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Das für Garner bemerkenswerteste Ereignis des Jahres 1952 ist zweifellos die „Piano Parade“, vor allem wegen der Teilnahme des ungekrönten Königs der Jazzpianisten: Art Tatum. Art Tatum (1909–1956) war nicht nur das Idol aller Jazzpianisten, er war auch das Vorbild vieler anderer Jazzmusiker, zum Beispiel Charlie Parkers. Der Jazz-Impresario Norman Granz hielt ihn für den „größten Instrumentalsolisten in der Geschichte des Jazz“. Es ist auffallend, wie oft man den Begriff „Gott“ wählt, wenn von Tatum die Rede ist. André Previn sagte in einem Gespräch mit dem Verfasser im Februar 2004, Tatum sei sein „Gott des Klavierspiels“, Erroll Garner meinte: „Tatum ist der wahre Gott von uns Jazzpianisten“, und bekannt ist der Ausspruch Fats Wallers, der sofort zu spielen aufhörte, als Tatum den Panther Room des Hotels Sherman in Chicago betrat: „Ich bin nur ein Klavierspieler – aber eben kam Gott in unser Haus“. Rachmaninoff, Paderewski, Gershwin und der Klaviertechnik-Titan Leopold Godowsky zählten zu seinen Bewunderern, Artur Rubinstein sagte einmal „wegen Erkrankung“ ein Konzert in der Carnegie Hall ab, wobei man ihn am gleichen Abend in einer Jazzkneipe sah, um Tatum zu hören. Als der Geiger David Oistrach in der Carnegie Hall debütierte, war sein erstes in New York, alle erhältlichen Schallplatten Tatums zu erwerben. Die Jazzpianistin Hazel Scott erzählt: „Eines Tages gingen Artie Shaw, Vladimir Horowitz und ich ins Cafe Society, wo Tatum auftrat. Horowitz war überwältigt. Nach dem Tiger Rag sagte er: ‚Das kann nicht wahr sein! Ich traue meinen Augen und Ohren nicht!‘ Zwei Tage später nahm Horowitz seinen Schwiegervater Toscanini mit, damit auch dieser Tatum hörte. Und Toscanini war ebenso überwältigt.“1– Tatum ist auch das Idol Oscar Petersons, im Studio seines Hauses in Mississanga hängen drei Bilder: die Porträts von Horowitz, von Tatum und sein eigenes. Teddy Wilson, einer der Großen des Jazz-Pianos, resümiert: „Tatum ist nicht nur der größte Jazzpianist, der je gelebt hat – es gibt nur ganz wenige Konzertpianisten, die so spielen können.“ Es ist hier deshalb von Art Tatum so viel die Rede, weil sich Erroll Garner und Tatum gut kannten, oft gemeinsam auftraten (zum Beispiel in den legendären All-Night Parties nach Mitternacht in Harlem und sie sich gegenseitig sehr schätzten. Tatum nannte Erroll immer „my little boy“. Slam Stewart, der mit beiden eng befreundet war – Garner nahm 1945 Tatums Platz in Stewarts Trio ein – berichtet, Tatum habe selten einen anderen Pianisten bewundert, und einer dieser seltenen sei Erroll Garner gewesen.2 Tatums Freundin Sylvia Syms erzählt, Tatum habe ihr einmal gesagt, dass er Erroll bewundere. Schließlich sei hier noch der Ausspruch von Billy Eckstine wiederholt, der beide gut kannte: „Tatum, oh, oh, er liebte ihn! Art Tatum liebte Erroll!“ Martha Glaser überliefert glaubwürdig – und auch andere Jazzmusiker wussten davon –, dass Tatum kurz vor seinem Tod zu Ben Webster (mit dem Tatum wenige Wochen, bevor er starb, seine letzten Schallplattenaufnahmen gemacht hatte) und Jo Jones geäußert habe: „Gebt mir auf den little man, Erroll, acht … kümmert Euch um ihn … gebt auf ihn acht … er ist der letzte unserer Zunft … wenn er nicht mehr da ist, dann stirbt auch unsere Musik.“ („Look out for the little man, Erroll … take good care of him … look out for him … he’s the last of our kind … When he goes, our kind of music is dead.“3) Selbstverständlich – wie könnte es anders sein – bewunderte Garner Art Tatum. Zu Tatum befragt, sagte er später einmal: „Ich kann nur sagen, das war der professionellste von allen, und alles hat er mit ins Grab genommen. Ich hatte das Glück, ihn an 15 oder 16 Abenden zu hören bei so einem Ding, das sich ‚Piano Parade‘ nannte. Martha Glaser veranstaltete die Show und sie bestand aus Meade Lux Lewis, Albert Ammons, Teddy Wilson, Art Tatum und mir. Das war 1954. [Hier irrt Garner: Die Piano Parade fand 1952 statt, weder Albert Ammons noch Teddy Wilson wirkten mit, wohl aber Meade Lux Lewis und Pete Johnson.] Es war eine totale Piano Show, von Althergebrachtem zu so neuen Sachen. Ich stand jeden Abend neben der Bühne und hörte dauernd zu, immer und immer wieder. Er [Tatum] hat mich sehr ermutigt. Ich hatte Angst nach ihm oder sogar vor ihm aufzutreten. Aber er sagte mir dauernd: ‚Geh’ auf die Bühne und spiel’ so wie Du kannst – vergiss mich und auch wie ich spiele. Geh’ da hinaus und spiele in Deiner Art!‘ Und nach ein paar Abenden war ich lockerer und spielte wie ich eben spiele, und das war richtig so. Er hatte sein Trio aufgelöst und so kam Slam [Stewart] mit Harold West zu mir, und so war es, wie in jemandes Fußstapfen zu treten. Tatum spielte herrlich während dieser Show und tat alles, um mir zu helfen. Er mochte einige Stücke, die ich komponiert habe, und spielte sie für mich; er spielte sie so gut, dass ich selbst sie nicht mehr spielen wollte. Er machte so viel aus ihnen, dass es eine Schande wäre, wenn ein anderer sie nach ihm spielen würde. Sie [Sinclair Traill] sind der Fünfte oder Sechste, der mir die Story erzählt, dass er kurz vor seinem Tod zu Oscar Peterson gesagt haben soll: „Gebt mir auf den kleinen Mann acht“. Ich weiß nicht ob es wahr ist. Alles was ich dazu zu sagen habe: Wahr oder nicht, es ist eine Ehre für mich und mein Bestreben, den Erwartungen, die dieses Gerücht weckt, gerecht zu werden.“4 Wyatt „Bull“ Ruther, ab Mitte 1952 Garners Schlagzeuger, hinterließ eine anschauliche Schilderung: „Erroll und Tatum waren Kumpels. Wir traten im Birdland auf, und da eröffnete man eine kleine Kneipe ganz in der Nähe des Birdland, ich habe vergessen wie sie hieß. Wenn wir auf der Bühne waren, hörte Tatum Erroll zu, und wenn wir die Bühne verließen, hörten wir Tatum zu. Die beiden gingen königlich miteinander um. Wann immer Tatum bei seinem Auftritt herausgefunden hatte, dass Erroll im Publikum war, spielte er eine Weile im Stile Errolls, um ihm zu verstehen zu geben, dass er seine Anwesenheit bemerkt hatte. Erroll musste dann immer lachen. Wenn aber Tatum da war um Erroll zu hören, erlaubte der sich immer einen Spaß mit ihm. Er spielte zum Beispiel einen von Tatums typischen Läufen, sagte dann ,oops‘ oder so was ähnliches.“5 Als Pianisten waren die beiden höchst verschieden. Tatums Spiel ist rein pianistisch angelegt, dasjenige Garners orchestral. Tatum, dessen Technik legendär ist, streut oft kaskadenartige Läufe von unvergleichlicher Klarheit ein. Sein Anschlag ist leicht und elegant. Er beherrscht jenes Leggiero, von dem Chopin-Spieler immer träumen. Oft teilt er das Tempo in Segmente auf, unterbricht den gewohnten Beat, gleitet von Triolen zu Sechzehnteln, dann wieder zu Doppeltriolen, oder er integriert Pausen, die den musikalischen Ablauf zu zerstören scheinen. Garner bevorzugt Oktaven und waghalsige Akkordpassagen, hält seinen Beat mit den gitarrenartigen Akkorden in der linken Hand eisern durch und unterbricht ihn allenfalls um eine Stride-Piano-Episode einzubringen. Tatum war der technisch und harmonisch feinere Spieler, Garner zweifellos der spontanere. Man kann Art Tatum und Erroll Garner als die individuellsten und größten Improvisatoren in der Geschichte des Jazz-Pianos bezeichnen. (Spätestens hier mag zu Recht die Frage nach dem großartigen Oscar Peterson auftauchen: Petersons Spiel wirkt jedoch – bei aller Perfektion – entschieden einstudierter und routinierter.) Art Tatum starb am 4. November 1956, im Alter von 47 Jahren, an Nierenversagen. Erroll Garner gab ihm das letzte Geleit. Ernst Burger
Das Buch
Ernst Burger: Erroll Garner. Leben und Kunst eines genialen Pianisten
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