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Jazzzeitung
2010/04 ::: seite 15
rezensionen
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Ray Charles: Genius + Soul = Jazz (2-CD Expanded Version)
Concord
Halt! Wenn Sie das bekannte Coverbild sehen, laufen Sie Gefahr, diese
Rezension zu überlesen: Danke, hab ich schon? Nein, diese Doppel-CD
umfasst nicht nur die zweite Scheibe des Labels Impulse, „Genius
+ Soul = Jazz“ aus dem Jahr 1960, in einer exzellent digitalisierten
Fassung, sondern auch Charles’ weit weniger bekannte jazzbetonten
Bigband-Alben „My Kind Of Jazz“, „Jazz Number II“ und „My
Kind Of Jaz Part 3“ aus den 70ern. Erstere ist freilich ein Meilenstein:
Das Count-Basie-Orchester, dessen Leader hier vom blinden Genius des
Soul ersetzt wird, allerdings nicht am Klavier, sondern durch Hammond-Orgel
und vereinzeltem Gesang, bietet von Quincy Jones und Ralph Burns arrangierte
und in der von den Basieiten (erwähnt seien F. Foster, C. Terry
und der zu wenig bekannte Philip Guilbeau) gewohnten Präzision und
Verve gebotene Bigband-Sounds, darunter eine legendäre Fassung von „Moanin“.
Dieses Album war freilich eine unerhörte Niveauvorgabe für
souligen Bigband-Jazz der 60er. Die von 1970 bis 1975 mit inzwischen
eigenen aufgenommen Alben, erweitern den Radius noch deutlich, obgleich
sie Charles’ Orchester typisches Repertoire bieten: drei Walzer,
Einiges mit brasilianischer Rhythmik und Atmosphäre, soulige Standards
von Silver, Timmons, Golson und Morgan, Stücke von T. Edwards und
Ch. Mariano, aber auch Originals von Charles bilden die äußerst
abwechslungsreiche Spielwiese für Solisten (darunter der 2009 verstorbene
Baritonist Leroy Cooper) und den Genius.
Jimmy Giuffre
Jimmy Giuffre 3
Poll Winners Records
Mit seiner sanft und sachte angepusteten Klarinette entfaltet Giuffre
ein Bluesgefühl, das desto stärker wirkte, je cooler er blies.
Bei ihm waren selbst Tenor und Bariton Flüsterhörner, doch
tänzelnd und beseelend setzten sie beim Hörer innere und äußere
Bewegung in Gang. Folkloristische Elemente und innovativer Cool Jazz
gingen in der friedlichen und doch so packenden Kammermusik seines Trios
Hand in Hand. Hier reifte Jim Halls Konzeption Begleitung als Dialog
anzulegen. Der „wie ein Horn“ improvisierende Gitarrist war
Pianist und Bläser in einem. Als der Bassist des Trios, der auf
der ersten Hälfte des Albums zu hörende Ralph Pena, vom Ventilposaunisten
Bob Brookmeyer abgelöst wurde, „ersetzte“ Hall auch
noch den Bassisten. Auch hier (vergleiche Ray-Charles-Rezension) sieht
man auf den ersten Blick oft nicht an, welche zusätzlichen Schätze
das Album enthält. Das Titelbild dieser CD ähnelt täuschend
jenem der Veröffentlichung des legendären Atlantic-Albums „The
Jimmy Giuffre 3“. So kommt man nicht auf die Idee, zugleich das
Bonus-Album „Trav’lin Light“ zu erstehen, das 1958
bereits mit Brookmeyer entstand. Das ist die Gruppe, die im berühmten „Jazz
an einen Sommerabend“ den Ohrwurm „The Train and the River“ einer
glücklichen Menge zu Newport zum Ohrenschmaus mache, der auf diesem übrigens
in seiner Urgestalt in der anderen Besetzung von 1956 zu hören ist.
Dieser feine „Folk Jazz“ wirkt tatsächlich an einem
heißen Sommerabend wie erfrischender Balsam.
Sal Nistico & Tony Scott
Swiss Radio Days Vol. 21
TCB
Zwei amerikanische Bläser italienischen Geblüts, die leider
nicht mehr unter uns sind. Beide bereicherten in der zweiten Hälfte
ihrer Laufbahn vor allem die europäische Szene: Tony Scott, der ältere,
lebte nach Jahren, die ihn als Wanderer zwischen den Kontinenten gesehen
hatten, im Lande seiner Vorfahren, wo er als lebende Legende verehrt
wurde. Sal Nistico wirkte von der Schweiz aus, wo er eine Generation
jüngerer Bläser prägte. Sie musizieren hier nicht gemeinsam,
doch wurden beide 1977 live mit dem vorzüglichen Trio von Klaus
Koenig (p), Peter Frei (b) und Peter Schmidlin (d) aufgenommen, das regelmäßig
für den Schweizer Rundfunk Gast-Solisten begleitete. So kannte man
Nistico, der in Amerika vor allem als Bigband-Bläser (Herman, Basie)
erinnert wird, in unseren Breiten: als Improvisator ausgedehnter hotter,
aber keineswegs lauter Soli, die in ihrem gescheiten Aufbau voller faszinierender
Details stecken, wie hier in „Grooving Sal“, einem Lehrstück über
die „Cherokee“-Changes. Sein Spiel ist Gold für den
aufmerksam die lines behorchenden Fachler, während Scott mit der
direkten emotionalen Ansprache seines Sounds wohl auch Nicht-Jazzer erreicht.
An jenem Abend erinnerte er mit allen erdenklichen Mitteln (Klarinette,
Tenor, Klavier, Gesang) an Stationen seiner Karriere, vor allem, à la
Frog, an sein kurzes Intermezzo bei Ellington sowie an seine Zusammenarbeit
mit Billie Holiday, der er hier mit einem intensiven „Loverman“ und
seinem anrührenden „Lady Day“ huldigt.
Django’s Spirit
A Tribute To Django Reinhardt
Trikont
Das Django-Jahr hat uns eine Menge Veröffentlichungen mit Musik
des genialen Manouche oder seiner musikalischen Geistesverwandten und
Nachfolger beschert. Diese ist eine der interessantesten und kuriosesten.
Es wäre ja auch ein Wunder gewesen, wenn der Beitrag des Labels
Trikont konventionell ausgefallen wäre. Mit Steelgitarre gespielt
klingt Djangos Musik ganz hawaiianisch; mit elektronischen Beats von
DJs gesampelt findet sie auf heutige Tanzböden. Nicht nur direktere
musikalische Erben wie Dotschy Reinhardt oder Titi Winterstein fühlen
sich ihm nahe, auch japanische Chanson-Sängerinnen oder Rapper.
Von Coco Schumann bis zum seltenen Dokument der Mano Rena, einer Gitarristin,
die noch in den 40er-Jahren mit Django gespielt hat, vom hochvirtuosen
Bireli Lagrène zum eher amateurhaften Zydeco-Sound von Les Frères
Souchet spannt sich der Bogen dieser Anthologie, von den 30er Jahren
bis heute. Susie Reinhardt hat sie sehr interessant zusammengestellt
und ausführlich kommentiert. Trotz kleinerer Irrtümer – „Dinah“ ist
zum Beispiel kein Song von Armstrong – ist ihr Text eine lesenswerte
Einführung. Für den, der gewohnt ist, Django Reinhardt aus
reiner Jazz-Perspektive zu betrachten, mag es erfrischend sein, seine
Wirkung auch auf anderen, vermeintlich fernen Baustellen zur Kenntnis
zu nehmen, auch wenn ihm das eine oder andere Stück weniger zusagt.
Django Reinhardt gehörte ohnehin nie nur zum Jazz. Man blickt jenseits
des Tellerrandes und freut sich, es getan zu haben.
Ray Anderson
Old Bottles – New Wine
Enja 24bit master edition
Der Titel erinnert etwas an das legendäre Gil-Evans-Album „New
Bottle Old Wine“ (siehe JZ 3/10). Auch hier gibt es Standards,
die man so noch nicht gehört hat – nur, dass die Flaschen
bei Evans die Arrangements, bei Anderson die Songs symbolisieren. Man
hat ein etwas komisches Gefühl dabei, dieses Album unter der Rubrik „Neues
von gestern“ zu besprechen, so sehr empfindet Ray Anderson (trotz
der nur wenigen Alben als Leader in letzter Zeit) als Teil der heutigen
Jazz-Szene. Und doch ist dieses Album nun ein Vierteljahrhundert alt.
Aber war es nicht erst gestern, dass wir mit offenem Mund staunend vor
der Stereoanlage gesessen sind? Ray Anderson war zwar schon ein Jahrzehnt
geschätzter Avantgardist, aber wenn man eher Bop- und Mainstream-Hörer
war, kannte man ihn nicht so recht. Und dann erschien 1985 dieses Album
des vielleicht unverkrampftesten, unverklemmtesten Posaunisten seit Jahren,
der eine Myriade von Sounds auf seiner Palette hatte, der die vitale
Expressivität der alten New-Orleans-Posaunisten und die stupende
Technik der besten modernen Posaunisten geerbt hatte, mit der er aber
nicht antrainierte Bop-Licks abspulte, sondern in außergewöhnlicher
Ausgeschlafenheit die witzigsten und wildesten Chorusse bastelte, und
dies proppesauber, aber mit einem Reichtum an urtümlichen posaunistischen
Stilmitteln. Dazu begleitete die Rhythmusgruppe aus Kenny Barron (b),
Cecil (b) und Dannie Richmond (dr) wie ein As. Noch heute höre ich
mit offener Kinnlade zu!
Marcus A. Woelfle
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