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Jazzzeitung

2010/02 ::: seite 23

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Inhalt 2010/02

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene / kurz, aber wichtig Jazzlexikon: Fletcher Henderson Farewell: Ed Thigpen


TITEL -
Gutes Echo auf den Jazz
Vom Überlebenswillen einer schlanken Musikrichtung


Berichte

Zweiter BMW Welt Jazz Award // Women in Jazz in Halles Oper // Pat Methenys „Orchestrion“-Auftritt in München // Preview: Zur Premiere des Festivals Elbjazz Hamburg // 28. Südtirol Jazzfestival Alto Adige


Portraits

Arbor Records Party und „Echoes of Swing“ in Florida – Teil 2 // Matthias Bublath // Harry Carney // Ornette Coleman // Rigmor Gustafsson und das radio.string.quartet.vienna // Herbie Hancock // Dieter Ilg // Mike Seltzer von „Manhattan Brass“ // Christoph Stiefel und sein Inner Language Trio // Die Augsburger Band „Swing tanzen verboten!“


Jazz heute und Education
Fünf Jahre Messe jazzahead // Christian Sommerer über seinen Posten als Leiter der Uni-Jazzensembles // Abgehört: Richard Bonas Bass-Solo zu „Play“ von Mike Stern

Rezensionen und mehr im Inhaltsverzeichnis

Schöpferische Goldader

Am 12. April feiert Herbie Hancock seinen 70. Geburtstag

Jazz-Puristen lieben ihn nicht sonderlich, den Tausendsassa, hat er doch seine überreichen Gaben an Rock, Pop und Funk „verschleudert”. Sie schüttelten schon die Köpfe, als er vor über 40 Jahren „elektrisch” wurde und liefen erst recht schreiend aus dem Zimmer, als 1984 Hancocks „Rockit”, einer der ersten Hits der Video-Clip-Geschichte, mit seinen kleinen bunten Roboterchen über sämtliche Bildschirme flimmerte. Aufgeschlossenere begriffen, dass Hancock hier wieder einen neuen Standard setzte, wenn auch nicht für den Jazz. Nein, das war nicht mehr der Mann, dem sie 20 Jahre vorher zu Füßen lagen. Oder doch?

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Musikalischen Stillstand kennt Herbie Hancock nicht. Darin liegt wohl auch das Geheimnis, wieso er heute noch so unglaublich jung und gesund aussieht. Es macht Spaß, sein Mienenspiel beim intensiven Musizieren zu beobachten. Hancock bietet nicht nur Nahrung für die Ohren, sondern auch für die Augen. Wenige Jazzer haben so viel Bewusstsein für das Visuelle wie er. Er hat das nicht nur in seinen Soundtracks für Kultfilme wie Antonionis „Blow Up” oder Taverniers „Round Midnight” bewiesen. Auch seine größten Jazz-Hits leben von ihrer Bilderwelt: „Maiden Voyage” (1965), sein vollkommenstes Album, schildert die Naturgewalt des Meeres: „Dolphin Dance”, diese poetische Schilderung tanzender Delphine, ist oft kopiert, aber nie erreicht worden. „Watermelon Man”, das auf Taking Off (1962), seinem allerersten Album und auf Headhunters (1973), der meistverkauften Jazzplatte überhaupt, erklingt, evoziert die Figur eines Wassermelonen-Verkäufers aus dem Schwarzen-Viertel Chicagos: der Klang seiner Wagenräder auf den Pflastersteinen wird Rhythmus, seine durch die Straßen hallenden Rufe Melodie. Hancock beschwor damit nicht nur einen Kindheitseindruck, er setzte ihn, wie so viele seiner Impressionen, in einen Groove um, der heute ebenso archetypisch wie zeitlos modern wirkt und direkt in die Beine geht.

In einer weniger vom Akustischen als vom Visuellen dominierten Welt ist Hancock ein idealer Jazzvermittler. Zu Gute kommt ihm dabei seine freundliche Erscheinung. Meist lächelt er liebenswürdig und etwas überlegen, der Schalk blitzt ihm dabei vergnügt aus den Augen. Dazu hat er auch guten Grund: Aus einer Fülle herausragender Jazzpianisten seiner Generation bestimmte ihn sein Geschick zum Beliebtesten: Als Buddhist ist er kein Buhmann wie der Scientologe Chick Corea. Im Gegensatz zu McCoy Tyner bedient er nicht nur Insider. Keith Jarrett, der sich von der Musik der Straße weniger verlocken lässt, umgibt eine elitärere Aura. Und Joe Zawinul hat im Gegensatz zu Hancock keine Ambitionen mehr als akustischer Pianist.

Hancock ist, die Fans mögen verzeihen, wohl nicht der größte lebende Jazzpianist, aber der vielseitigste. Er ist, so heißt auch einer seiner Hits, ein “Chameleon”. Mit seiner Omnipräsenz und Universalität degradiert er technisch überlegenere (Martial Solal), konservativere (Kenny Barron), avantgardistischere (Cecil Taylor), exotischere (Abdullah Ibrahim) Kollegen zu Spezialisten.
Böse Zungen werfen Hancock einen Mangel an einem roten Faden vor, der sich einheitsstiftend durch das ganze Schaffen eines Künstlers zu ziehen habe. Sie sind taub. Was ihn umtreibt, das wird nach 40 Jahren Karriere immer deutlicher, ist der Versuch, die unterschiedlichsten, mitunter widersprüchlichen musikalischen Tendenzen seines Zeitalters zusammenzuführen – ein Versuch, der selbst wo er nicht ganz gelingt, mehr Respekt und Bewunderung verdient als das dahinter vermutete kommerzielle Interesse Naserümpfen. „Was will der mit Ravel?”, meinte ein Kollege, als er 1999 auf dem Album „Gershwin’s World“ auch mit dessen Klavierkonzert in Erscheinung trat (ein mit Stevie Wonder, Kathleen Battle, Joni Mitchell und, ja, auch Jazzmusikern wie Wayne Shorter und Chick Corea eingespieltes Album).

Dabei war Hancock schon als Elfjärhiger als Mozart-Interpret mit dem Chicago Symphony Orchestra aufgetreten. Als Teenager begleitet er bei einem Konzert Coleman Hawkins, den Vater des Jazz-Saxofons. Als der Hardbop-Trompeter Donald Byrd eines Tages plötzlich ohne Pianist dasteht, empfiehlt der Clubbesitzer den völlig unbekannten Hancock. Der macht seine Sache so gut, dass Byrd ihn 1960 kurzerhand nach New York verfrachtet und ihn bei sich wohnen lässt. Innerhalb von zwei Jahren hat Hancock seinen ersten Hit, „Watermelon Man”, der in der Fassung von Mongo Santamaria zu Latin-Ehren kommt, seinen eigenen Verlag, ein Auto und einen Vertrag bei Blue Note. Nach und nach erweitert er seine Klangsprache. Zunächst amalgamiert er Einflüsse von Bud Powell, Horace Silver, Wynton Kelly, Bill Evans und Ahmad Jamal zu einem Stil, der sich bestens ins Blue Note-Programm – vitaler, bluesiger, souliger Bop – einfügt. Auf seiner ersten Platte wirkt der legendäre Dexter Gordon mit, an dessen Seite er einst Filmgeschichte machen wird. Als er für „Round Midnight”, in dem Hancock auch als Schauspieler glänzt, 1986 den Oscar erhält, nimmt er ihn stellvertretend entgegen für all die schwarzen Künstler, die von der amerikanischen Kulturinsdustrie sonst überhaupt nicht beachtet werden. Im Laufe der 60er-Jahre wird Hancock zum Neuerer, sucht nach einem Jazz, der frei und spontan ist, ohne atonaler Free Jazz zu sein. „Inventions & Dimensions”, ein experimentelles Album, auf dem dies 1963 mustergültig verwirklicht wird, wird von Blue Note bald nach der Veröffentlichung vom Markt genommen. Auf Alben wie „Emyrean Isles” (1964) kreiert Hancock Grooves, die viele heute für den neuesten Schrei halten. Hancocks „Cantaloupe Island” wird drei Jahrezehnte später als „Cantaloop” in der Fassung von US3 ein Dauerbrenner. Mitte der 60er findet Hancock einen Stil, der harmonisch ebenso komplex ist, wie er rhythmisch und melodisch nachvollziehbar bleibt. Hancock meint, er sei in der Blue-Note-Zeit ein intellektueller Jazz-Snob gewesen, der keine Ahnung von Funk hatte. Mag sein. Bessere Aufnahmen als für Blue Note hat er nie wieder vorgelegt, nur eben andere.

Schon 1963 wird er von Miles Davis engagiert, der sich in einer musikalischen Krise befindet und musikalisches Neuland betreten mochte. Im Quintett mit Hancock, Wayne Shorter, Ron Carter und Tony Williams gelingt dies. Seine Musik wird risikofreudiger, nähert sich, als die Band sich 1968 auflöst, dem Rock. 1967 schließt Hancock das E-Piano ins Herz. „Herbie war wie ein Schwamm”, so Miles, „er sog alles auf.” Bei Elektrischem fühlte er sich „von Anfang an wohl wie ein Fisch im Wasser”. Kein Wunder, um ein Haar wäre er auch nicht Musiker, sondern Maschinenbauer geworden.

Bei der Vermählung von Jazz und Rock springt Hancock nicht etwa auf einen modischen Zug auf, er wird ein Lokführer, einer der wichtigsten Fusionierer der Jazzgeschichte. 1973 ist Hancock so berühmt, dass Davis die Vorgruppe bestreitet und nennt sich „Mwandishi”, auf Suaheli Komponist. Seither fährt Hancock zweigleisig, bedient Pop- und Jazzfans mit unterschiedlichen Projekten. Doch Miles wirft lange Schatten. Hancocks 1976 gegründete Band V.S.O.P. ist das alte Miles Davis Quintet, nur dass Freddie Hubbard Davis ersetzt. Im Quartett des Jahres 1981 übernimmt Newcomer Wynton Marsalis die Miles-Rolle und in den 90-ern tourt Herbie mit „Tribute To Miles”, wiederum dem alten Davis Quintet mit Wallace Roney in den milesischen Fußstapfen.

Damals gesteht Herbie in einem Interview, dass es sehr frustrierend sei, sich überhaupt mit der Musik einzulassen: „Keiner kann sicher sein, dass er heute abend gut genug spielen wird. Und ein schlechter Abend kann dich kaputt machen.” Auch die Werke der letzten Jahre – ob das in Zusammenarbeit mit einem Riesenstaraufgebot an Popsängern und Rockgrößen erarbeitete „Possibilities“ (2005) oder das ganz um das Opus Joni Mitchells kreisende „River“ (2007) – lassen nicht vermuten, dass irgend etwas unser Chamäleon wirklich kaputt machen könnte.

Die schöpferische Goldader des ewig Junggebliebenen scheint auch mit 70 noch lange nicht erschöpft.

Marcus A. Woelfle

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