70 Jahre ist es her, dass Alfred Lion (1909–1987) und Francis
Wolff (1907–1971), zwei deutsch-jüdische Emigranten, das vermutlich
berühmteste Label der Jazzgeschichte gründeten: Blue Note Records.
Nach den Glanzzeiten bis Mitte der 60er-Jahre verfiel Blue Note – mehrfach
verkauft und vernachlässigt – in den 70er-Jahren in einen
tiefen Dornröschenschlaf. Wachgeküsst wurde es schließlich
von Michael Cuscuna (geb. 1948). Mit seinen Wieder- und Neuveröffentlichungen
hatte der Jazzproduzent maßgeblichen Anteil daran, dass das Label
1984 wiederbelebt wurde. Claus Lochbihler unterhielt sich mit Michael
Cuscuna.
Jazzzeitung: Wie wurden Sie zum Hüter des Blue-Note-Archivs?
Michael Cuscuna: Ich war in den 60er- und 70er-Jahren mit vielen Musikern
befreundet, die für Blue Note aufgenommen hatten. Wann immer sie
von ihren früheren Sessions erzählten, habe ich mir Notizen
gemacht. So wusste ich, dass es jede Menge unveröffentlichter
Aufnahmen im Blue-Note-Archiv geben musste. Leider hat es dann fast
vier oder fünf Jahre gedauert, bis man mich ins Archiv gelassen
hat.
Jazzzeitung: Wie kam das?
Cuscuna: Ich traf einen Mitarbeiter des Labels, dem
ich meine Notizen gezeigt habe. Das hat ihn beeindruckt. Jedenfalls
sagte er spontan: „Jemanden
wie Sie müssen wir tatsächlich ins Archiv lassen.“
Jazzzeitung: Als Sie dort waren, wurde Ihnen
auch rasch klar, weshalb…
Cuscuna: Die Aufnahmen lagerten in einem temperierten
Lagerhaus in Kalifornien: Hunderte, nein Tausende von Bändern, die meisten davon nur schlecht
dokumentiert. Auf vielen stand nicht mehr als ein Name und ein Datum:
Jimmy Smith, 7. April 1958 – so ähnlich. Als ich mich erkundigte,
wo die weiteren Informationen – die Namen der anderen Musiker,
der Kompositionen und wer sie geschrieben hatte – zu finden waren,
hieß es: „Sorry, mehr Informationen haben wir leider nicht.“
Jazzzeitung: Ein großes Musik-Puzzle?
Cuscuna: Mir blieb nichts anderes übrig, als diese Bänder abzuspielen
und mit den Informationen abzugleichen, die ich von den Musikern gesammelt
hatte. Ich hörte mir die Aufnahmen immer und immer wieder an und
versuchte heraushören, wer darauf spielte. Wenn ich glaubte, am
Klavier einen Joe Zawinul oder am Schlagzeug Jack DeJohnette erkannt
zu haben, verglich ich das mit anderen Aufnahmen, bei denen definitiv
feststand, dass darauf Zawinul oder Jack DeJohnette zu hören waren.
Wenn ich nicht weiterkam, habe ich Ausschnitte der Aufnahmen an Musiker
weitergegeben und sie um Hilfe bei der Rekonstruktion der Besetzung gebeten.
Das war wirklich eine sehr mühselige und langsame Arbeit.
Jazzzeitung: Klingt ein wenig wie Jazz-Archäologie…
Cuscuna: Ich war so etwas wie eine Kombination aus Sherlock
Holmes und Archäologe. Nur, dass es nicht um Mörder und Gräber, sondern
um Tonbänder und Jazzaufnahmen ging. Was ich ausgrub, war manchmal
erst zehn Jahre zuvor eingespielt worden. Aber es kam mir oft vor, als
ob ich Dinge zu rekonstruieren hätte, die Hunderte von Jahren zurücklagen.
Jazzzeitung: Nach drei Jahren bekamen Sie ganz
unerwartet Hilfe aus Japan.
Cuscuna: Eines Tages hieß es, Kollegen, die Blue-Note-Aufnahmen
in Japan herausbrachten, wollten mich treffen. Sie zeigten mir ein Notizbuch,
in dem in Alfred Lions Handschrift detaillierte Informationen über
jede unveröffentlichte Blue-Note-Session zu finden waren – die
Namen der Musiker, das Datum der Aufnahme, die Stücke und wer sie
geschrieben hatte. Also genau die Informationen, die wir so mühsam
recherchierten. Keine Ahnung wie das nach Japan gelangt war! Ich bekam
eine Kopie dieser Aufzeichnungen. Danach konnten wir ganz anders veröffentlichen.
Zuvor hatten wir immer die Aufnahmenherausgebracht, von denen wir Repertoire,
Besetzung und Aufnahmedatum herausgefunden hatten. Also nicht immer die
spannendsten oder musikalisch wertvollsten Aufnahmen, sondern die, von
denen wir wussten wer darauf überhaupt zu hören war. Mit dem
Notizbuch aus Japan konnten wir uns endlich nach Qualitätsgesichtspunkten
durch das Blue-Note-Archiv arbeiten.
Jazzzeitung: Was waren für Sie die spannendsten Funde?
Cuscuna: Gleich am ersten Tag entdeckte ich Bänder, auf denen nichts
weiter stand als ein Datum. Es stimmte zufällig mit dem Termin von
Aufnahmen des Bassisten Paul Chambers mit John Coltrane überein.
Meine Hoffnung war, dass ich unveröffentlichte Aufnahmen dieser
großartigen Session gefunden hatte. Als wir die Bänder anhörten,
entpuppten sie sich als genau das! Genauso spannend war später die
Entdeckung der kompletten Trio-Aufnahmen von Sonny Rollins im Village
Vanguard. Ein unglaublich guter Konzertmitschnitt, den wir als Doppel-CD
herausgebracht haben.
Jazzzeitung: Trotz Ihrer Re-Issues ging es
mit Blue Note Ende der 70er-Jahre aber weiter bergab.
Cuscuna: Damals steckte die ganze Musikindustrie in
einer großen
Krise. Besonders bekamen das der Jazz und damit auch Blue Note zu spüren.
Bei EMI, wo Blue Note nach mehreren Verkäufen gelandet war, interessierte
sich niemand mehr für dieses großartige Label. Das sah man
schon daran, dass Blue Note seit 1978 gar keine eigenen Angestellten
mehr hatte. Es gab mich mit meinen Re-Issues, aber ich war ja nur Freelancer.
Als letzten Mohikaner hatte Blue Note zuletzt nur noch den Pianisten
Horace Silver unter Vertrag. Der lieferte 1981 sein letztes Album ab – danach
gingen die Lichter aus.
Jazzzeitung: Wie kam es dann 1984 zur Wiederbelebung
von Blue Note?
Cuscuna: Das ist vor allem Bruce Lundvall zu verdanken,
der das Label noch heute leitet. Er wurde 1984 von EMI geholt, um ein
neues Pop-Label
aufzubauen. Er sagte zu, aber nur unter der Bedingung, dass er sein Lieblingslabel
Blue Note wiederbeleben dürfe. So kam es dann. Zuerst haben wir
mit Re-Issues angefangen, nach einem Jahr entstanden auch neue Aufnahmen
mit neuen und alten Blue-Note-Künstlern.
Jazzzeitung: Mit dem Internet und dem Downloaden
von Musik erleben wir derzeit wieder einen technischen Wandel im Musikgeschäft. Sehen
Sie darin eine Chance oder überwiegen aus Ihrer Sicht die Nachteile?
Cuscuna: Schwer zu sagen. Aber für ein Jazzlabel wie Blue Note fürchte
ich eher die Risiken. Das Herunterladen von digitaler Musik stellt für
Jazzlabel und ihr Publikum eine besondere Herausforderung dar. Die meisten
Leute, die Jazz-CDs kaufen, sind zwischen 40 und 70 Jahre alt. Das sind
Leute, die Musik gerne in Kombination mit Fotografie und guten Liner
Notes genießen. Sammlertypen also, die mit einem Download nur wenig
anfangen können, weil man eine Musikdatei weder anfassen noch darin
blättern kann wie in einer schönen CD-Box. Natürlich ist
die Musik auch auf einer CD digital. Aber letztlich ist die CD immer
noch ein Tonträger. So gesehen hat sie mehr mit einer analogen Platte
gemeinsam als mit einem Musik-Download. Das komplette Interview finden Sie im Netz unter www.nmz.de/online/er-hat-blue-note-wachgekuesst-jazz-archaeologe-michael-cuscuna-im-gespraech |