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Jazzzeitung

2011/01  ::: seite 1

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Inhalt 2011/01

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene / kurz, aber wichtig Jazzlexikon: Stan Levey Farewell: James Moody // Richard Wiedamann


TITEL -
Marie Laveaus Vermächtnis
Versuch über Voodoo und Jazz – von Hans-Jürgen Schaal


Berichte

Jazzfest Berlin 2010 // 41. Deutsches Jazzfestival Frankfurt // Berliner Festival präsentiert Musiker-Vereinigungen aus ganz Europa // Festival der Jazzmusiker-Initiative München // Zur „Europäischen Jazzakademie Birdland Neuburg“ // Bass und Cello im Jazzclub Unterfahrt // 17. Thüringer Jazzmeile


Portraits

Lajos Dudas // Die Sängerin Maria Farantouri // Jessica Pilnäs // Der Saxophonist Karl Seglem


Jazz heute und Education
Thomas Muderlak, Leiter BMW Welt, im Gespräch // Steffi Denk und ihr Education-Projekt „Swing for Kids“ // Musikhochschule Nürnberg: Steffen Schorn im Interview Abgehört: Letzte Nächte in Kopenhagen: Stan Getz‘ Solo über Night and Day

Rezensionen und mehr im Inhaltsverzeichnis

Marie Laveaus Vermächtnis

Versuch über Voodoo und Jazz – von Hans-Jürgen Schaal

„Musik ist der wahre Gott dieses Universums“ Dewey Redman

Viele Jazzmusiker beziehen sich in ihren Stücken auf Voodoo-Praktiken, auf Juju, Mojo und Gris-Gris. Hinter diesen Hinweisen steckt mehr, als man gemeinhin denkt. Denn die Quellen des Jazz liegen in Afrika – via New Orleans.

Der Patient klagt über Beschwerden, aber die Schulmedizin findet keine Ursache? Wenn die Ärzte in Westafrika ratlos sind, sprechen sie achselzuckend von der „afrikanischen Krankheit“: Dann hilft nur noch der Medizinmann. Voodoo-Heiler im heutigen Afrika sind vor allem dafür da, den Patienten die Angst zu nehmen, dass sie von bösen Magiern verhext sein könnten. Voodoo-Heiler sind Heilpraktiker, Naturmediziner, Kräuterkundige, aber eben auch Seelenärzte und Sozialhelfer. Sie bereiten Tees und Schnäpse, Salben und Puder. Sie empfehlen Kondome und geben Hygiene-Tipps. Und sie hören zu und erteilen psychologischen Rat. Ihre Heilungserfolge sind erstaunlich.

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Das Wort „Voodoo“ kommt aus der Sprache der Fon und Ewe, zweier westafrikanischer Ethnien. Es bedeutet „das Unergründliche“ oder „die wirksame Kraft“: Diese Kraft ist die Kraft von Göttern, Geistern, verstorbenen Ahnen und Stammeshelden. Denn der traditionelle afrikanische Glaube ist animistisch, er sieht das Wirken dieser höheren Wesen überall in der Natur: Weit über 200 Gottheiten sind da ringsum aktiv. Die Botschaft des Voodoo lautet: Das Unsichtbare manifestiert sich im Sichtbaren, daher verschwindet nichts jemals zur Gänze, es gibt keinen absoluten Tod, kein völliges Jenseits, keine Trennung von Körper und Geist. Und es gibt keine Schuld, die nicht irgendwann im Leben gebüßt würde.

EINE VOODOO-HOCHKULTUR

Es ist kein Zufall, dass der Jazz in New Orleans entstand. Die Stadt nahe der Mississippi-Mündung, die nördlichste Großstadt der Karibik, war im 19. Jahrhundert eine Hochburg des Voodoo-Kults. Seit etwa 1830 galt eine Kreolin namens Marie Laveau als die „Voodoo Queen“ von New Orleans. Marie Laveau war eine Mambo, eine Priesterin, und berühmt für ihren ekstatischen Schlangentanz. Aber sie war noch weit mehr als das: Sie war Künstlerin, Bordellbesitzerin, Unternehmerin, Organisatorin. Sie hatte beste Beziehungen zu den Frauen der weißen Oberschicht, sie übte politische Macht aus, sie war juristisch unangreifbar. Und sie schlug Kapital aus dem Voodoo-Kult – alles unter dem Deckmantel des Katholizismus und für gute Zwecke. Michael Ventura nennt sie „eine der religiösen Hauptfiguren in der amerikanischen Geschichte“.

Die Institution des Congo Square machte Voodoo („Hoodoo“, „Juju“) in New Orleans zum öffentlichen Spektakel. Die Zeremonie mit Trommel, Tanz und Trance war damit nicht länger ein geheimes religiöses Ritual, sondern wurde zur quasi künstlerischen Darbietung: Der Tanz wurde als Tanz wahrgenommen, die Musik als Musik, die Trance als psychische Grenzerfahrung. Marie Laveau machte sich das zunutze und vermarktete Voodoo. Sie lud neugierige, zahlungskräftige Weiße zu echten (illegalen) Voodoo-Ritualen ein, meist etwas außerhalb der Stadt. Sie nutzte das erwachende Interesse der westlichen Welt an Tiefenpsychologie und Spiritismus, an außersinnlichen Erfahrungen und exotischen Religionen, an Heilungen durch Hypnose und modischen Krankheitsbildern wie der Hysterie.

Als 1840 das Verbot schwarzer Kirchen aufgehoben wurde, fand die ekstatische Kraft der Voodoo-Zeremonien auch dort eine Heimat. „Was für eine Musik! Was für eine Hingabe! Tränenüberströmte Gesichter, laut schlagende Herzen“, so hieß es im Bericht über einen der ersten legalen schwarzen Gottesdienste: „Es schien, als hebe sich das Dach von den Wänden.“ Der Jazzforscher Alfons M. Dauer definiert das Spiritual als „eine durch Kulturvermischung mit ‚weißen’ Elementen verwandelte afrikanische Kultform“: Animismus wird durch Christentum ersetzt, doch die spirituelle Ekstase bleibt dieselbe. Beim American Spiritual + Gospel Festival 1965 erlebte der Veranstalter Fritz Rau Gospelsängerinnen in Trance: Sie waren auch nach dem Konzert noch völlig weggetreten. Der „Bishop“ der Band sprach von einem „Jesus-Orgasmus“.

Marie Laveau starb hochbetagt im Jahr 1881. Sie hinterließ eine Voodoo-Hochkultur, deren Zusammenhalt in Auflösung begriffen war. Die Bestandteile machten sich selbstständig, verloren ihre rituelle Bedeutung, aber nicht ihre ekstatische Kraft. Zu Marie Laveaus Vermächtnis gehört auch der Jazz: „In den nächsten zehn Jahren nach Marie Laveaus Tod u

u begannen die Blaskapellen von New Orleans Töne zu spielen, wie man sie niemals zuvor gehört hatte“, schreibt Michael Ventura. 1880 entstand die Excelsior Brass Band und machte „den ersten Jazz, den ich je hörte“, so der Klarinettist Alphonse Picou. 1885 folgte die Onward Brass Band, 1892 die Reliance Brass Band. Sie spielten in der Regel mit drei Trompeten, zwei Posaunen, zwei Klarinetten, zwei Hörnern, Tuba, Snare Drum und Bass Drum.
Die Grundlagen für diese musikalische Explosion waren lange schon gelegt: New Orleans war eine multikulturell geprägte Hafenmetropole mit Musik an jeder Ecke. Schon um 1840 gab es rund 80 Ballhäuser in der Stadt, man veranstaltete Paraden und Freiluftkonzerte zu allen möglichen Anlässen. Die Lokalpresse beklagte 1838 „eine Welle vulgärer und anzüglicher Musik“: „Es herrscht eine wahre Manie für Trompeten und Blechbläser.“ Als 1865 der Bürgerkrieg zu Ende ging und die Sklaverei offiziell abgeschafft war, landeten die Instrumente der Musikregimenter auch in den Händen der Afroamerikaner. Dort traf die Blasmusik auf das Feuer des Voodoo und entzündete sich zum Jazz. Der traditionelle Ahnenkult der Schwarzen floss – christlich verkleidet – in die „New Orleans Function“ mit Trommeln, Bläsern und Tanz. Der Mardi Gras verwandelte sich zur afrikanisierten Tanz- und Bandparade. Die ekstatische Kraft des Voodoo übersetzte sich in musikalische Befreiung: „In den 1890er-Jahren war die Musik meist aufgeschrieben“, erzählt der Klarinettist Edmond Hall, „aber mit der Zeit wurde dann immer mehr improvisiert.“ Hans Christoph Buch spricht sogar von der „Geburt des Jazz aus dem Geist des Karnevals“.

MUSIK – MOTOR DER TRANCE

Das Ziel des traditionellen Voodoo-Kults ist es, Kontakt zu Göttern und Ahnengeistern aufzunehmen, ihre Hilfe, ihre Heilkraft und ihren Schutz zu gewinnen. Dies geschieht durch die Besessenheits-Trance, von der man glaubt, dass dabei ein Gott oder Geist vom Körper eines Mediums Besitz nimmt und aus dessen Augen herausblickt. „Vodun“ bedeutet auch: die Götter, die aus dem besessenen Menschen sprechen. Ein Mensch im Trance-Zustand beginnt zu lallen, verdreht die Augen, wälzt sich im Staub, ist nicht mehr ansprechbar, nicht mehr er selbst. Ein solcher Zustand kann über Stunden anhalten und lebensgefährlich sein. Jedes Medium muss daher umsichtig initiiert werden, damit es sich auch in der Trance richtig verhält. Der Trance-Zustand muss erlernt werden. Oft sind die vom Gott besessenen (oder: gerittenen) Medien nach der Trance völlig entkräftet und nur schwer ins Bewusstsein zurückzuholen.

Um die ekstatische Trance zu erlernen und sie beim Ritual herbeizuführen, gibt es verschiedene Hilfs- und Vorbereitungsmittel. Sie reichen von Autosugges­tion, Hyperventilation und Fasten bis hin zu Drogen wie Tabak und Alkohol. Die zentralen magischen Werkzeuge jedoch, um den Gott ins Medium zu holen, sind Musik und Rhythmus, sind Trommeln, Gesang und Tanz. Im Tanzen, dem rituellen Berühren der von den Geistern beseelten Erde, nähert sich das Medium der Ekstase. Afrikaner besitzen eine weit höhere Sensibilität in ihren Füßen als Europäer – das bestätigen Sportphysiologen.

Im Djagli-Kult zum Beispiel – der Gott Djagli schützt vor bösem Zauber – tanzen die Vodousi mit seltsamen, vogelartigen Bewegungen, sie gackern und sprechen in unverständlichen Sprachen. Diese Fähigkeit, sich in Trance zu tanzen – oft auch durch Drehbewegungen wie bei den Derwischen –, ist eine komplexe Kulturleistung, vergleichbar – wie der Essayist Michael Ventura schreibt – mit dem „Bau der Kathedrale von Chartres“. In der Voodoo-Trance jedoch wird das Göttliche nicht angebetet oder verehrt wie im Gotteshaus, sondern kraftvoll beschworen und herbeigezwungen: „In dieser Kultur werden die Kathedralen in die menschli­chen Körper gebaut.“ Noch in Trance kann ein Medium stundenlang weitertanzen. Im Djagli-Kult wird ihm, um es dabei vor der Sonne zu schützen, vorher Djassi auf die Haut aufgetragen, eine gelbe Paste.

Der Motor des Sich-in-Trance-Tanzens ist Rhythmus: die Trommel. Sie bildet den Schlüssel zum Voodoo-Kult, das heilige Zentrum, von dem aus das Gespräch mit den Göttern eröffnet wird. Es ist die Macht der Trommeln, so schreibt der Kulturforscher Joseph Campbell, „die den Gott in den Körper des Gläubigen hineinzu­ziehen vermag“. Jeder Gott hat seinen eigenen Trommelrhythmus, von dem er gerufen wird wie mit Lautsilben. Manche Voodoo-Geheimbünde hüten sogar eifersüchtig das Geheimnis bestimmter Rhythmen. Jeder Gott hat auch seinen eigenen Gesang und Tanz: Der Trance-Tanz eines Kults ist daher fest an dessen Rhythmus gebunden, das Medium wird auf die Trommel „eingestimmt“. Wenn die Trommel verstummt, endet die Trance.

Wie bei den Schamanen der Nomadenkulturen öffnet die Voodoo-Trommel also das Tor in eine andere Welt. Die Wirkung von Trommeln auf Körper und Geist ist wissenschaftlich nachgewiesen: Trommelmusik beeinflusst den Adrenalin-Spiegel, verändert den Herzschlag, stärkt­ die Konzentration, überwältigt das Hörvermögen, fördert die Spontanei­tät, dämpft die Aggression, steuert die Gehirnwellen, verändert das Zeitgefühl, treibt zur Ekstase. Sie ruft etwas wach in uns, das normalerweise schläft. Gewisse Trommelrhythmen reizen sogar zum Lachen, sie wirken wie ein Rauschmittel. Die Trommler spüren es selbst: Nach Voodoo-Zeremonien kämpfen sie oft gegen Übelkeit an. Voodoo-Trommler verstehen sich als die Diener ihres magischen Instruments. Ihre Trommel ist von Geistern beseelt, denen man regelmäßig Essen hinstellen muss.

EXPORT DES VOODOO

Man schätzt, dass zwischen den Jahren 1500 und 1900 rund 10 bis 15 Millionen Afrikaner den amerikanischen Kontinent erreichten – als rechtlose Sklaven. In der Regel achteten die Sklavenhändler darauf, dass dabei keine Voodoo-Priester verschifft wurden. Auch hat man Sklaven vom gleichen Stamm möglichst getrennt, um sprachliche und kultische Traditionen zu unterbinden und Verschwörungen zu verhindern. Dennoch haben Voodoo-Kulte in Amerika Fuß gefasst und in der amerikanischen „Diaspora“ völlig neue Formen und zum Teil große Bewegungen hervorgebracht. Man spricht von „synkretistischen“ Religionen, in denen ganz verschiedene Einflüsse und Vorstellungen verschmolzen sind – afrikanische, europäische, indianische. Auch in den Musikstilen, Sprachschöpfungen oder Kochrezepten der Afrikastämmigen hat eine solche „Kreolisierung“ (Vermischung) der Kulturen stattgefunden.

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Mehr als 90 Prozent der afrikanischen Sklaven, die die Überfahrt nach Amerika überlebten, kamen in katholisch geprägten Kolonien an, vor allem in der spanisch-französischen Karibik und im portugiesischen Brasilien. Bei der Ankunft wurden sie meist sofort christlich getauft, womit man ihnen ihre „heidnischen“ Wurzeln austreiben wollte. Doch tatsächlich erwies sich der Katholizismus als ein guter Nährboden für das Fortleben des Animismus: Die katholischen Heiligen (und ihre Votivbildchen) verschmolzen vielfältig mit den afrikanischen Vodun oder Orishas. Auf Haiti glaubten die Sklaven, im Heiligen Patrick den Schlangengott Damballah wiederzuerkennen, in Lazarus und St. Anton den trickreichen Legba (Ellegua, Eshu), in der Jungfrau Maria die Schöpfergöttin Oshun (Erzulie), im Heiligen Georg den Wald- und Eisengott Ogun, im Heiligen Ulrich den Meeresgott Agwé. In Brasilien setzten sie dagegen St. Anton mit Ogun gleich, den Heiligen Georg mit Oxóssi (Ochosi), die Heilige Barbara mit Iansa (Oya), der Herrscherin über Wind, Feuer und Wasser, und Jesus selbst natürlich mit Oxalá (Obatalá), dem ersten und großen Schöpfer.

Da die Sklaven getauft waren und christliche Gottesdienste abhielten, sahen die Sklavenhalter spezifisch „afrikanische“ Ausprägungen meist mit Toleranz. Das Tanzen und Trommeln – der Motor der Voodoo-Trance – waren beim Gottesdienst oft erlaubt, religiöse Feste wurden sogar gefördert. Kein Wunder, dass die ekstatischste aller katholischen Feiern, der Karneval, zum größten Volksfest der schwarzen Sklaven wurde – auf Haiti genauso wie in Trinidad und Brasilien. Perkussions-Instrumente wie Batá-Trommeln, Kalebassen-Rassel, Agoge-Glocke (Brasilien) und Shekere-Besen (Kuba) waren auch wichtige Kult-Werkzeuge. Unterm Deckmantel eines afrikanisch geprägten Christentums entwickelten sich auf diese Weise neue, große Voodoo-Gemeinschaften – etwa die Santería auf Kuba, Vodou oder Vodun auf Haiti, Obeah auf Jamaika oder Candomblé, Umbanda, Batuque und Macumba in Brasilien.

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Auf Haiti ist das christliche Kreuz-Symbol zugleich ein Voodoo-Symbol: Es stellt die Erde (horizontal) und den Mittelpfosten (vertikal) des Kultraums dar, die „Straße der Götter“, auf der die Geister beim Ritual herabsteigen. Nächtliche Ritualtänze provozierten auf Haiti schon zu Anfang des 18. Jahrhunderts Polizeiverbote. Vodou-Zauberer kämpften dort lange mit Giftmagie gegen die Kolonialherren, 1791 führte eine Vodou-Zeremonie sogar zum Sklavenaufstand. Nach Abschaffung der Sklaverei 1804 gab es 55 Jahre lang keine christlichen Missionare mehr auf Haiti. 1987 wurde dort Vodou offiziell den anderen Konfessionen gleichgestellt, aber auch in den katholischen Kirchen auf Haiti werden Trommeln geschlagen. Noch bei Ausbruch der Cholera 2010 gab es Verdächtigungen, dass Voodoo-Hexer die Krankheit herbeigezaubert hätten. Auch in Brasilien sind die synkretistischen Kulte Umbanda und Candomblé allgemein verbreitet, Umbanda (mit 12.000 Zentren allein in São Paulo) ist sogar eine offizielle Staatsreligion. Die Hauptstadt des Candomblé ist Salvador da Bahia, wo auch die meisten Sklavenaufstände stattfanden und es schon um 1850 einen Voodoo-Tempel gab. In Salvador besitzt jeder Orisha seine eigene Kultstätte.

Bis 1851 erhielt Brasilien Sklavenlieferungen, Kuba sogar bis 1873. Da die Sklaven zuletzt aus dem Volk der Yoruba stammten, findet man in Candomblé und Santería („Yoruba Church“) die Sprache der Yoruba als Kultsprache. Rund 7.500 Yoruba-Wörter sind im Kubanischen nachweisbar. In der afro-kubanischen und afro-brasilianischen Musik ist man stolz auf die Voodoo-Tradition, in der viele der Rhythmen und Tänze wurzeln. Musikalische Widmungen an die Orishas (Orixas) sind üblich, der kubanische Tanzzyklus Lucumbi beschwört sogar die ganze Orisha-Familie. Die meisten lateinamerikanischen Tänze wie Samba (Bantu-Tradition), Tango (beeinflusst vom Candombe = Candomblé) oder Rumba lassen sich direkt auf Trance-Tanztechniken zurückführen. Der kubanische Mambo hat seinen Namen nach der Voodoo-Priesterin, genauer: dem Trance-Höhepunkt des Voodoo.

VOODOO IN DEN USA

Im überwiegend protestantischen Nord­amerika hatten es Voodoo-Kulte wesentlich schwerer. Die Sklaven aus Afrika wurden dort in der Regel nicht getauft: Man sah in ihnen vielfach nur heidnische Wilde ohne Seele. Afrikanische Kulte wurden daher strikt unterbunden, die Trommeln und andere Instrumente waren den Sklaven verboten. Nur das Singen bei der Arbeit („work songs“) war erlaubt, denn die Plantagen-Besitzer versprachen sich davon eine bessere Arbeitslaune und Arbeitsleistung. Für die Sklaven bekam dieser Gesang allerdings eine fast kultische Bedeutung und wurde zur Hauptsache. Da die Trommeln fehlten, hat man seine Wirkung durch Stampfen und Klatschen gesteigert. Auch der Stepptanz (so besagt eine Theorie) entstand aus dem Verbot des Trommelns.

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Eine gewisse Affinität empfanden viele Sklaven zu den protestantischen „Erweckungskirchen“, vor allem den Baptisten (die zudem die Sklaverei ablehnten). In freikirchlichen „Camp Meetings“ und den oft folgenden „Ring Shouts“ spielte das individuelle, ekstatische Gotteserlebnis – nicht unähnlich der Voodoo-Trance – eine wichtige Rolle: Tatsächlich wurden die Baptisten umgekehrt auch von Yoruba-Ritualen der Sklaven beeinflusst. Der Anthropologe Ernest Bornemann schreibt sogar: „Die Flussgott-Zeremonie der Da­homey fand Eingang in den Baptismus. Die Geisterbesessenheit wurde zur Besessenheit durch den Heiligen Geist.“ Auch in Grenada und Jamaika kam es zu einer Mischung afrikanischen Glaubens mit dem Baptismus. Wie real auf Jamaika heute der Voodoo-Kult ist, lässt sich daraus ablesen, dass „Zombifikation“ dort offiziell durch Gesetz untersagt werden musste.

Doch nicht überall in den nordamerikanischen Kolonien waren die Trommeln verboten. Es gab eine wichtige Ausnahme: New Orleans, die spätere Geburtsstadt des Jazz. Dort entwickelte sich alles etwas anders, weil Louisiana, das Land an der Mississippi-Mündung, bis 1803 eine französische Kolonie war. Wie in ihren karibischen Besitzungen erlaubten die Franzosen, dass sich in Louisiana die schwarzen Sklaven versammelten, dass sie trommelten und tanzten und ihre ei­ge­nen Rituale pflegten. Die relativ tole­ranten Kolonialherren vermischten sich mit ihren katholisch getauften Sklaven, erkannten die Kinder („Kreolen“) häufig als Erben an und machten sie so zu frei­en Bürgern. Allerdings achtete man darauf, dass die Voodoo-Praktiken in New Orleans nicht überhandnahmen. 1782 stoppte man deshalb Sklavenlieferungen aus Martinique, 1792 auch aus Haiti und St. Domingo.

Als Napoleon die Kolonie 1803 an die USA verkaufte, machten „freie Kreolen“ fast ein Drittel der Bevölkerung Louisianas aus – und sie bildeten ein wichtiges politisches Netzwerk. Gleichzeitig erlaubte die neue Verwaltung wieder Sklavenlieferungen und Zuwanderungen aus der afrikanisierten Karibik: Das war der Beginn eines organisierten Voodoo-Kults auch in New Orleans. Die Entwicklung erschien den weißen Stadtherren bald schon so bedrohlich, dass sie 1817 ein Versammlungsverbot für Sklaven aussprachen. Allerdings waren die Verantwortlichen so schlau, Voodoo nicht zu verbieten, sondern zu kanalisieren: Vom Versammlungsverbot ausgenommen war der Congo Square, die „Place de Nègres“. Der ehemalige indianische Kultplatz war schon im 18. Jahrhundert sonntags der Ort für ekstatische Sklaven-Feste mit Musik und Tanz.

Ein Bericht aus dem Jahr 1853 beschreibt das wilde Geschehen auf dem Congo Square von New Orleans. Es könnte auch der Bericht von einer Voodoo-Zeremonie in Westafrika sein: „Der Musiker sitzt rittlings auf einem großen Fass, das er mit zwei Stöcken schlägt. Er schlägt unablässig, wie verrückt und stundenlang, während der Schweiß in Strömen fließt und den Boden nässt. [Die Tänzer] ... befinden sich in einer Atmosphäre der Besessenheit, die jegliches Gefühl von Müdigkeit von ihren Gliedern nimmt [...] Der Kopf ruht auf der Brust oder ist hinter die Schultern zurückgeworfen, die Augen sind geschlossen oder starren ins Nichts, während die Arme, von Schreien und Zurufen und ekstatischen Zuckungen begleitet, durch die Luft fliegen ...“

VOODOO IM JAZZ

Etwa bis zum Jahr 1900 fanden am Lake Pontchartrain am Rand von New Orleans noch große Voodoo-Zeremonien statt. Im Rotlichtbezirk Storyville blieb Voodoo auch danach „die eigentliche Religion“: All die frühen Jazzmusiker in New Orleans kannten Voodoo aus eigener Erfahrung. Jelly Roll Morton etwa, der selbst ernannte „Vater des Jazz“, der aus einer kreolischen Familie kam und eigentlich Lamothe hieß, war das Patenkind einer Voodoo-Priesterin namens Eulalie Hecaut (auch: „Echo“). „Es standen Gläser mit Wasser rund um ihr Haus und aus diesen Gläsern kamen Stimmen“, erinnerte sich Morton. „Sehr prominente Menschen suchten ihren Rat. Ich hatte sehr, sehr große Angst vor diesen Dingen. Niemand wird mich davon überzeugen können, dass es keine Geister gibt. In meiner Familie wurden zu viele davon gesehen.“ Morton war sich der wirksamen Kraft des Unergründlichen immer bewusst: Eines seiner frühesten Stücke nannte er „Grandpa’s Spells“: Großvaters Zaubersprüche.

Big Jay McNeely

Bild vergrößernBig Jay McNeely

Auch spätere Musiker bezogen sich immer wieder auf den Volksglauben in den Südstaaten. Sowohl Duke Ellington als auch Charlie Parker schrieben ein Stück mit dem Titel „Ko-Ko“, dem Namen eines kampfmächtigen Voodoo-Gottes. Die Bluessängerin Koko Taylor („Voodoo Woman“) benannte sich sogar nach ihm. Der „JuJu“ (Voodoo-Fetisch), der „JuJu Man“ (Medizinmann, Voodoo-Priester) oder das „Gris-Gris“ (Zauberamulett) tauchen in vielen Jazzstücken auf. Der Organist Jimmy Smith erzählte zuweilen, dass er Voodoo nicht nur auf den Tasten praktiziere, sondern seine Zaubersubstanz („Mojo“) auch auf der Bühne ausstreue für die Sidemen. Dieses Mojo oder auch das Voodoo-Symboltier Schlange tauchen in vielen Blues-Texten auf, etwa bei Muddy Waters und Lightnin’ Hopkins. Dr. John, der weiße Sänger und Pianist aus New Orleans, gefällt sich in seiner Rolle als „Hoodoo Doctor“, auch Lester Bowie mimte mit seinem weißen Kittel gerne den Medizinmann.

Hühner, die wichtigsten Opfertiere der Voodoo-Zeremonie und häufig Vorbilder für Voodoo-Tanzbewegungen, haben unzählige „Chicken Dances“ inspiriert. Die „axe“ (Axt), ein Musikerwort fürs Saxofon, ist ein Voodoo-Symbol. Szenewörter wie „boogie-woogie“ (von „mbuki-mvuki“ = sich ausziehen, um zu tanzen) oder „funky“ (von „lu-fuki“ = ekstatisch schwitzen) erinnern an die Vorbereitung zur Voodoo-Trance. Im Charleston, dem Modetanz des frühen Jazz, erkannten Ethnologen einen westafrikanischen Ashanti-Tanz. Im improvisierten Silbengesang des Jazz („Scat“) kann man die Glossolalie der Ekstase wiederfinden. Alfons M. Dauer schreibt zum Beispiel: „Der Besessene stößt unartikulierte Laute aus, stöhnt und schreit zusammenhanglose Silben ohne Sinn. Die Afro-Amerikaner nennen diese Rede der Besessenheit ‚Scat’-Gesang.“

Häufig hat der Jazz durch Einwanderer aus der Karibik spirituelle Auffrischung erhalten: 1917 etwa, als Puerto Rico US-amerikanisch wurde, oder 40 Jahre später, als in Kuba die Revolution ausbrach. Die magische Macht der schwarzen Musik wurde auf diese Weise immer wieder erneuert: Jazz-Improvisation als Form der Ekstase. Der Jazzmusiker fungiert als unser Priester, der Jazzsolist als unser Medium, geübt in den Techniken des Rituals. Es sind die Trommeln, die ihn in die Trance­ treiben, sie zwingen den Geist herbei, die heilende Kraft, die uns alle ergreift. Wir Zuhörer sind Eingeweihte, nicht bloße Zuschauer, wir sind Vodousi, wir haben teil an der Trance unseres Mediums. Wenn wir nicht tanzen, so nicken wir zumindest mit dem Kopf, wippen mit dem Fuß, schnippen mit dem Finger – und die Ekstase, die Beglückung, die Be-Geisterung, greift auf uns über.

Wer ein Voodoo-Medium sehen will, betrachte die Fotos der Barwalkers des Rhythm&Blues, die sich mit verdrehten Augen, das Saxophon blasend, auf dem Boden wälzen. Oder er denke an John Coltrane, den Enkel zweier Baptisten-Prediger, der mit seinen halbstündigen Saxophon-Ekstasen die spirituellen Mäch­te herbeizwingt. Schwarze Musik ist nicht einfach Musik. Sie ist magische Praxis, sie ist Heilkraft und Katharsis, sie ist ein Ritual ohne Rampe und oft auch eine Beschwörung der Ahnen: der Jazz-Ahnen. Die Botschaft des Jazz lautet: Das Unsichtbare manifestiert sich im Sichtbaren, es gibt keinen absoluten Tod, kein völliges Jenseits, keine Trennung von Körper und Geist. Immer wieder beschreiben sich Jazzmusiker als Gefäße für höhere Mächte, für universelle Strömungen, die durch sie wirken. Der Begriff „Spiritualität“, dieses Lieblingswort des Jazz seit den 60er-Jahren, legt sich nicht fest: Meinen wir den Heiligen Geist oder Geister ganz anderer Art? Cecil Taylor, einer von vielen, sagte einmal: „Improvisation bedeutet, sich auf magische Art in einen Zustand der Trance zu bringen. Es hat mit religiösen Kräften zu tun.“

Weiterführende Literatur: www.hjs-jazz.de/?p=voodoo

Hans-Jürgen Schaal


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