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Abende wie diese gibt es sogar bei Keith Jarrett selten. Und das in mehrfacher Hinsicht. Ein Abend der Extreme – musikalisch und emotional. Und ein Abend, an dem man Vieles von dem begreifen konnte, was die Musik und die Besonderheit dieses Pianisten ausmacht. Der Amerikaner Keith Jarrett (61) war jetzt in der erst vor kurzem nach langer Renovierung wiedereröffneten Salle Pleyel in Paris zu erleben – wo er zwei seiner wenigen Solo-Konzerte gab.
Über das zweite Konzert war in der FAZ vom 6. November manches zu lesen. Hier einige Eindrücke vom ersten Konzert, das am 31. Oktober stattfand – und das offenbar in Teilen ähnlich und in anderen wieder völlig anders war als das zweite. Wie auch immer: Viel Diskussionsstoff bieten die Auftritte eines der spartenbergreifend meistgefeierten Pianisten der Gegenwart nach wie vor. Um gleich die Katze aus dem Sack zu lassen: Jarrett brach nach der Pause zweimal ein Teilstück ab, weil er sich von Hustern gestört fühlte. Und er diskutierte dann auch ausführlich mit dem Publikum über seine Beweggründe. Davor und dazwischen war ekstatische, hochsensible, stilistisch fast enzyklopädische Klaviermusik zu erleben – in einer Atmosphäre, die sich in den Zuhörerreihen anfühlte, als sei der Saal elektrisch aufgeladen: hohe Spannung; und ein Applaus, der immer etwas von einer Befreiung von angestauten Gefühlen hatte. Die Schilderung ist nicht übertrieben. Das ist bei Jarrett so. Und das hängt auch mit der Exklusivität seiner Solokonzerte zusammen. Nach Jahren, in denen er wegen seines Leidens am Chronic Fatigue Syndrome – einer Erschöpfungskrankheit, die inzwischen überwunden scheint, noch seltener als jetzt und wenn, dann nur mit Begleitung auftrat, gab es seit 2002 überraschend wieder Solo-Abende. Nicht zuletzt 2005 ein bejubeltes Gastspiel in der New Yorker Carnegie Hall, das auf Jarretts jüngster CD dokumentiert ist (die von Kritikern zuweilen mit dem vier Millionen Mal verkauften „Köln Concert“ von 1975 verglichen wird). Nach den beiden Konzerten jetzt in Paris standen noch Auftritte im Trio mit Schlagzeuger Jack DeJohnette und Bassist Gary Peacock in Spanien an – und im Frühjahr 2007 reist Jarrett mit ihnen nach Japan. Im Dunkeln kommt Jarrett so betont unspektakulär auf die Bühne, dass man ihn zunächst beinahe übersehen könnte: auf leisen Sohlen, Kopf gesenkt. Und eine getönte Brille signalisiert, dass hier ein In-sich-Gekehrter gleich ganz konzentriert ans Werk gehen wird. Und dann, am Steinway, genau der Jarrett, den man erwartet: Er krümmt und windet sich, stöhnt, summt quengelnd mit, stampft mit dem Fuß den Rhythmus, wiegt den Kopf hin und her, nicht selten mit wie von Schmerz verzerrtem Gesicht. Im Zeitlupentempo erhebt er sich manchmal über den Hocker wie ein Jockey im Sattel, dann wieder streckt er den Oberkörper nach hinten, wie um einer Phrase damit noch mehr Nachdruck zu verleihen. So extrovertiert kann Introvertiertheit wirken. Ich halte sie für echte Versunkenheit – und nicht für eine weihevolle Selbststilisierung. Musikalisch geht Jarrett an diesem Paris-Abend im Großen und Ganzen in die Richtung seines „Carnegie Hall“-Konzerts: Sechs Teilstücke enthält der erste Set, der zweite dann – unterbrechungsbedingt – nur drei. Im Unterschied zu den früheren Solokonzerten, in denen Jarrett nonstop oft eine Dreiviertelstunde durchspielte, bleibt er also bei seiner neuen Solo-Form, in der er sich Pausen gestattet. Die einzelnen Sätze sind völlig unterschiedlich charakterisiert. Tonal frei und wirbelnd beginnt er, findet eine Bassfigur, in die sich die Improvisation dann reizvoll verbohrt, bevor sie in poetische Diskant-Einwürfe mündet. Und so entsteht unter dem langen Bogen des ersten Sets eine enorm vielfältige Klavierwelt: Da gibt es etwa eine himmlisch einfache Hymne (nach der heftiger Zwischenapplaus aufbrandet), dann ein auf einem Ostinato aufgebautes Blues-Stück, das wie eine verfrühte Zugabe klingt, dann wieder einen Part, der den melodischen Zauber eines Folksongs hat, herrlich phrasiert ist und immer emphatischer wird – bis hin zu einem Teil, in dem spielerische Pointen wie aus Klavierstücken Sergej Prokofiews sich mit aus der Tonalität befreiter Bebop-Rasanz verbinden. Da gibt es viel zu staunen und zu entdecken – nicht zuletzt Jarretts Versuch, dem Klavier auch ein Vibrato zu entlocken. Das macht übrigens der Klassik-Pianist Fazil Say ebenfalls. Und in beiden Fällen hat das was für sich: Das starke Vibrieren eines Fingers auf einer Taste scheint den Ton wirklich zu beeinflussen, ihm ein zartes Weiterschweben zu ermöglichen. Die wache und ungemein klare Akustik in der noch nach frischer Farbe riechenden Salle Pleyel könnte Jarrett dazu besonders inspiriert haben: Denn jedes Pianissimo ist präsent. Alles hörbar. Das führt dann im zweiten Set zu besonders angespannten Situationen. In einem schwierigen lyrischen Stück und später in einem, das ganz komplexe, energische Windungen nimmt (wo ich mich fragte: Wie findet er da wieder heraus?), bricht Jarrett ab. Wegen sehr lauter Huster. Zunächst pariert er die Situation mit Humor: „Ist Ihnen aufgefallen, dass ich nie huste?“, fragt er und bietet zur Auflockerung an, ein „Concerto“ für Klavier und gemeinsames Husten zu dirigieren. Beim zweiten Mal stoppt er sein Spiel, murmelt etwas, geht hinaus und kommt erst Minuten später wieder. Er erwarte eigentlich nichts als zwei mal vierzig Minuten Konzentration, sagt er. „Das ist doch eine kurze Zeit.“ Und dann, nach verschiedenen Zurufen: „Ich serviere keine Fertig-Kühlkost. Da ist nichts eingefroren und vorgefertigt. Das passiert hier und jetzt und nur hier und jetzt. Es ist für Sie, und wenn Sie damit nicht umgehen können, sollten Sie nicht hier in diesem Raum sein.“ Da steckt einiges an Anmaßung, aber auch sehr viel Wahrheit drin. Sätze wie der letzte können einen ziemlich sauer machen. Aber wer selbst im Publikum sitzt und zuhören möchte, den stören die – selten von Erkältungen kommenden – Huster auch. Und selbstverständlich den Musiker. Jarretts Spiel ist eine Art musikalischer Hochseil-Akt. Er mache sich keine Vorgaben, sondern improvisiere wirklich immer aus dem Moment heraus, hat Jarrett des Öfteren betont. Bei seinem Niveau hat das nichts mit einem lockeren Dahinspielen zu tun. Raffinierte Stimmenverschränkungen, ein ganz allmähliches Entwickeln aus Kernmotiven heraus, ein über weite Strecken durchgehaltener Spannungsbogen: Das alles schüttelt man nicht aus dem Ärmel. Selbst als Weltklasse-Pianist nicht. Auch noch so starke Konkurrenten Jarretts ziehen davor den Hut. Nun müssen Konzerte nicht zu heiligen Ritualen werden – aber die Neigung zur trancehaften Versenkung gehört zu Jarretts Musik. Ohne das – und wohl auch ohne die Hyper-Empfindlichkeit ihres Urhebers – würde sie völlig anders klingen. Wer die Töne will, muss – zumindest im Konzert – den Jarrett nehmen, wie er ist. Auch mit Humor, wenn’s geht. „Ich spiele keine Greatest Hits“, sagte er noch, „und keine Billy-Joel-Songs“. Dann setzte er zur ersten Zugabe an – und das war „My Song“, das er einst mit Jan Garbarek aufnahm. Einer der Greatest Hits – von Jarrett. Roland Spiegel |
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