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Da kann einem schon mal schwindelig werden. Draußen demonstrieren 100.000 Menschen gegen den Sozialabbau der rotgrünen Regierung, drinnen demonstrieren Männer und Frauen in Kostümen und Pelzmänteln ihre Gleichgültigkeit. Mitten im Stilwerk, der letzten Westberliner Hochburg des hemmungslos zur Schau getragenen Wohlstands, treffen in der aufgewühlten und gespaltenen Atmosphäre eines denkwürdigen Wochenendes 500 Jazzmusiker aus allen Stadtteilen zusammen, um mit Holz und Blech die Glasfassade zum Wackeln zu bringen. Auf drei wunderschönen Bühnen und im Rahmen von insgesamt 50 Konzerten führt die Landesmusikakademie Berlin gemeinsam mit dem Landesmusikrat und den städtischen Musikschulen vor, dass der Jazz auch im Jahr 2003 wieder einmal mitten drin (und doch außen vor) ist.
Der 18. Berliner Jazztreff hat den Sprung zurück ins Rampenlicht mit Bravour vollzogen. Im Stilwerk trägt die Großveranstaltung erstmals das Gütesiegel, das Veranstaltungen unter der Regie der Landesmusikakademie (Leitung: Joachim Litty und Antje Valentin) seit Jahren auszeichnet. Ablaufgeschwindigkeit und Soundqualität bereiten den Musikern große Freude und könnten besser nicht funktionieren. Für die Besucher ist das Stilwerk ein Allround-Erlebnis. Insbesondere die Reise zu den verschiedenen Veranstaltungsebenen mit gläsernen Aufzügen, die begrünte Dachterrasse mit Blick auf die Altberliner Silhouette im Abendrot und die fantastische, farbenfrohe Beleuchtung im Forum puschen die Stimmung. Nur wer ganz genau hinschaut, nimmt war, dass hier Welten aufeinander prallen. Jazzmusiker und Musiklehrer sind von den neuen Koalitionsgesetzen mehr berührt als von Luxusgütern in den Auslagen von Mall-Boutiquen. Was also motiviert die Aktiven, insbesondere junge Musiker, sich in einer doppelwandigen Gesellschaft zwischen Wehklagen und Materialismus für den Jazz zu engagieren? Es sind die Dinge, die man für Geld nicht kaufen kann. „Jazz ist einfach anders“, erklärt Ella (15) und Mona (16) findet, dass „das Gute am Jazz ist, dass man rausgeht, es live hört, dass man aktiv wird und sich nicht vorm Fernseher langweilt.“ Matthias (20) ist dabei, „alle Musikrichtungen durchzuprobieren“, weil er gerne Musik macht. „Ich habe mit Jazz angefangen und möchte später auch mal Klassik machen.“ Johann (21) zitiert Miles Davis: „Jazz ist kontrollierte Freiheit, das spielt auf mehreren Ebenen, das finde ich als junger Mensch besonders gut.“ Unabhängig vom Alter der Befragten wird Jazzmusik stets für Gemeinschaftserfahrungen und starke Gefühlserlebnisse gelobt. Dominika (12), Ada und Antje (beide 15) mögen das Improvisierte, sie haben vorher Klassik gespielt, das war ihnen zu streng und „zu langweilig“. Sie finden, dass man Jazz mehr in der Gegenwart wiederfindet als Klassik. Kemam und Marian (beide 15) reizt darüber hinaus die Möglichkeit von Auftritten und die damit verbundenen Ausflüge mit Freunden. Dass diese Erlebnischancen auch in der Zukunft gewährleistet sein werden, dafür bürgen die zahlreichen anwesenden Orchesterleiter aus Gymnasien, Musik- und Volkshochschulen mit ihrer erfolgreichen Arbeit. Beim Blick auf die eigene Ausstattung mag mancher von ihnen wehmütig über die aufgereihten Nobelinstrumente des Bechsteinsaals zu den Demonstrationszügen vor der Tür geschielt haben. Al Weckert |
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