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Bei mir um die Ecke wohnen an die 200 Leute, die – von wenigen Ausnahmen abgesehen – bis vor zwei Jahren zum Jazz ein ganz klares Verhältnis hatten: Wenn er ihnen beim Radiohören begegnet ist, haben sie ganz schnell den Sender gewechselt. Wenn über Jazz gesprochen wurde, sagten sie: Nix für mich. Da lagen sie falsch. Mittlerweile gehen sie mindestens zehn Mal im Jahr ins Konzert. Ins Jazzkonzert. Wie es das geben kann? Sie wurden verführt, einmal nicht nur die besten Hits der Achtziger zu hören oder gar den Musikantenstadel. Aber wie konnte das passieren? Das hat kein genialer Rundfunkmoderator geschafft. Was steckt hinter dem „Fürstenfelder Wunder“? Sind die Bewohner dieser Kleinstadt im Westen von München anders als im Rest der Republik? Keineswegs. Die überraschende Entwicklung ist reproduzierbar. Sie hat sich nur 15 Kilometer entfernt ein weiteres Mal ereignet, dank einer seltsamen Kraft, die der Jazz offenbar hat: Er kann auch Leute mittleren bis gehobenen Alters anstecken, die eigentlich keine Fans waren. Wenn – und im Großen und Ganzen NUR dann, wenn – sie ihm live begegnen. Bleibt die Frage: Warum sollten sie das tun? Sie fürchten ja, dass es dabei am Ende gar um „Free Jazz“ geht. Und mit dem wollen sie nun wirklich nichts zu tun haben. Hier kommen wir zum rätselhaftesten Phänomen des „Fürstenfeldbruck/Germeringer Wunders“. Die Betroffenen haben nämlich ein Abo gebucht. Fünf Jazzkonzerte pro Halbjahr, fast jeden Monat eines. Aus eventuell höchst profanen Gründen. Man hat ihnen diese Konzerte zum Schnäppchenpreis verkauft: fünf zum Preis von knapp drei. Vorher hatte der Veranstalter auch schon Jazz in der Provinz angeboten. Zu Ali Haurand oder Gianluigi Trovesi kleckerten gerade mal 40 Leute. Beinahe wäre das Experiment wieder eingestellt worden. Aber dann kam das Abo. Es wurde – warum, ist im Einzelnen schwer zu klären – gut verkauft. Und als die Abonnenten sich die Musik, zu der die meisten gekommen waren wie die Jungfrau zum Kind, nicht ohne eine gewisse Skepsis anhörten, da ist es passiert. Sie haben ihn lieb gewonnen, den einstigen Intimfeind unter den Musikstilen. Seitdem spielen Musiker wie Michael Wollny und sein Duopartner Heinz Sauer, die vorher in München dass Pech hatten, vor deutlich weniger als hundert Zuhörern aufzutreten, vor regelmäßig bis zu 300 Fürstenfeldbruckern. Derzeit gut 250 Abos, das bedeutet große Freiheit für die Programmgestaltung. Die Abonnenten vertrauen der Reihe „jazz first“. Sie kommen nicht in erster Linie, weil sie die einzelnen Bands oder Musiker kennen. Manchmal erschrecken sie anfangs, gehen aber nach der Pause nicht heim, sondern erklatschen sich zwei, drei Zugaben. Eine gewisse Rolle, das sei nicht verschwiegen, spielen dabei außermusikalische Sympathiewerte. Selbst schuld, wer sich stumm ans Klavier setzt statt zu reden mit seinen zahlenden Gästen. Wenn die Musiker aber auf der Bühne erkennbar Spaß haben, findet ihr ungewöhnliches Publikum darüber Zugang auch zu schwieriger Musik. Eigentlich sollten Veranstalter aus ganz Deutschland in den Süden reisen, um das „Fürstenfeldbrucker Wunder“ zu studieren. Immerhin widerlegt es ihre oft resignativ vorgetragene Überzeugung, dass man ohne große Namen keine Leute ins Konzert kriegt. Ins Jazzkonzert schon gleich gar nicht, und auf dem Land kannst du’s gleich vergessen. Sie irren. Jazz ist (fast) unwiderstehlich. Wenn man den richtigen Trick findet, ihn auch Nichtfans live vorzusetzen. Kostenlos zum Beispiel, als Einstiegsdroge. Für Deutschlands Kulturförderung tut sich da ein weites Feld auf. Klaus von Seckendorff |
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