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Eng ist es. Die Stuhlreihen sind gefüllt –vor den Stehenden quetschen sich einige durch, um ganz vorne auf dem Boden zu sitzen. Auf der Bühne ist kaum Platz, die Band zum Greifen nahe. Das Schlagzeug pumpt trippige Beats, ein Sänger tanzt sehr wild, der Gitarrist zaubert sphärische Klanglandschaften. Dann setzt der Mann an der Trompete zu einer empfindsamen Phrase an, die so ganz einen ruhenden Pol bildet im Zentrum der überkochenden Rhythmik…
Der Franzose Eric Truffaz und seine Musiker entfesseln diese ungebändigte Energie, und der Raum, in den diese sich entlädt, weil Atmosphäre, Stimmung und Publikum einen perfekten Nährboden dafür geben, ist der Dortmunder Jazzclub domicil – und dieser Abend, der noch nicht lange zurück liegt, ist einer von zahllosen dieser Art in der 35-jährigen Geschichte dieses kleinen, aber überregional bekannten Dortmunder Jazzclubs. Übrigens war das domicil in seinen Gründerjahren der allererste Ausgeh-Laden, der auch Heiligabend geöffnet hatte! Da gibt es heute natürlich mehr Konkurrenz – konkurrenzlos dürfte aber im östlichen Ruhrgebiet sein, was sich hier „im positiven Sinne nicht geändert hat“, so wie es sich aktuell durch diesen Liveabend mit Eric Truffaz vollzieht: Hautnah sind Musiker und Bands erlebbar – Klasse statt Masse ist dabei das Credo! Vor 35 Jahren gründeten musikbegeisterte Idealisten diesen Jazzclub mit großer Resonanz und enthusiastischem Medienecho. Die Gründungsmitglieder und ihre Nachfolger machten immer mehr daraus: Höhepunkt des Jahres ist mittlerweile „europhonics“, ein vom Domicil ausgerichtetes, mehrtägiges internationales Festival an verschiedenen Orten in der Stadt. Nicht nur dann sprengt das Publikum das Fassungsvermögen des kleinen Jazz-Kellers, der einst als Kindertagesstätte fungierte. Ab 2005 braucht kein enttäuschter Jazzfan mehr zu Hause zu bleiben, weil das Lieblings-Konzert ausverkauft ist: Viel mehr Platz für Musik und Publikum bietet nämlich das ehemalige Hansa-Theater mitten in der Dortmunder City. In diesem ehemals großen Lichtspielhaus läuft zurzeit die Arbeit auf Hochtouren für eine neue Örtlichkeit für bis zu 500 Gäste inklusive ständiger Gastronomie. Viel Geld kommt dafür vom Land NRW und der Stadt, wo – maßgeblich durch das Förderprogramm Städtebau, Kultur und Wohnen – auf eine kulturelle Aufwertung der Dortmunder City gesetzt wird. Diese hat sich durch Konzerthaus, Chor- und Orchesterakademie sowie eine vielfältige Gastronomie ohnehin schon zum vitalen Kulturstandort gemausert, so dass das domicil hier eine weitere Lücke schließen kann – mit einem überzeugenden, gewachsenen künstlerischen Profil und einer Organisationsstruktur, in der bürgerschaftliches Engagement in hohem Maße verwirklicht wurde, also auch eine verlässliche Partnerschaft zwischen Betreibern und öffentlicher Hand nahe liegt. Ein Ortstermin am künftigen Brennpunkt der Jazzszene im östlichen Ruhrgebiet mit dem künstlerischen Leiter und Geschäftsführenden Vorstand Waldo Riedl führt die Zukunft für den Jazz im östlichen Ruhrgebiet vor Augen: Das alte nostalgische Kassenhäuschen im Eingangsbereich zeugt noch von der Vergangenheit des Hansa-Theaters als pompöse Film-Abspielstätte – fast schon schade ist es, dass dieses weichen muss, wenn hier erst mal der Gastro-Bereich läuft. Von der großdimensionierten Halle, zu der eine ausladende Treppe ein Stockwerk hinauf führt, soll ein kleiner Club-Bereich abgeteilt werden, damit dort die intime Atmosphäre, mit der das domicil berühmt wurde, weiterleben kann, ebenso wie die exklusiven Nischen-Konzerte, in denen das ästhetische Wagnis und weniger die Popularität im Vordergrund steht. Der geplante Umzug ins Hansatheater ist zurzeit aufs Frühjahr 2005 angesetzt – vorausgesetzt es gibt nicht noch viele weitere „dicke Überaschungen“, die in der Vergangenheit nicht nur bürokratischer, sondern oft auch bautechnischer Natur waren. Ein Großteil der Arbeit erfolgt durch Eigenleistung der Vereinsmitglieder. Zurzeit sind bis zu 20 Helfer im Einsatz. Soeben ist die kräftezehrende Arbeit des Entkernens der Räumlichkeiten vollzogen – die gesamte Kino-Bestuhlung musste raus! Dass dieser Jazzclub mit dem städtischen Kulturbüro kooperiert und öffentlich gefördert wird, war keineswegs immer so. Einst waren die Mitglieder des domicil-Vereins ideologisch auf die größtmögliche Unabhängigkeit der freien Kultur eingeschworen – an Verrat grenzte es in diesem Klima, sich öffentlich fördern oder gar durch Sponsoren aus der Wirtschaft unterstützen zu lassen! Die Fronten zwischen Hochkultur und allem, was nicht dazugehörte, waren zudem noch sehr unbeweglich, solange es in Dortmund ein Kulturamt im althergebrachten Sinne gab. Doch alles wurde anders, als Ende der 80er-Jahre die Förderung freier Kulturzentren neu konzipiert wurde. Endlich begriff im Jahre 1996 ein reformiertes Kulturbüro auch den Jazz als tragende Säule städtisch-regionaler und damit überregional wirksamer Kultur. Man kam sich näher, und auch die Haltung der idealistischen domicil-Betreiber verlagerte sich hin zu einem kommunikationsfreudigen: „Wir brauchen die und die brauchen uns!“ Die Stadt stellte mit ihrer Anerkennung des domicils als Kulturzentrum schließlich Büroräume zur Verfügung – auch konnten Azubis und Praktikanten vermittelt werden. Zur Professionalisierung der Arbeit gehörte, dass Waldo Riedl und sein Partner im geschäftsführenden Vorstand Fritz Rieke bezahlte Vollzeit-Stellen bekamen. Die Folge war eine Ausweitung des Programms auch in die Breite – dazu gehört mittlerweile die musikalische Nachwuchsarbeit vor Ort sowie Workshops, Frauenmusiktage, World Music Meetings, Club Beatz am Wochenende und unter der Woche – der Kerngedanke für diese Vielfalt hat sich im positiven Sinne nicht geändert. Vor 35 Jahren lag er in der damals gewagten Vereinbarkeit von so konträren Sachen wie Freejazz und Dixieland in einem einzigen Jazzclub! Stefan Pieper
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