheinbar leaderlose Alben auf sein Konto. Weil er auf den Covers kaum je angemessen als Leader herausgestellt wurde, wird Waldrons Prestige-Phase in ihrer Bedeutung unterschätzt. Auf dem leaderlosen, später unter Coltranes Namen veröffentlichten Album „Interplay For 2 Trumpets And 2 Tenors” (1957) etwa stammen vier von fünf Stücken aus Waldrons Feder, darunter das Coltranes Augen gewidmete „Soul Eyes“, bis heute seine berühmteste Komposition. Prestige-Produktionen wurden spontan und sehr schnell über die Bühne gebracht. Der Ausnahmepianist aber brachte mit seinen Kompositionen und Arrangements ein bei Prestige ungewohntes Maß an Ordnung und Konzeption in die Plattensitzungen, die ohne ihn reine Jam Sessions geblieben wären. Daneben war Waldrons leitende Hand auch bei einer Fülle von Platten zu spüren, bei denen er offiziell nur Pianist von Leadern wie John Coltrane, Eric Dolphy, Gene Ammons und anderen Größen der Zeit war. Auch die lebenslange Zusammenarbeit mit dem kongenialen Sopransaxophonisten Steve Lacy, mit dem er die Liebe zu Monk teilte, begann bei Prestige.

Erster Höhepunkt nach Billie Holidays Tod im Jahre 1959 war wohl die Band mit den frühverstorbenen Innovatoren Eric Dolphy und Booker Little. Eine Zeit lang begleitete er auch Abbey Lincoln. Danach trat Mal Waldron meist als Leiter eigener Formationen – oft im Solo und im Trio – sowie im Duo mit Gleichgesinnten wie Steve Lacy. Doch 1963 erlitt Mal Waldron einen Nervenzusammenbruch, der einen einjährigen Klinikaufenthalt nötig machte, bei dem er mit Elektroschocks behandelt wurde. Er hatte völlig verlernt, Klavier zu spielen und musste es sich durch das Abhören seiner Platten neu aneignen!

Als er 1965 nach Europa (zunächst nach Paris) übersiedelte, begann für ihn ein völlig neues Leben: „Als ich nach Europa kam, war der Druck plötzlich weg und ich brauchte keine Drogen mehr. Außerdem sprachen in Europa nun zwei Dinge für mich, die in Amerika gegen mich waren: ein Schwarzer und ein Jazzmusiker zu sein.“ (Besonders viele Freunde hatte Mal Waldron übrigens auch in Japan, wo er seit den 70er-Jahren auftrat und aufnahm.) In Europa machte sich Mal Waldron auch als Filmkomponist einen Namen, hier reifte er von einem sehr guten Pianisten zu einem Klassiker des Jazzpianos und wurde bald als der überragende Pianist und Komponist anerkannt, der er war.

Dennoch passierte auch hier, was vielen großen Musikern „daheim“ passiert: Treten sie regelmäßig auf, und das auch noch mit anderen einheimischen Musikern, wirken sie als ein so selbstverständlicher Bestandteil der Szene, dass man ihren Sonderstatus kaum mehr wahrnimmt; hymnische Kritiken werden seltener und der Massenandrang bei den Konzerten lässt nach. Als Waldron im München der 90er-Jahre nur noch als „local musician“ wahrgenommen wurde, übersiedelte er nach Belgien, wo er am 2. Dezember 2002 in seiner neuen Wahlheimat Brüssel einem Krebsleiden erlegen ist.
Überall wo Menschen mit Mal in Berührung kamen, waren sie nicht nur tief berührt von der Tiefe und Ausdruckskraft seiner Musik, sondern auch von seinem liebenswürdigen, humorvollen, offenen Wesen. Er war ein Gentleman, der auch vor wildfremden Menschen seine Brieftasche öffnete und die Fotos seiner sieben Kinder zeigte. Er wirkte wie ein Weiser, wenn er auch einem recht unweisen Laster frönte: „Seine Hauptbeschäftigung war eigentlich das Rauchen. Zwischen zwei Zigarillos spielte er auch mal“, erinnerte sich ein Konzertveranstalter. Als er unschlüssig war, ob er im Jahr 2001 bei den Internationalen Musiktagen Kloster Schlehdorf spontan für eine andere Band einspringen sollte, gab eine gezielt als Lockmittel eingesetzte Packung seltener Glimmstengel den Ausschlag. Bei seinem Konzert passierte etwas Sonderbares, das eindrucksvoll unterstreicht, dass er beim Musizieren in ganz anderen Regionen schwebte: Während er spielte, klingelte unentwegt ein Handy, und das recht lange. Jeder von uns im Publikum schüttelte schon den Kopf, weil der Besitzer dieses Gerätes, es nicht endlich ausschaltete. Nach einiger Zeit wurde uns offenbar, dass das Klingeln von der Bühne kam. Mal war so in sein Spiel versunken, dass er das Läuten seines eigenen Handys gar nicht wahrnahm! Erst als das Publikum ihn nach dem Stück darauf aufmerksam machte, schaltete er das Handy aus.

Marcus A. Woelfle

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