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Kein Reinheitsgebot für den Jazz hatte Peter Schulze versprochen, als er im Sommer 2003 das Programm für das erste Jazzfest Berlin unter seiner Leitung vorstellte. Trotz dieser Vorwarnung waren Teile der Berliner Tagespresse offensichtlich ratlos. Das gipfelte in so schönen Überschriften wie „Ein Desaster: die Eröffnung des Berliner Jazzfestes 2003“ und tags darauf „Nicht mehr ganz so schlimm: der zweite Tag des Jazzfestes“. Was war geschehen? Wie von Schulze und seinem Ko-Kurator Jun Miyake angekündigt – und wie vom Publikum erwartet, denn es strömte in Scharen – ließen Abend für Abend Musiker und Ensembles den engeren Begriff des Jazz weit hinter sich. Im Vordergrund standen unterhaltsame Jazz-Spielarten europäisch-folkloristischer Prägung und japanisch-exotischen Zuschnitts. Von knapp 30 Ensembles waren gerade noch acht aus dem gelobten Land des Jazz, den USA. Während der Franzose Louis Sclavis mit einer fulminanten Neuauflage seiner folklore imaginaire bestach (sein neuer Sänger, Keyboarder und Trompeter, Médéric Collignon, ist eine Entdeckung!), konnte man am Tag eins des Festivals mittels der chansons imaginaire von Miharu Koshi (auf unserem Bild eingerahmt von zwei Tänzerinnen) einen Blick durch die japanische Brille aufs Alte Europa und das französische Chanson werfen. Ein Eröffnungsabend als Varietenummer also. Ohne Avancen an den Zeitgeist vertrat am zweiten Abend David „Fathead“ Newman und sein Quintett die Tradition im Festivalprogramm. Jazz alter Schule wurde da von einem siebzigjährigen Saxophonisten geboten, mit einem warmen Ton und einer Spielkultur, wie sie vielen Jungstars abgeht. Eine antike Hammond B-3, die zunächst als scheinbar nutzloses Requisit auf der Festspielhausbühne stand, entpuppte sich später als „Arbeitsplatz“ für Dr. Lonnie Smith, den Special Guest des Abends. Der Doktor war sozusagen schon im Haus, da er im Rahmen des Jazzfestes den Samstagabend im Quasimodo gestaltete, gemeinsam mit dem legendären Altsaxophonisten Hank Crawford, der auch nach seinem Schlaganfall vor zwei Jahren seinen einzigartigen Ton nicht verloren hat. Dass der Ton die Musik macht, bewies Dr. Smith dann mit launigen Einführungen in die Jazzgeschichte samt Hörbeispielen an seiner Hammond Orgel. Mit wenigen Anschlägen führte er den Beweis, dass akrobatisches Outside-Spiel zu nichts führt, wenn die Musik nicht „vom Herzen“ kommt. Wie recht er damit hatte, war am selben Abend im Haus der Berliner Festspiele zu hören gewesen. Ballin’ the Jack ist eine angesagte Kultband aus der New Yorker Knitting Factory. Mit viel Drive und Virtuosität belebt sie das Two Beat Spiel und den Swing eines Benny Goodman oder des frühen Duke Ellington. Doch bei aller zeitgenössischen Rasanz, die Vorstellung ließ genau das vermissen, was Dr. Smith als unabdingbar gefordert hatte: das nötige Quantum Soul eben. Interessanterweise kamen die jüngeren Zuhörer nicht zu DJ Spooky oder noJazz in den Tränenpalast, sondern ins Konzert des Klarinettisten und Literaten Gilad Atzmon, der mit seiner israelisch-palästinensischen Musikmelange, gespickt mit Agit-Prop gegen die Bush-Blair-Sharon-Achse („die Achse des Bösen“, O-Ton Atzmon), aber auch mit launigen Anmoderationen fesseln konnte. Höhepunkt des Jazzfestes war ein Nachmittagskonzert im Konzertsaal der UDK Berlin. Dem Duo Hans Reichel (Daxophon) und Rüdiger Carl (Klarinette, Akkordeon) gelang es mit wienerischem Charme und der Produktion von tatsächlich „unerhörten“ Klängen, den voll besetzten Konzertsaal der UDK, in dem sicher schon manches Routinerepertoire erklungen ist, zu überraschen und zu faszinieren. Im Anschluss: die Verleihung des Deutschen Jazzpreises der Union Deutscher Jazzmusiker (UDJ) und der GEMA Stiftung an Ulrike Haage. Sie ist die erste Frau, die den von der GEMA-Stiftung mit 10.000 Euro ausgestatteten Albert Mangelsdorff Preis (Deutscher Jazzpreis) entgegennimmt – und die jüngste Preisträgerin dazu. Bisherige Preisträger waren Alexander von Schlippenbach (1994), Peter Kowald (1996), Ernst Ludwig Petrowsky (1997), Heinz Sauer (1999) und Wolfgang Schlüter (2001). Ulrike Haage ist in der Vergangenheit weniger als virtuose Jazzpianistin, sondern als Grenzgängerin der Musik hervorgetreten. Sie war Mitbegründerin der legendären Frauenbigband „Reichlich weiblich“ und Keyboarderin der Popgruppe Rainbirds. Ihr Talent und ihre Experimentierfreude als Improvisatorin und Komponistin stellte sie unter anderem in der Zusammenarbeit mit Alfred Harth, FM Einheit oder Phil Minton unter Beweis. Den Abschluss dieses Konzertnachmittags, der in seiner kammermusikalischen Art ein Einzelstück blieb, machten Akkordeonspieler Guy Klucevsek und Saxophonist Phillip Johnston. Das Duo spann feine Fäden zwischen improvisierter und ernster Musik. Es war ein Vergnügen, zwei Musiker zu hören, die – das ist selten genug – von beidem Ahnung hatten. Andreas Kolb |
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