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In der Zwischenkriegszeit konnten sich selbst die erbittertsten Kontrahenten über eins verständigen: dass man bis zum Äußersten gehen muss, wenn man die Wahrheit über eine Sache erfahren will; dass also die Erkenntnis eine Sache der Extreme ist; und dass als Resultat der Radikalisierung das, was ganz verschieden scheint, merkwürdig zu schillern beginnt. Oder wie es auch so schön heißt: Die Extreme berühren sich. Souverän ist, wer den Ausnahmezustand beherrscht, hieß es bei Carl Schmitt, dem düsteren Kronjuristen Hitlers. Die leninistischen Avantgarden und ihre Vordenker stimmten dem zu. Selbst ein subtiler Welt- und Selbst-Dechiffrierer wie Walter Benjamin zeigte sich fasziniert. Der Extremismus, die Lust an der Radikalisierung ist uraltes Kulturgut: Schon in der Bibel heißt es ja, dass die „Lauen“, also die Mittleren, Vermittelnden, die sich partout nicht entscheiden wollen oder können, „ausgespien“ werden. Radikalität ist keine Sache der Ränder. Sie ist ur-bürgerlich. Thomas Mann, der wieder in aller Munde ist, weil sich sein 50. Todestag jährt, ist dafür ein hervorragendes Beispiel. Zwar beschwor er schon früh, im „Tonio Kröger“, die „Wonnen der Gewöhnlichkeit“, aber letztlich doch nur, um das Verführerische der Kunst, das mit dem Gefährdenden zusammenfällt, so recht zu akzentuieren. Zwar wollte er stets Repräsentant sein und nicht Märtyrer, also die Stimme und Figur, in der sich alle wiedererkennen, und nicht der von allen und allem ausgeschlossene „poète maudit“, aber als Autor wusste er mit untrüglichem Instinkt, dass die Kunst „dämonisch“ ist oder gar nicht. Nirgends sprach er das so deutlich aus wie im „Doktor Faustus“, diesem Schicksalsroman der deutschen Seele, in dem er das Katastrophische und Verbrecherische der deutschen Politik mit dem Faible für die Faust-Figur, mit der ästhetisch-existenziellen Bereitschaft zum Teufelspakt zusammendachte. Weil sich aber „Dämonie“ in einem Roman nicht direkt darstellen lässt, wählt Thomas Mann den Umweg über den bürgerlichen Berichterstatter Serenus Zeitblom, der nicht nur für die nötige poetische Distanz sorgt, sondern auch der Stellvertreter des irritierten Publikums in der zunehmenden Maßlosigkeit des Text-Geschehens ist. Was das mit Jazz oder auch nur allgemeiner mit Musik zu tun hat? Alles! Denn nicht zufällig ist ja der moderne „Faust“ in Manns Roman Musiker. Und Musik erscheint als die dubiose und diabolische Macht, die aus allen festen Verhältnissen herausreißt und erfahrbar, „hörbar“ macht, was einem sonst verschlossen bleibt. Der Komponist Adrian Leverkühn teilt nicht nur die wesentlichen Schicksalsdaten seines Lebens mit Nietzsche, sondern sieht auch wie dieser in der Musik die bacchantische, dionysische Macht, die alle festen Gestaltungen – des Geistes wie des Lebens – auflöst und die Begriffe, wie es schon in Hegels „Phänomenologie“ hieß, tanzen und taumeln lässt. Der Musiker ist so nah am Leben und am Tod wie niemand sonst; er ist vital und letal; er ist erotoman und thanatophil. Weil sich aber die Extreme berühren, galt schon seit den alten Griechen die Musik als Disziplin der Mathematik, als Kunst der großen Ordnungen. Auch Leverkühn ist einer, der dem Furor des verschwindenden, sich auflösenden Subjekts mit strukturellem Ernst begegnet, der noch in der Ekstase seine Exerzitien betreibt. Man hat schon viel darüber geschrieben und geredet, dass die neue Kunst der Komposition, die Leverkühn nach seinem Teufelspakt (er)findet, bis zur Ununterscheidbarkeit der Zwölftonmusik Arnold Schönbergs gleicht; auch darüber, dass die langen musiktheoretischen Ausführungen im „Doktor Faustus“ in Wahrheit von Theodor W. Adorno, dem Philosophen der neuen Musik, stammen, den viele für den Ko-Autor dieses Romans halten. Was weniger diskutiert wurde und was bei einem Verächter wie Adorno auch verwundern muss, ist die Jazz-Nähe dieses Romans, die Relevanz der Erörterungen für die Entwicklung und die Theorie der improvisierten Musik. Die Extreme berühren sich. Das zeigt sich sehr schön, wenn Wendell Kretschmar, der Kompositionslehrer Leverkühns, über Beethovens letzte Klaviersonate, das legendäre op. 111, spricht. Was er zeigen will: wie in dieser nur zweisätzigen Sonate das, was ursprünglich Rest und Refugium der Subjektivität im klassischen Korsett war, also eine Insel der Improvisation im thematischen Meer, wuchert und sich ausbreitet, wie scheinbar, wenn man die paradoxe Umkehrung der Meeres-Metaphorik zulässt, sich das Feste zunehmend auflöst, weil sich das Subjekt das Recht der ausufernden Variation nimmt, wie aber genau in diesem Durchspielen der schon verloren geglaubte Materialcharakter der Töne, des Klangs wiederentdeckt wird und wie also aus dem, was das Freieste schien, Beliebigkeit der variierenden Improvisation, der kristallene Kern der neuen seriellen Ordnung wird. Was hier an Beethovens spätem op. 111 sich zeigt, was Thomas Mann Leverkühn tun lässt und was Adorno avantgardistisch ausdeutet, das ist auch das, was die Geschichte des Jazz kennzeichnet: Während Dixieland oder Swing in der puren Exekution der jeweiligen Genre-Gesetzmäßigkeiten relativ beliebig erscheinen, wird der Jazz seit der Bebop-Ära umso strenger, je freier er wird. Wenn überhaupt etwas den Free Jazz unhörbar machte, dann sicher nicht subjektive Beliebigkeit, sondern das Klirren der Struktur in der rückhaltlosen Materialerkundung. Leverkühns Schicksal teilten übrigens auch viele der Protagonisten dieser Ära: der Teufelspakt hörte wie bei Thomas Manns „Tonsetzer“ auf die Namen Erotomanie und Süchtigkeit. Der Musiker musste, wenn er produktiv sein wollte, sich aussetzen, bis er zerbrach. Seine Kunst erklang nur am Abgrund. Und das bürgerliche Publikum genoss nicht nur die Kunst, die so entstand, sondern auch das Künstlerklischee, das der Wahrheit so nahe kommt. Die Extreme berühren sich. Helmut Hein |
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