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Der Franz Schubert unserer Zeit, Ralph Maria Siegel, weist immer mal wieder vor Gericht darauf hin, dass die Musik halt nur zwölf Töne habe. Damit versucht er zu erklären, warum seine Lieder immer gleich klingen oder genau wie die der Konkurrenten. Das ist ja die wahre Macht der Musik: Sie bringt Saiten zum Klingen, die in unserer Seele schon aufgespannt sind. Stellen Sie sich vor, jedes Stück müsste sich ganz neue Töne erfinden und erinnerte an nichts, das Sie schon kennen. Was würden Sie damit anfangen? Nicht umsonst brechen die Altjazzer im Jazzclub jedes Mal in alkoholisierten Jubel aus, wenn einer mitten im dritten Chorus aus „Body And Soul“ oder „Blue Monk“ zitiert. Da ist Heimat, Erinnerung, Jugend, Jazzgeschichte, Wurzelwerk, Nähkästchen. Es gibt sogar Witzbolde, die hangeln sich in ihren Soli nur von Zitat zu Zitat wie in einer Clownsnummer. Oder wenn so ein Jung-Saxophonist frisch dogmatisiert und Berklee-gestählt ins Rampenlicht vordringt, dann reiht er gerne Modellphrase an Modellphrase. Schließlich hat er eben erst gelernt, welche Licks wohin passen, welche Sequenzen wann gut klingen und wie man in einem Dominantseptakkord am besten einen Blues-Skalenlauf platziert. Jetzt sagen Sie mal: Kann es überhaupt eine Phrase geben, die noch nie gespielt wurde? Ist Jazz nicht längst wie eine Art Dominospiel mit 1.000 Steinen, die man nur in irgendeine Reihenfolge bringen muss, die sich mit den Akkordtönen verträgt? Ich sehe schon: Sie sind empört. Das Buchstaben-Alphabet, sagen Sie auftrumpfend, ist ja auch nur ein sehr beschränkter Vorrat und es entstehen dennoch aus den immer gleichen Wörtern Jahr für Jahr Roman um Roman. Richtig. Aber ist es da nicht ähnlich? Bewährte Buchstaben-Licks wie „Ihre Augen versprachen so viel“ oder „Sie hatte das schönste Lächeln der Welt“ empfinden wir ja auch nicht gerade als künstlerisch originell. Phrasen eben. Modellphrasen. Rainer Wein
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