Anzeige |
||
Anzeige |
|
Seit seiner Blüte im 19. Jahrhundert (Brahms! Marx! Monet!) war der Vollbart eigentlich nie mehr in Mode. Die Mehrheit der Vollbartträger heute sind Päderasten, Almwirte, Harley-Davidson-Fahrer, Schiffskapitäne und Pfeifenraucher. Den allerhöchsten Prozentsatz an Vollbärten jedoch findet man auf Jazzkonzerten und Jazzfestivals: Michael Naura und Ekkehard Jost geben den klassischen Phänotyp des reifen Jazzkenners vor. Der Historiker sagt: Der Bart war schon bei den antiken Philosophen Ausdruck von freiem Leben und freiem Denken; auch bei den Germanen der Römerzeit unterschied sich der Freie vom Arbeitssklaven durch seinen Bart. Der Psychologe sagt: Bartträger sind nicht nur zu faul zum Rasieren, sondern scheuen grundsätzlich Veränderungen; daher pflegen sie ausdauernd ihre lieb gewordenen Eigenheiten. Der Volksmund sagt: Bartträger haben etwas zu verbergen. – In der Tat, sie verbergen etwas: ihr Gesicht nämlich. Der Vollbärtige oder der halbwegs Bebartete (mit Henriquatre oder Backenbart) hat im Grunde sein Gesicht abgegeben. Ohne Bart würde ihn keiner mehr erkennen, nicht einmal er selbst. Vor langer Zeit hat er sein äußeres Ich etwas Wichtigerem geopfert, sagen wir: Abseitigem, Innenseitigem, Unsagbarem. Seitdem folgt er ganz seiner Leidenschaft, seinem innersten Drang. Das kann das Hören von Jazzplatten sein, das Trinken von Rotwein, das Fahren schwerer Harleys, das Sammeln von Kinderfotos, der Genuss von schwarzem Tabak oder alles zusammen. Das Gestrüpp im Gesicht dient als Schutzwall einer schwer zu kommunizierenden Leidenschaft. Wer aber sein äußeres Gesicht abgibt, muss ganz der Stärke seiner inneren Kraft vertrauen können. Bartträger sind daher grundsätzlich gefährdet. Bei Jim Morrison, dem Rock-Helden, war der Bart der Anfang vom Ende. Vielleicht fehlte ihm das Unerschöpfliche in der Leidenschaft. Vielleicht fehlte ihm der Jazz. Rainer Wein (rainer.wein@gmx.net) |
|