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Seine „extended works“, die er meist „Suiten“ nannte, waren Duke Ellington eine Herzensangelegenheit, den Jazzkritikern aber oft ein Rätsel. Die Rezeption der Suiten wurde über die Jahre von vielen Missverständnissen begleitet. Höchste Zeit, damit aufzuräumen. Duke Ellington. Foto: Josef Werkmeister Am 12. Februar 1924 findet in der Aeolian Hall in New Yorks 42. Straße ein ganz besonderes Konzert statt: Es steht unter dem Titel „An Experiment in Modern Music“. Die gerade in New York weilende Musikprominenz besetzt die ersten Reihen im Saal – von Sousa bis Rachmaninow, von Heifetz bis Strawinsky. Höhepunkt des Abends ist die Uraufführung von George Gershwins „Rhapsody in Blue“ durch das Orchester von Paul Whiteman – es wird ein blendender Erfolg. Die Kritiker loben Gershwins „Rhapsody“ als „die bislang größte Leistung eines amerikanischen Komponisten“ und als „noch besser als Strawinskys ‚Sacre du Printemps’“. Vor allem aber empfindet man das Werk als die bisherige Krönung des noch jungen Jazz: Es enthalte „echten Jazz – nicht nur in der Partitur, sondern in seinem ganzen Charakter“. Auch Arnold Schönberg meint: „Der Eindruck ist einer der Improvisation.“ Dieser Triumph des „sinfonischen Jazz“, wie ihn Paul Whiteman propagierte, machte auf die „ganz echten“ Jazzmusiker großen Eindruck. Fletcher Henderson hatte gar nichts dagegen, wenn man ihn „the colored Whiteman“ nannte. Auch Duke Ellington war später voller Lob für den erfolgreichen Konkurrenten Whiteman: „Ohne Zweifel hat er den Jazz an den höchsten Punkt getragen, den er je erreicht hat. Er hat ihn an die Ohren des seriösen Publikums gebracht – so, dass die Leute Jazz mochten.“ Die Popularität Paul Whitemans, der in den 1920er-Jahren als der „King of Jazz“ galt, verlockte zahlreiche Bandleader dazu, ebenfalls konzertanten oder großformatigen Jazz zu präsentieren. Duke Ellington war einer von ihnen. Noch eine RhapsodieVon 1927 bis 1930 hatte Duke Ellingtons Orchester einen Traumjob: als Hausband im glamourösen Cotton Club von Harlem. Dort gab es nicht nur eine Radio-Standleitung, auch Filmauftritte und Broadway-Einsätze schlossen sich an. Doch am Tiefpunkt der Großen Depression endete die Verpflichtung im Cotton Club. Das Nachfolge-Engagement im Oriental Theatre von Chicago bot deutlich weniger Glamour und weniger Geld, definitiv keine Radio-Standleitung und keine Broadway-Jobs. In dieser heiklen Situation kündigte Ellingtons rühriger Manager und Promoter Irving Mills aus heiterem Himmel die Aufführung eines Großwerks von Ellington an, natürlich – in Anlehnung an Gershwin – einer „Rhapsodie“. Unter dem Druck dieser Ankündigung hat der Duke das Stück dann angeblich über Nacht zusammengebastelt: die „Creole Rhapsody“, sein erstes „extended work“. Dabei griff Ellington einfach auf vorhandene Skizzen und Entwürfe zurück: Er reiht ganz unterschiedliche Themen aneinander, die Tempowechsel werden durch Klavier-Intermezzi gemeistert. Der Begriff „Rhapsodie“ erlaubte diese Collagen-Form. Zwei recht verschiedene Versionen der „Creole Rhapsody“ – zwischen sechs und neun Minuten lang – wurden 1931 auf Platte aufgenommen. Barney Bigard (Klarinette), Johnny Hodges (Altsaxophon) und Arthur Whetsol (Trompete) gehörten zu den Solisten. Wirklich erfolgreich war das Werk nicht, aber es erfüllte dennoch Irving Mills’ Absichten: Der PR-Wert einer „großformatigen“ Komposition, geschrieben von einem schwarzen Jazzmusiker, war nicht zu unterschätzen. Die New York School of Music wählte die „Creole Rhapsody“ 1932 sogar zum „besten neuen Werk eines amerikanischen Komponisten“. Auf jeden Fall war die „Creole Rhapsody“ „entscheidend im Hinblick auf Duke Ellingtons Zukunft“, wie James L. Collier schreibt, denn am „Großformatigen“ hat sich Ellington bis an sein Lebensende immer wieder versucht. Bereits 1933 äußert Ellington Pläne für eine fünfsätzige Suite zur afroamerikanischen Geschichte, drei Jahre später arbeitet er an einem Musical zu dem Thema. Hier taucht bereits der Vorschlag auf, mit diesem nächsten „seriösen“ Werk in die Carnegie Hall zu gehen. Irving Mills steht der Idee zwar zunächst skeptisch gegenüber, doch nach Benny Goodmans erfolgreichem Carnegie-Hall-Konzert von 1938 greift er sie auf und verfolgt sie weiter. Zwei Jahre später spricht Ellington von einer geplanten fünfaktigen Oper über eine Figur namens „Boola“ – aus diesem Projekt hat wohl nur das Ellington-Stück „Ko-Ko“ überlebt. Als dann endlich ein Konzert in der Carnegie Hall vereinbart ist – es soll im Januar 1943 stattfinden –, macht sich Ellington 1942 ziemlich planlos und sporadisch an die Arbeit. Es entsteht „Black, Brown and Beige“, eine musikalische Umsetzung („tone parallel“) der Geschichte der Afroamerikaner. Mit den Begriffen „black“, „brown“ und „beige“ bezeichnete Ellington hier drei Phasen der afroamerikanischen Geschichte. Black: die Frühphase, vertreten durch Worksong und Spiritual. Brown: die Emanzipationsphase, vertreten durch Blues und karibischen Einfluss. Beige: die moderne Phase – urbaner Jazz. Die Aufführung im Jahr 1943 dauerte rund 50 Minuten und erntete jede Menge schlechter Kritiken. Das Publikum empfand die Musik als ein ausuferndes Potpourri aus unzähligen Einfällen, die zu wenig entwickelt sind. Dennoch wurde „Black, Brown and Beige“ zu einem berühmten Meilenstein in Ellingtons Karriere – nicht zuletzt aufgrund der Platteneinspielung von 1944, die nur 18 Minuten lang ist und sich auf die Highlights des Werks beschränkt. Im Grunde sind es hier lediglich noch vier Stücke oder Sätze: der stampfende „Work Song“ (mit dem Wah-Wah-Posaunen-Solo von „Tricky Sam“ Nanton), das gospelige „Come Sunday“ (mit Johnny Hodges’ geschmeidigem Altsaxophon), die Blues-Hommage „The Blues“ (mit dem Gesang von Joya Sherrill) und das Melodien-Medley „Three Dances“. Von dem ursprünglichen Teil „Beige“ blieb nur eine einminütige Coda übrig: „Sugarhill Penthouse“, der dritte der „Three Dances“, in dem man deutlich die musikalische Handschrift Billy Strayhorns hören kann. Von 1943 an gab das Ellington-Orchester – rund ein Jahrzehnt lang – ein jährliches Konzert in der Carnegie Hall, wobei es Ellingtons Ehrgeiz war, bei diesen Auftritten jedes Mal ein neues „Großwerk“ zu präsentieren. Inspiriert und unterstützt wurde er dabei durch seinen Mitarbeiter Billy Strayhorn, der frische Ideen und einen neuen Tonfall in die Ellington-Welt brachte. Nach den schlechten Kritiken für „Black, Brown and Beige“ verzichtete Ellington aber vorerst auf den Versuch, größere Zusammenhänge komponieren zu wollen. Seine Stärken als Musikschreiber waren nun einmal der Umgang mit Klangfarben, das Abschmecken von Stimmungen, die effektive Montage melodischer Ideen, die er oft genug seinen Solisten abgelauscht hatte. Die Komposition umfangreicher musikalischer Abläufe dagegen gehörte nicht zu seinen Talenten: Das hatte Ellington wohl eingesehen und präsentierte seine „Großwerke“ von nun an als Pakete aus kurzen Einzelstücken – so wie schon die Schallplattenversion von „Black, Brown and Beige“. Spätestens 1944 wählte Ellington für seine jährlichen Konzertwerke den Namen „Suite“ – ein Begriff, der in der klassischen Musik einfach nur eine Folge von Sätzen (meist Tanzstücken) bezeichnet. Im Barock bildet eine gemeinsame Tonart oft den einzigen Zusammenhang innerhalb einer Suite. Später wurden Suiten auch als konzertante Versionen von Ballettmusiken oder Opern zusammengestellt (z.B. „Feuervogel-Suite“, „L’Arlesienne-Suite“) und reihten einfach populäre Nummern aneinander. Auch in Ellingtons Suiten gibt es keinen inneren Zusammenhang der Sätze: Eine Gemeinsamkeit wird nur durch ein außermusikalisches Sujet der Suite suggeriert. Musikalisch sind diese Suiten also bloße „Garnituren“ aus zufälligen Einzelstücken. Man könnte sie auch Kollektionen, Bouquets oder Menüs nennen. Unter Jazzhistorikern besitzen Duke Ellingtons Suiten keinen guten Ruf. Der Ellington-Biograph James L. Collier spricht für viele, wenn er mitteilt, dass er „diese Suiten und erweiterten Stücke nicht so sehr schätze“. Er schreibt weiter: „Grundsätzlich ignorierten die professionellen Kritiker die erweiterten Stücke. Die Öffentlichkeit ebenso. Die Schallplatten davon verkauften sich nicht sehr gut.“ Doch was ist der Grund für diese Geringschätzung? Da Ellingtons Suiten fast immer unter dem Zeitdruck eines festgelegten Aufführungstermins entstanden, versuchte der Duke, aus dieser Not eine Tugend zu machen: Er bemühte sich gar nicht erst, die Einzelsätze zu vollwertigen Bigband-Stücken auszuarbeiten, sondern präsentierte sie in ihrer rohen Urform. Anstatt ein Arrangement zu entwickeln, das im Bigband-Konzert funktioniert – mit Einleitung, Riffs, Variationen, Solo-Teilen und so weiter –, beließ er es oft beim primären Einfall. Der einzelne Suitensatz musste ja nicht auf der Jazzbühne zünden, er war schließlich Teil eines „konzertanten“ Werks. Die Suite ist das Stück, der Satz nur eine Facette davon. Zwischen Harlem und Liberia (1944–1951)Die konzentrierte Torso-Form von Ellingtons Suitensätzen wirkt heute faszinierend modern und kühl-pointiert. Manche der musikalischen Ideen darin scheinen auch die Sprache späterer Jazzorchester inspiriert zu haben. Tatsächlich sind einige der Ellington-Suiten zu kultigen Geheimtipps geworden. Zum Beispiel die „Perfume Suite“, die schon 1944 in der Carnegie Hall vorgestellt wurde: vier eigenwillige Charakterstückchen, die Ellington kurzerhand zum Porträt einer Frau mit vier verschiedenen Parfums erklärte, um eine thematische Klammer zu haben. Nach einer rhapsodischen Einleitung erklingt zunächst die „Balcony Serenade“, eine schwärmerische Melodie des Saxophonsatzes, deren Zauber mit den berühmtesten Ellington-Balladen konkurrieren kann. Doch anstatt durch Solisten und Variationen entwickelt zu werden, hören wir die reine Melodie: Sie bleibt bei sich, kapriziös, hermetisch, ein Rohdiamant. Mit dem ebenfalls großartigen „Strange Feeling“ folgt ein kompletter Strayhorn-Song, gesungen von Al Hibbler und gewürzt mit Growl-Trompete und neutönerischem Ausklang. Das dritte Stück, „Dancers In Love“, ist nichts anderes als Ellingtons witziges „Pitter Panther Patter“, das er im Duo mit Jimmy Blanton (und später Ray Brown) aufgenommen hat. Auch in der Suite erklingt es als Piano-Bass-Duett (am Bass: Alvin Raglin), aber ganz ohne Improvisation: ein kammermusikalisches Scherzo. Der vierte Satz, vermutlich als krönendes Finale extra für die Suite konzipiert, bietet dagegen ein etwas überflüssiges Bombast-Feature für Cat Andersons Trompete. Muss man es wirklich bedauern, dass diese schönen Fragmente wie „Balcony Serenade“ und „Strange Feeling“ in unentwickeltem Zustand in einer Suite begraben wurden? Oder darf man sich darüber freuen, dass ihre Kernideen durch die Suite gerettet wurden, anstatt in einem Skizzenbuch zu versauern? Wäre es vielleicht sogar angemessen, diese Stücke gerade für ihre Torso-Form zu lieben – wie wertvolle Albumblätter oder intime Tagebuchnotizen, unfrisiert, essayistisch, etüdenhaft? Einen besonderen Stellenwert in der Ellington-Diskographie könnte auch die „Deep South Suite“ von 1946 besitzen, wenn sie denn vom Ellington-Orchester aufgenommen worden wäre. Immerhin scheinen die vier Sätze rekonstruierbar zu sein, weil sie auch als Einzelnummern vorübergehend zum Ellington-Repertoire gehörten. Am bekanntesten wurde „Happy Go Lucky Local“, ein Shuffle-Blues über einen fleißigen Regionalzug im amerikanischen Süden. Der Saxophonist Jimmy Forrest, der bei der Aufführung der Suite in der Carnegie Hall mitgewirkt haben soll, hat das Thema später als eigenes Stück ausgegeben und „Night Train“ genannt. Es wurde ein großer Hit des Rhythm & Blues und ein Pionierstück der jungen Rock’n’Roll-Bewegung. Ellingtons Carnegie-Hall-Konzerte finden bis in die 1950er-Jahre hinein statt. In dieser Zeit, in der die Bigbands ums Überleben kämpfen (und oft genug unterliegen), bedeuten die Auftritte im „seriösen“ Klassik-Tempel eine hilfreiche Unterstützung. Manche der dafür komponierten Suiten sind sogar hochoffizielle Auftragsarbeiten: Die sechssätzige „Liberian Suite“ (1947) wird zum 100. Jubiläum des Staates Liberia von der dortigen Regierung bestellt, die „Harlem Suite“ (1951) entsteht im Auftrag von Arturo Toscanini, der das NBC-Orchester leitete. In musikalischer Hinsicht sind solche Aufträge aber nicht unbedingt effektiv, denn sie wecken in Ellington etwas überzogene Ambitionen. Anstatt sich auf die kleinen, originellen Ideen aus dem Skizzenmaterial zu beschränken, zielt er hier gerne auf großspurige, modernistische, triumphale Gesten, in die er zu viele Klischees mischt. Bei der Bemühung, in der „Liberian Suite“ alle Afrika-Imitationen zu vermeiden, landet er in „Dance No. 3“ doch tatsächlich bei einem Tango mit Geige (Solist: Ray Nance). Und mit der „Harlem Suite“ (auch: „A Tone Parallel to Harlem“) präsentiert der Duke sogar noch einmal ein längeres, zusammenhängendes Stück (knapp 14 Minuten). Leider huschen auch die hübschesten Ideen hier hektisch und überfrachtet vorüber und können sich selten als Melodien festsetzen. Viel mehr Freude bereitet da die zweisätzige „Controversial Suite“ (1951), Ellingtons satirischer Kommentar zum Jazzstreit zwischen Traditionalisten und Modernisten. Wenn die Band erst Dixieland und dann Stan Kenton parodiert, haben auch die Solisten – darunter Russell Procope und Paul Gonsalves – hörbar ihren Spaß. Die Ellington-Renaissance (1956–1961)Nach einigen schweren Jahren – selbst Johnny Hodges hatte vorübergehend die Band verlassen – schnellte die Popularität des Ellington-Orchesters um 1955 wieder nach oben. Der Markstein des „Durchbruchs“ war der Auftritt beim Newport-Festival 1956, wo Ellingtons Saxophonist Paul Gonsalves mit der 15-Minuten-Version von „Diminuendo and Crescendo in Blue“ den Festival-Höhepunkt lieferte. Für die guten Vibes beim Auftritt des Ellington-Orchesters sorgte aber auch die „Newport Jazz Festival Suite“, bestehend aus einem mittelschnellen und einem langsamen Blues sowie einem Uptempo-Finale. Ellington und Strayhorn haben sich in diesem Werk klugerweise auf einfache Riffs beschränkt, die sie aber raffiniert kontrapunktisch miteinander kombinieren. Das „Skizzenhafte“, das manche der früheren Suiten hatte, kehrt in solchen Arrangements auf neue Art wieder – zweifellos beeinflusst auch von der vorherrschenden Cooljazz-Ästhetik. Die Ausgestaltung der Stücke wurde dagegen ganz den Solisten überlassen: Beginnend mit Jimmy Hamiltons Klarinette, anfangs unbegleitet, war die „Newport Jazz Festival Suite“ im Grunde eine große, sparsam arrangierte Jamsession für die Ellington-Bläser. In den nächsten Jahren sollten mehrere erfolgreiche Suiten folgen. Ellington löste sich dabei von seinem Lieblingsthema, der afroamerikanischen Geschichte, und fand Mainstream-Sujets für seine Suiten. Zusammen mit Billy Strayhorn schuf er in dieser Zeit einen neuen Big Band-Klassizismus, in dem sich die traditionelle Gestik von Ellingtons Musik mit der Sparsamkeit des kühlen Jazz vereinigt. Oft glaubt man sogar den Einfluss der jazzinfizierten Filmmusik jener Jahre zu hören: Der swingende Sound war wieder chic und populär. Nicht mehr die „seriöse“ Carnegie Hall, sondern die lockeren Sommerfestivals waren nun hauptsächlich Schauplatz und Zielpunkt der Suiten. „Such Sweet Thunder“ (1957) entstand im Auftrag des Shakespeare-Festivals im kanadischen Stratford, die „Suite Thursday“ (1960) und die „Girls Suite“ (1961) kamen fürs Monterey Jazz Festival zustande. Selbst als Ellington und Strayhorn beschlossen, Tschaikowskys Nussknacker-Suite und Griegs Peer-Gynt-Suiten zu „eigenen“ Suiten umzuformen (neunsätzig bzw. fünfsätzig), tappten sie nicht mehr in die Falle konzertanter Ambitionen. Ihre Fassungen der Klassiker, die die bekannten Melodien elegant ins Jazzige abwandeln, bestehen durchweg aus kompakten, swingenden Miniaturen. Zu den beliebtesten Ellington/Strayhorn-Suiten gehört das 12-sätzige, LP-füllende „Such Sweet Thunder“, inspiriert von Shakespeares Dramen und Sonetten. Neuartige Klangfarben und pointierte Modern-Jazz-Gesten verbinden sich hier zu starken Charakterstücken, raffinierten Orchester-Etüden und gefühlvollen Pastellskizzen. Ellingtons Solisten übernehmen dabei die Feature-„Rollen“ einiger Theaterfiguren: Ray Nance (Trompete) evoziert Othello, Harry Carney (Baritonsax) in einem anderen Stück Othellos Gegenspieler Jago. Clark Terry (Trompete) porträtiert den schelmischen Puck, Cat Anderson (Trompete) den halb wahnsinnigen Hamlet. Ebenfalls literarisch inspiriert, nämlich durch einen Roman von John Steinbeck, ist die viersätzige „Suite Thursday“. In „Misfit Blues“ dominiert der Holzbläsersatz mit Blues-Variationen, „Schwiphti“ kommt beinahe beboppig daher, „Zweet Zursday“ mit fragilen Klangfarben – lauter erlesene Orchester-Aphorismen. Das schönste Produkt dieser Suiten-Phase aber ist „The Queen’s Suite“ von 1959. Kaum jemand hat dieses Werk damals gehört, denn Ellington widmete es exklusiv der englischen Königin Elizabeth II., ließ von der Studioaufnahme nur ein einziges Exemplar pressen und dieses Ihrer Majestät zukommen. Erst 1976, nach Ellingtons Tod, wurde „The Queen’s Suite“ veröffentlicht. Auch diese sechs Stücke sind keine wirklichen Big Band-Nummern, sondern von Naturerlebnissen angeregte Jazzklang-Malereien, mal dramatisch, mal dezent. Dennoch findet sich das Eröffnungsstück „Sunset and the Mocking Bird“ inzwischen im Repertoire manches anderen Jazzmusikers. Eine Melodie wie „Le Sucrier Velours“, 1959 vom Saxophonsatz beschworen, wäre vor dem Zweiten Weltkrieg vermutlich eine sentimentale Jazzballade geworden. Das impressionistisch anmutende Klavierstück „The Single Petal of a Rose“ hört man zuweilen auch bei klassischen Pianisten. In seinen späten Jahren macht Duke Ellington mehr Combo-Aufnahmen als Pianist als je zuvor – von „Money Jungle“ (1962) bis „Duke’s Big Four“ (1973). Aber auch die Produktion seiner eigenwilligen Suiten – meist in LP-Länge, also als Konzeptalben – scheint einen größeren Raum einzunehmen. Beide Entwicklungen spiegeln die allgemein fortschreitende „Individualisierung“ des Jazz in diesen Jahren: Musiker wollen zunehmend ihr unverwechselbar „eigenes“ Ding machen, anstatt den Konventionen der Jazzgeschichte zu folgen. Und noch ein anderer aktueller Trend schlägt sich in Ellingtons späten Suiten nieder: die Öffnung des Jazz zur Weltmusik. Der Duke, der mit seinem Orchester die ganze Welt bereist, häufig im Auftrag des US-Außenministeriums, kommt sozusagen direkt an die Quellen orientalischer Klänge. Doch anders als viele andere scheut er es, sich Exotismen wie fremder Instrumente und Tonskalen zu bedienen; seine Musik bleibt stets die Musik des Ellington-Orchesters. Deutlich scheint Ellington zu spüren, dass er bei diesen organisierten Tourneen nicht viel mehr als einen oberflächlichen Blick auf fremde Länder wirft. Selbstkritisch nennt er die Anfangsstücke seiner Welt-Suiten „Touristic Point of View“ oder „Chinoiserie“. Was er von seinen Fernreisen in die eigene Musik übersetzt, sind Eindrücke, Stimmungen, Gefühle. Nur ganz selten – etwa in den Stücken „Didjeridoo“ und „Blue Pepper“ sowie in Jimmy Hamiltons Klarinettenspiel – kommt es zu sanften Anspielungen auf exotische Sounds. Die erste der „Welt-Suiten“ war die „Far East Suite“ von 1966 nach zwei Tourneen durch den Nahen (für Amerikaner: Mittleren) und Fernen Osten. „Bluebird of Delhi“ porträtiert einen schalkhaften Singvogel, „Blue Pepper“ ist ein rockiger Orient-Blues, das abschließende, über 11 Minuten lange „Ad Lib On Nippon“ wird über weite Strecken improvisiert. Eingang in die Suite fand auch Strayhorns Ballade „Isfahan“, die bereits vor den Tourneen komponiert wurde und damals noch „Elf“ hieß. Das Stück besitzt weder in Melodie noch Harmonik östliche Anklänge, aber verzaubert durch seine süßtraurige, fremdartige Stimmung. „Isfahan“ darf bei keinem Billy-Strayhorn-Tribut fehlen. Leider war die „Far East Suite“ das letzte gemeinsame Werk von Ellington und Strayhorn, der im Mai 1967 starb. Keine der späteren Suiten konnte mehr so viele Höhepunkte aufweisen. In der „Latin American Suite“ (1968) verrät Ellington einen etwas afrikanisierten Blick aufs südliche Amerika, untermischt mit ein paar Mariachi- und Bossa-Anklängen. Dukes Piano dominiert dabei in „Tina“, einer Hommage an Argentinien, begleitet nur von zwei Bässen und Schlagzeug. Nicht ganz so weit in den Süden geht es in der „New Orleans Suite“ (1970), die für einen Auftritt beim New Orleans Jazz Festival entstand. Der „Blues For New Orleans“ ist weniger eine Komposition als vielmehr ein Improvisations-Konzept für das Team von Wild Bill Davis (Orgel) und Johnny Hodges (Altsaxophon) – es wurde Hodges’ letzte Aufnahme. Schöne Features: Cootie Williams porträtiert Louis Armstrong, Paul Gonsalves (auf dem Tenor!) Sidney Bechet. In der „Afro-Eurasian Eclipse“ (1971) geht es danach kreuz und quer durch Afrika, Europa, Asien und Australien – auch Rockmusik und Volkslieder klingen an. Den Schluss dieser Suite macht „Hard Way“, ein kleines swingendes Altsaxophon-Feature, wie es der Duke gerne für Johnny Hodges schrieb; dessen Nachfolger Norris Turney macht seine Sache aber auch gut. Die kurze „Togo Brava Suite“ (1971) bietet keine Reise-Impression, sondern ein Dankeschön an die Republik Togo, die Ellington eine Briefmarke gewidmet hatte. Eine ganz kuriose Sache ist die kleine „Goutelas Suite“ (1971), zu der sich Ellington von einem Château in Frankreich inspirieren ließ: Fanfaren und abenteuerliche Bläser-Etüden! Und in der „UWIS Suite“ (1972) für die Universität in Wisconsin gibt es sogar – kein Witz! – eine kleine Polka zu hören. CodaDer Ellington-Biograph James L. Collier zählt „etwa 33“ großformatige Werke von Ellington beziehungsweise Ellington/Strayhorn. Rechnet man die Filmmusiken hinzu, die „Sacred Concerts“ und diverse Musik/Text-Produktionen, auch fürs Fernsehen, kommt man aber auf eine deutlich höhere Zahl. Um es klar zu sagen: Die Suiten und die anderen „extended works“ entstanden nicht, um das Orchester über Wasser zu halten; dafür gab es das Repertoire, das im Jazzkonzert das Publikum zu begeistern hatte. Die Suiten waren Gelegenheitswerke, persönliche Anliegen oder Auftragsarbeiten, auch eine Art musikalisches Tagebuch, ein klingendes Skizzenheft, ein orchestraler Workshop, zuweilen einfach Resteverwertung. Hier hört man vieles ohne den Filter einer kommerziellen Kalkulation. Manches ist nur Torso und Experiment, Impression oder Pastell. Aber genau deshalb werden in den Suiten immer wieder faszinierende und neuartige Extreme des Klangs, der Melodie und der Form erreicht, die Ellingtons Musik sonst oft nur andeutet. Vieles davon weist schon auf neuere Entwicklungen in der orchestralen Jazzmusik voraus – und ist doch ganz eindeutig Ellington, vielleicht mehr noch als alles andere von ihm. Wer die Suiten kennt, kann Ellington und Strayhorn noch tiefer lieben. Hans-Jürgen Schaal 10 bekannte Stücke aus den Ellington-Suiten:
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