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Mit den Klassikern ist das so eine Sache. In der Schule verhasst und in dieser Lebensphase dann auch vollkommen unverständlich von jedem „Erwachsenen“ hemmungs- und pausenlos zitiert („…schönes Fräulein, darf ich’s wagen…“) sowie von Lehrern mit blitzenden Augen beschrieben, schafft es Doktor Faust oftmals nicht einmal ansatzweise, die Tiefe und Komplexität seines Konfliktes frisch volljährigen Jungspunden ersichtlich werden zu lassen. Bei der „Marquise von O“ ist der Witz, ob es in diesem Buch um Großmutters Sonnenschutz ginge laut Aussage einiger Deutschlehrer so vorhersehbar, dass sie sich schlagfertige Antworten bereits präventiv in ihr eigenes Lektüreexemplar eingetragen haben. Auch die Frage, was „Kannibalen und Liebe“ miteinander zu tun hätten, zeugt vom etwas löchrigen Respekt gegenüber den großen Stützen des literarischen Kanons. Und irgendwann werden die kommenden Generationen sicherlich sogar Christian Krachts intellektuellen Selbstbefriedungsroman „Faserland“ in die Klassiker- und damit unlesbare Schublade abschieben. Der Klassiker in der Literatur wird somit für viele potentielle Leser eher zur Hürde denn zum leichten Einstieg. Die Musik hat es da ein wenig leichter. Zwar hat auch die Musik ihren Faust: Dass Led Zeppelins „IV“ Pflichtkonsum für einen auch nur ansatzweise ernstzunehmenden Rockfan ist, haben neunundneunzig Prozent der Selbigen ohne Einwände begriffen, und ein Jünger des Soulflügels wird sich Marvin Gayes „What’s Going On“ einverleiben, ohne Proteste – in dem festen Wissen, dass es ihn in seinem Musikverständnis weiterbringt, nein, ein wahres Verständnis für den Soul vielleicht überhaupt erst ermöglicht. Aber auch die neueren Klassiker wie beispielsweise Rage Against The Machines Debütalbum oder Lauryn Hills „Miseducation“ werden gelesen, Verzeihung, gehört – sicherlich mit einer anderen Ehrfurcht als die „echten“ Klassiker, aber mit nicht weniger Wertschätzung. Die Neoklassiker der 90er-Jahre sind damit sozusagen die „Blechtrommeln“ des Pop. Der Jazz jedoch, könnte man nun meinen, macht da wie in so vielen Punkten wieder einmal eine Ausnahme. Archaischen Strukturen folgend wird hier entgegen aller popkulturellen Lockerheit der Verweigerer der Kanonisierung erbittert gefoltert, bis er schließlich jedes Trompetensolo von Miles Davis’ „Kind of Blue“ vorsingen kann. Könnte man meinen. Aber nein, die Überraschung gelingt, und der Jazz treibt schließlich all das, was Pop und Rock begonnen haben, auf die Spitze: Jeder Klassiker, sei es nun ein Faust wie Coltranes „A Love Supreme“, eine Blechtrommel wie Miles Davis‘ „Bitches Brew“ oder ein Faserland wie John Scofields „Überjam“, ist präsent, enorm wichtig für die historische Entwicklung und zumeist auch allseits bekannt – aber im Gegensatz zu den Werken von Goethe oder Led Zeppelin beinahe uneingeschränkt streitbar. Im Gegensatz zur Frage, ob nun „Electric Ladyland“ oder eben „Axis: Bold As Love“ die bessere und wichtigere Platte von Jimi Hendrix sei (deren Beantwortung nicht selten mit blutigen Nasen beendet wird) ist es dem Jazzer überlassen, ob er nun „A Love Supreme“ zu langatmig findet, „Bitches Brew“ für strukturlosen Lärm hält und „Überjam“ für eine der wirklich großartigen Platten der letzten Jahre – oder umgekehrt. Sicherlich mit Einschränkungen, die Spätwerke von Lee Ritenour werden fernab ihrer technischen und klanglichen Brillanz sicherlich nie zu klassischen Meisterwerken avancieren. Aber im Unterschied zu den literarischen Klassikern fehlt das schwere Gewicht, das so manchem Schullektürenstandard jegliche Spannung und Attraktivität zu rauben imstande ist. Nur so ist es zu erklären, dass kiffende Hip-Hopper mit dem Hosenbund knapp über den Kniekehlen in ihren Songs Miles Davis zitieren und sich hemmungslos im Jazzkatalog der 60er- und 70er-Jahre bedienen. Und so macht der Jazz es wieder einmal möglich, dass sich ein, seine Hosen ebenfalls relativ tief tragender, junger Kolumnist nach solchen Gedanken hinsetzt, sich die Stadtbüchereienleihausgabe von „A Love Supreme“ einverleibt und irgendwann vielleicht sogar „Bitches Brew“ eine zweite, dritte und zehnte Chance gibt. Mit dem Ziel, sie zu verstehen, aber frei von dem Druck, es zu müssen. Ach ja, das mit den Klassikern könnte so einfach sein. Sebastian Klug |
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