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Um das populäre Lied im 20. Jahrhundert ging es in der Reihe „Century of Song“, mit der die RuhrTriennale ganz exklusives Terrain besetzte. Die Künstler, die in der Bochumer Jahrhunderthalle, in der Gladbecker Maschinenhalle Zweckel oder im Landschaftspark Duisburg-Nord auftraten, beschritten Neuland. Sie waren entweder noch nie gemeinsam aufgetreten oder allenfalls in einem anderen Kontext; Stars ihrer jeweiligen Szene spielten, sangen nicht ihr gängiges Tournee- oder CD-Repertoire, sondern gestalteten den Abend frei von Marketing- und Image-Zwängen. Corinna Curschellas etwa, die bekannteste Jazz-Sängerin der Schweiz, wagte erstmals einen Abstecher in den „ernsten“ Bereich und sang, von Peter Waters am Piano begleitet, Literatur-Vertonungen von Otmar Schoeck ohne jede jazzmäßige Verfremdung, geradezu klassisch in der Intonation. Und Joachim Kühn, einer der führenden europäischen Jazz-Pianisten, wird gewiss nie wieder auf Roy Blacks Schmuse-Nummer „Ganz in Weiß“ als Improvisationsmaterial zurückgreifen.
Um das gewaltige Spektrum des populären Liedes abzudecken, hatte Triennale-Chefdramaturg Thomas Wördehoff den Zyklus in ein europäisches und ein amerikanischen Programm gegliedert. Die Amerika-Schiene wurde von dem Gitarristen Bill Frisell betreut, der immer auch mitspielte. Zum Auftakt hatte er sich seinen Landsmann Marc Ribot und den brasilianischen Gitarristen/Liedermacher Vinicius Cantuária geholt. Auf dem Programm standen neben Stücken von Cantuária vor allem Titel aus dem Great American Songbook. Wie die drei so unterschiedlichen Gitarristen-Charaktere (der elegante, zurückhaltende Frisell mit seinem fein perlenden Spiel, der an Carlos Jobim geschulte Cantuária, der dem Jazz-Rock/Punk und freien Spiel zugeneigte Ribot) zusammenfanden, das hatte nichts von einer musealen Aufbereitung der Geschichte der Popularmusik. Da zeigte sich, dass Gültigkeit und Lebendigkeit eines Songs nicht von ohnehin schwer fasslichen Qualitäts- und Wert-Merkmalen abhängen; dass ein Lied und die Liebe zu diesem vielmehr mit persönlichem Empfinden, mit subjektiver Erinnerung zu tun haben. Dann steht Ellingtons „Caravan“ in schönster Harmonie neben „Tired of Waiting“ von den Kinks, Jimi Hendrix’ „The Wind Cries Mary“ oder einem Soul-Titel von Wilson Pickett. Im zweiten Konzert flirtete der Jazzer Frisell mit der Country-Music, von der – beziehungsweise vom Folk in seiner zeitgenössischen urbanen Ausprägung – die Singer/Songwriterin Suzanne Vega so weit nicht entfernt ist. Auch hier eine Uraufführung ohne Chance auf Wiederaufnahme. Weil Vega und Frisell erst- und einmalig zusammentrafen; und weil Suzanne Vega, die hier ihren einzigen Deutschland-Auftritt absolvierte, mit ihrer ausdrucksstarken Stimme auch solchen Liedern (von Dylan, The Who, Elvis Costello) Seele einhauchte, die eben nicht zu ihrem Repertoire gehören. Von gleicher Qualität war auch Frisells Schulterschluss mit zwei großen Vertretern der amerikanischen Liedermacher-Szene: mit Loudon Wainwright III. und mit Van Dyke Parks, der unter anderem („Orange Crate Art“) an seine Zusammenarbeit mit Brian Wilson erinnerte. Der Chef des Vienna Art Orchestra, Mathias Rüegg, hatte als Moderator dieser Schiene eine andere Struktur gegeben. Schon allein wegen der Sprachgrenzen gibt es die Gattung Europäischer Popsong nicht. So stellte Rüegg wohl auf Kurt Weill und auf zwei herausragende Liedermacher – Michel Legrand und Jacques Brel – ab; doch sonst rückte er Länder, Regionen und Metropolen ins Blickfeld: Deutschland, Italien, den Alpenraum... Deren Liedmaterial wurde von jeweils elf oder zwölf Künstlern/Ensembles in sechs- bis fünfzehnminütigen Kurzauftritten interpretiert. Entscheidend war auch hier der persönliche, der unerwartete Zugriff, durch den die leidige Trennung zwischen ernster und unterhaltender Musik eindrucksvoll aufgebrochen wurde. So erwies sich das „Mack the Knife“ übertitelte Weill-Projekt, das auch weniger bekannte Seiten des Komponisten aufzeigte (etwa mit französischen Autoren geschaffene Chansons wie „J’attend un navire“ oder „Le roi d’aquitain“), als reiner, stilistisch breit gefächerter Jazz-Abend, bei dem das Duo Christof Lauer (Saxophon) und Jens Thomas (Piano) und das Trio des französischen Avantgarde-Akkordeonisten Jean-Louis Matinier ganz besondere Akzente setzten. Gerade bei Matinier zeigten sich deutlich die im Laufe der Konzerte veränderten Hörerwartungen des Publikums. Hatte man zum „Century of Song“-Start unter dem Titel „Ganz in Weiß“ noch jene Künstler am meisten gefeiert, die – wie Max Raabe – zum deutschen Schlager-Original die größte Nähe bewahrten, so wurden schließlich durchweg jene umjubelt, die sich am weitesten von der Vorlage entfernten. Beim Abend „Rund um den Zentralfriedhof“, der die dekadent-geniale Welt des Wiener Liedes erkundete, war das Otto Lechner. Wie der blinde Akkordeonist, dieweil seine Irrwisch-Finger über die Tastatur huschten, die „Weana“ Lieder sang, über das Fiakerlied unversehens zum Khoomi-Kehlkopf- und Oberton-Gesang mongolischer Tuva-Nomaden fand, das war atemberaubend. Und machte vergessen, dass sein Duo-Partner eigentlich der Star des Abends hätte sein sollen: Joe Zawinul an Korg und Fender Rhodes. Auch beim Projekt „Höhenfeuer“ wurden gerade jene mit Ovationen bedacht, die dem Ideal alpenländischen Musizierens am wenigstens entsprachen: der in Wuppertal lebende Russe Arkadij Shilkloper etwa, der das Alphorn mit beispielloser Virtuosität für den modernen, improvisierten Jazz gewonnen hat und dieses „typische“ Alpeninstrument fast so spielt wie einst Dizzy Gillespie Trompete. Der Triennale-Anspruch der Exklusivität auf hohem Niveau wurde auch beim europäischen Teil erfüllt: So viele grundverschiedene Sichten auf eine fest umrissene musikalische Welt wurden selten geboten. Doch die Europa-Konzerte offenbarten zugleich eine Schwäche. Wo, im Gegensatz zu den homogenen Projekten von Frisell, das Disparate Programm war, fiel es manchmal schwer, bis zu vier Stunden lang die Spannung aufrecht zu erhalten. Dessen ungeachtet hat sich „Century of Song“ in kurzer Zeit zu einem bis ins benachbarte Ausland wirkenden Publikumsmagneten entwickelt. Im nächsten Jahr wird die Reihe fortgesetzt – unter stärkerer Einbeziehung von Bill Frisell. Und auch Gerard Mortiers designierter Nachfolger als Triennale-Intendant, Jürgen Flimm, hat bereits erklärt, die Reihe später unter seiner Leitung fortsetzen zu wollen. Wolfgang Platzeck |
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