Anzeige |
|
|
Anzeige |
|
Vor John Lewis waren Fugen im Jazz ein Unding, nach ihm wurden sie eine Mode. Streng genommen sind Fugen im Jazz gar nicht möglich, denn dazu müssten die improvisierenden Musiker eigentlich Gedankenlesen können. Aber John Lewis und das von ihm jahrzehntelang geleitete Modern Jazz Quartett kamen dem Geist der Fuge mit ihrem unakademisch angewandten Kontrapunkt schon auf denkwürdige Weise recht nahe. Ähnliches gilt für andere Formen der klassischen und barocken Musik. Lewis hat das Kunststück fertig gebracht, sie mit Jazzgehalt zu füllen, damit dem Jazz neue Kreise zu erschließen, und dies ohne seine tiefe Verwurzelung in der afroamerikanischen Tradition aufzugeben.
Der 1920 im Bundesstaat Illinois geborene John Aaron Lewis wuchs als Sohn einer klassischen Sängerin in New Mexiko auf. Als Siebenjähriger wurde er im Klavierspiel unterwiesen. An der Universität von New Mexiko studierte er Anthropologie. Während seines Militärdienstes in der Normandie freundete er sich mit Kenny Clarke, dem Vater des modernen Schlagzeugspiels, an. Nach seiner Entlassung aus dem Dienst zog er nach New York, wo der Bebop gerade seine Hochblüte erlebte. Obwohl es aus heutiger Sicht seltsam erscheint, passte der ruhig und zurückhaltend spielende John Lewis gut in diesen Kreis. Auf Empfehlung von Kenny Clarke wurde er 1946 Pianist im Orchester des Trompeters Dizzy Gillespie. Gillespie war nicht nur ein Mitbegründer des Bebop. Die Formation in der Lewis wirkte, war in zweifacher Hinsicht wichtig für die Weiterentwicklung des modernen Jazz. Gillespie schuf mit ihr ein großorchestrales Pendant zum zunächst auf Kleinformationen beschränkten Bebop und nahm bald darauf afrokubanische Elemente in den Jazz auf. Als Komponist und Arrangeur von Meilensteinen wie Emanon und Two Bass Hit, machte sich John Lewis um das Orchester verdient. 1947 wurde in einem Gillespie-Konzert in der Carnegie Hall Lewis Toccata for Trumpet uraufgeführt. Lewis hat das Stück später als Jugendwerk abgetan. Aber mit seinem Rückgriff auf klassische Formen, oder zumindest auf deren Bezeichnungen, war es auf jeden Fall schon ein typischer Lewis. Vom Wert des Jazz Schon in der Bebop-Ära erschien Lewis als dezent swingender Pianist,
bei dem die Pausen ebenso wichtig waren wie die erklingenden Noten, ein
Musiker, der auf Sparflamme kochen konnte. Die Linearität Johann
Sebastian Bachs, die Essentialität Count Basies und der Bebop Charlie
Parkers standen seinem Personalstil Pate. Da John Lewis aus seinen Neigungen
für Europa und die klassische Musik nie einen Hehl machte und seine
Musik als prototypisch für den Cool Jazz gilt, werden oft die schwarzen
Wurzeln seiner Musik übersehen. John Lewis war aber von Anbeginn
seiner Laufbahn bis zu seinem Tod einer der bewegendsten Blues-Interpreten
der Jazzgeschichte. Dies belegt zum Beispiel die legendäre, am 18.September
1948 entstandene Aufnahme von Parkers Mood, die Lewis als
Sideman des genialen Bebop-Mitbegründers Charlie Bird Parker zeigt.
John Lewis war kein Klavier-Revolutionär wie Thelonious Monk oder
Bud Powell. Dennoch kommt dem Musiker mit dem enzyklopädischen musikalischen
Wissen und der nie nachlassenden Kreativität eine zentrale Rolle
in der Entwicklung des modernen Jazz zu, vor allem in der Wendezeit vom
Bebop zum Cool. Aber auch weit über diesen Rahmen hinaus hat er als
eine der hervorragendsten Solisten seiner Zeit vorbildlich gewirkt. Improvisatorischen
Einfallreichtum und Swingfeeling attestiertem ihm selbst jene, die seine
Vorliebe für Fugen, Choräle und Auftritte im Frack nicht teilten.
Doch nicht aus Minderwertigkeitsgefühl gegenüber dem Jazz legte
Lewis so viel Wert auf Formen und Attribute der klassischen Musik. Er
handelte und musizierte aus der Überzeugung, dass Jazz genau den
gleichen Wert hat, und damit verbunden, die gleiche gesellschaftliche
Achtung, die gleichen Konzerthallen, das gleiche aufmerksame Publikum
verdient, wie die sogenannte E-Musik. So gut sich Jackson und Lewis im MJQ auch ergänzten, ohne einander
konnten sie sich bisweilen besser entfalten. Milt Jackson swingte auf
eigenen Alben gelöster und auch John Lewis war ohne Jackson bisweilen
wie ausgewechselt. Auf eigenen Platten ging er mehr der ihm eigenen kultivierten
Introspektion nach, aber auf Alben, bei denen er als Sideman mitwirkte
(zum Beispiel Sonny Stitt plays Bird), spielte er oft so enthemmt,
dass man ihn kaum wieder erkennt. Dass Lewis, wenn er nicht Verantwortung
über Band, Komposition und Arrangement zu tragen hatte, ein durchaus
extrovertierter Pianist war, ist ein interessanter Aspekt seines Schaffens.
Auch als Komponist zahlreicher, insbesondere französischer und italienischer Filmmusiken ist er hervorgetreten. Vor allem als Solopianist hat er in letzten Jahren gewirkt. Immer wichtiger wurde John Lewis, der übrigens mit einer klassischen Cembalistin verheiratet war, in den letzten Jahrzehnten die Auseinandersetzung mit dem Werk Johann Sebastian Bachs. In zahlreichen Aufnahmen spürte er der Wesensverwandtschaft von Bach und Jazz nach. Der Schwanengesang des inzwischen noch asketischer spielenden John Lewis kam unlängst auf den beiden Alben Evolution und Evolution II heraus. Als er am 29. März in New York verstarb, wurde der Jazz um einen der größten Improvisatoren und Komponisten ärmer. Marcus A. Woelfle |
|