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Ray Charles: Genius + Soul = Jazz (2-CD Expanded Version) Halt! Wenn Sie das bekannte Coverbild sehen, laufen Sie Gefahr, diese Rezension zu überlesen: Danke, hab ich schon? Nein, diese Doppel-CD umfasst nicht nur die zweite Scheibe des Labels Impulse, „Genius + Soul = Jazz“ aus dem Jahr 1960, in einer exzellent digitalisierten Fassung, sondern auch Charles’ weit weniger bekannte jazzbetonten Bigband-Alben „My Kind Of Jazz“, „Jazz Number II“ und „My Kind Of Jaz Part 3“ aus den 70ern. Erstere ist freilich ein Meilenstein: Das Count-Basie-Orchester, dessen Leader hier vom blinden Genius des Soul ersetzt wird, allerdings nicht am Klavier, sondern durch Hammond-Orgel und vereinzeltem Gesang, bietet von Quincy Jones und Ralph Burns arrangierte und in der von den Basieiten (erwähnt seien F. Foster, C. Terry und der zu wenig bekannte Philip Guilbeau) gewohnten Präzision und Verve gebotene Bigband-Sounds, darunter eine legendäre Fassung von „Moanin“. Dieses Album war freilich eine unerhörte Niveauvorgabe für souligen Bigband-Jazz der 60er. Die von 1970 bis 1975 mit inzwischen eigenen aufgenommen Alben, erweitern den Radius noch deutlich, obgleich sie Charles’ Orchester typisches Repertoire bieten: drei Walzer, Einiges mit brasilianischer Rhythmik und Atmosphäre, soulige Standards von Silver, Timmons, Golson und Morgan, Stücke von T. Edwards und Ch. Mariano, aber auch Originals von Charles bilden die äußerst abwechslungsreiche Spielwiese für Solisten (darunter der 2009 verstorbene Baritonist Leroy Cooper) und den Genius. Jimmy Giuffre Mit seiner sanft und sachte angepusteten Klarinette entfaltet Giuffre ein Bluesgefühl, das desto stärker wirkte, je cooler er blies. Bei ihm waren selbst Tenor und Bariton Flüsterhörner, doch tänzelnd und beseelend setzten sie beim Hörer innere und äußere Bewegung in Gang. Folkloristische Elemente und innovativer Cool Jazz gingen in der friedlichen und doch so packenden Kammermusik seines Trios Hand in Hand. Hier reifte Jim Halls Konzeption Begleitung als Dialog anzulegen. Der „wie ein Horn“ improvisierende Gitarrist war Pianist und Bläser in einem. Als der Bassist des Trios, der auf der ersten Hälfte des Albums zu hörende Ralph Pena, vom Ventilposaunisten Bob Brookmeyer abgelöst wurde, „ersetzte“ Hall auch noch den Bassisten. Auch hier (vergleiche Ray-Charles-Rezension) sieht man auf den ersten Blick oft nicht an, welche zusätzlichen Schätze das Album enthält. Das Titelbild dieser CD ähnelt täuschend jenem der Veröffentlichung des legendären Atlantic-Albums „The Jimmy Giuffre 3“. So kommt man nicht auf die Idee, zugleich das Bonus-Album „Trav’lin Light“ zu erstehen, das 1958 bereits mit Brookmeyer entstand. Das ist die Gruppe, die im berühmten „Jazz an einen Sommerabend“ den Ohrwurm „The Train and the River“ einer glücklichen Menge zu Newport zum Ohrenschmaus mache, der auf diesem übrigens in seiner Urgestalt in der anderen Besetzung von 1956 zu hören ist. Dieser feine „Folk Jazz“ wirkt tatsächlich an einem heißen Sommerabend wie erfrischender Balsam. Sal Nistico & Tony Scott Zwei amerikanische Bläser italienischen Geblüts, die leider nicht mehr unter uns sind. Beide bereicherten in der zweiten Hälfte ihrer Laufbahn vor allem die europäische Szene: Tony Scott, der ältere, lebte nach Jahren, die ihn als Wanderer zwischen den Kontinenten gesehen hatten, im Lande seiner Vorfahren, wo er als lebende Legende verehrt wurde. Sal Nistico wirkte von der Schweiz aus, wo er eine Generation jüngerer Bläser prägte. Sie musizieren hier nicht gemeinsam, doch wurden beide 1977 live mit dem vorzüglichen Trio von Klaus Koenig (p), Peter Frei (b) und Peter Schmidlin (d) aufgenommen, das regelmäßig für den Schweizer Rundfunk Gast-Solisten begleitete. So kannte man Nistico, der in Amerika vor allem als Bigband-Bläser (Herman, Basie) erinnert wird, in unseren Breiten: als Improvisator ausgedehnter hotter, aber keineswegs lauter Soli, die in ihrem gescheiten Aufbau voller faszinierender Details stecken, wie hier in „Grooving Sal“, einem Lehrstück über die „Cherokee“-Changes. Sein Spiel ist Gold für den aufmerksam die lines behorchenden Fachler, während Scott mit der direkten emotionalen Ansprache seines Sounds wohl auch Nicht-Jazzer erreicht. An jenem Abend erinnerte er mit allen erdenklichen Mitteln (Klarinette, Tenor, Klavier, Gesang) an Stationen seiner Karriere, vor allem, à la Frog, an sein kurzes Intermezzo bei Ellington sowie an seine Zusammenarbeit mit Billie Holiday, der er hier mit einem intensiven „Loverman“ und seinem anrührenden „Lady Day“ huldigt. Django’s Spirit Das Django-Jahr hat uns eine Menge Veröffentlichungen mit Musik des genialen Manouche oder seiner musikalischen Geistesverwandten und Nachfolger beschert. Diese ist eine der interessantesten und kuriosesten. Es wäre ja auch ein Wunder gewesen, wenn der Beitrag des Labels Trikont konventionell ausgefallen wäre. Mit Steelgitarre gespielt klingt Djangos Musik ganz hawaiianisch; mit elektronischen Beats von DJs gesampelt findet sie auf heutige Tanzböden. Nicht nur direktere musikalische Erben wie Dotschy Reinhardt oder Titi Winterstein fühlen sich ihm nahe, auch japanische Chanson-Sängerinnen oder Rapper. Von Coco Schumann bis zum seltenen Dokument der Mano Rena, einer Gitarristin, die noch in den 40er-Jahren mit Django gespielt hat, vom hochvirtuosen Bireli Lagrène zum eher amateurhaften Zydeco-Sound von Les Frères Souchet spannt sich der Bogen dieser Anthologie, von den 30er Jahren bis heute. Susie Reinhardt hat sie sehr interessant zusammengestellt und ausführlich kommentiert. Trotz kleinerer Irrtümer – „Dinah“ ist zum Beispiel kein Song von Armstrong – ist ihr Text eine lesenswerte Einführung. Für den, der gewohnt ist, Django Reinhardt aus reiner Jazz-Perspektive zu betrachten, mag es erfrischend sein, seine Wirkung auch auf anderen, vermeintlich fernen Baustellen zur Kenntnis zu nehmen, auch wenn ihm das eine oder andere Stück weniger zusagt. Django Reinhardt gehörte ohnehin nie nur zum Jazz. Man blickt jenseits des Tellerrandes und freut sich, es getan zu haben. Ray Anderson Der Titel erinnert etwas an das legendäre Gil-Evans-Album „New Bottle Old Wine“ (siehe JZ 3/10). Auch hier gibt es Standards, die man so noch nicht gehört hat – nur, dass die Flaschen bei Evans die Arrangements, bei Anderson die Songs symbolisieren. Man hat ein etwas komisches Gefühl dabei, dieses Album unter der Rubrik „Neues von gestern“ zu besprechen, so sehr empfindet Ray Anderson (trotz der nur wenigen Alben als Leader in letzter Zeit) als Teil der heutigen Jazz-Szene. Und doch ist dieses Album nun ein Vierteljahrhundert alt. Aber war es nicht erst gestern, dass wir mit offenem Mund staunend vor der Stereoanlage gesessen sind? Ray Anderson war zwar schon ein Jahrzehnt geschätzter Avantgardist, aber wenn man eher Bop- und Mainstream-Hörer war, kannte man ihn nicht so recht. Und dann erschien 1985 dieses Album des vielleicht unverkrampftesten, unverklemmtesten Posaunisten seit Jahren, der eine Myriade von Sounds auf seiner Palette hatte, der die vitale Expressivität der alten New-Orleans-Posaunisten und die stupende Technik der besten modernen Posaunisten geerbt hatte, mit der er aber nicht antrainierte Bop-Licks abspulte, sondern in außergewöhnlicher Ausgeschlafenheit die witzigsten und wildesten Chorusse bastelte, und dies proppesauber, aber mit einem Reichtum an urtümlichen posaunistischen Stilmitteln. Dazu begleitete die Rhythmusgruppe aus Kenny Barron (b), Cecil (b) und Dannie Richmond (dr) wie ein As. Noch heute höre ich mit offener Kinnlade zu! Marcus A. Woelfle |
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