Mit Jazz, wie ihn die Puristen verstehen – also Miles Davis oder
John Coltrane –, haben Ulrich Tukur und Götz Alsmann relativ
wenig zu tun. Ihr „Jazz“-Begriff hat eher mit den Roaring
Twenties zu tun, als das Wort für ein Lebensgefühl stand. „Es
war die Zeit des Bubikopfes, es war die Zeit des kurzen Rockes“,
schreibt Hans Janowitz 1927 in seinem Roman „Jazz“, „es
war die Zeit der wilden Freude an wilder Lausbüberei, an wildem Unfug
im Ordnungsbereich, kurz: das wahre Programm der Zeit hieß: Jazz.“
Im Berlin der „Goldenen Zwanziger“ verkörperte dieses
Programm wie kein Zweiter der Cabaret-Tausendsassa und Musiker Friedrich
Hollaender, der nebenbei auch noch die beste Jazzband der Weimarer Republik
leitete, die Weintraub Syncopators.
Hollaender spukt nun auch wieder herum beim neuesten Projekt des singenden
Schauspielers Ulrich Tukur und seiner Rhythmus Boys: „Morphium“
(Roof/Indigo). Hollaenders „Fox Macabre“ und Mischa Spolianskys
Valse boston „Morphium“ (beide von 1920) liefern den exquisit
arrangierten Soundtrack zu einem merkwürdigen Drogentrip, zu einer
Reise in die deutsche Vergangenheit. „Die Feier einer dekadenten
Kultur am Ende der k.u.k. Monarchie vor dem Weltkrieg, dann der Tanz auf
dem Vulkan 1924, das hat mich schon immer fasziniert“, erzählt
Tukur: „Als ein Brot Milliarden kostete und die Menschen sich einen
kollektiven Nervenzusammenbruch leisteten: diese Hysterie, die sie im
Rausch auflösen wollten.“
Spätestens seit seinem „Blaubart“-Projekt fühlt
sich Tukur, der in Venedig lebt, als „Bürger der Weimarer Republik“.
Wobei er Vergleiche mit den Zuständen dieser Zeit weit von sich weist:
„Damals gab es echte Armut und Hunger, heute werden bloß Besitzstände
verteidigt.“ Tukurs Traum: Die Weimarer Republik als künstliches,
drogengeschwängertes Paradies.
Einer, der mit den Jazzschlagern der 40er- und 50er-Jahre aufgewachsen
ist, verfolgt bei „Tabu!“ (Boutique/Universal Jazz) eine andere
Linie: Götz Alsmann. Vor fast 20 Jahren promovierte „Professor
Bop“ (Markenzeichen: Brille und Tolle) mit einer vorzüglichen
Studie über die schwarzen Independent-Labels der Forties: „Nichts
als Krach“. Seit langer Zeit ist seine Geschichte der „jazzenden“
Unterhaltungsmusik angekündigt. Alsmann kennt das Repertoire dieser
Zeit wie kein Zweiter: Bill Ramsey ist ihm genauso nahe wie Nat „King“
Cole. Auf „Tabu!“ lädt er nun zu „17 neuen spannenden
Abenteuern“ ein, die ihn in exotische Länder führen, zu
geheimnisvollen Frauen („Nana“) und Melodien („Caravan“).
Seine Helden heißen Michael Jary, Erwin Halletz, Duke Ellington
und Heinz Erhardt. Es ist die Liebe zu seinem Material, die hier erneut
besticht.
Fazit: Tukurs „Morphium“ und Alsmanns „Tabu!“
sind Musterbeispiele für eine deutsche Art von „Exotica“,
die ihre Wurzeln im Berlin der Roaring Twenties, zwischen Cabaret &
„Jazz“ hat.
Viktor Rotthaler
Interview Ulrich Tukur
Jazzzeitung: Hat Jazz in Ihrer musikalisch-künstlerischen
Entwicklung eine Rolle gespielt?
Ulrich Tukur: Meine musikalische „Befreiung“ begann
mit einem Heftchen von Boogie Woogie und Ragtime Stücken, die ich
mir als Zehnjähriger heimlich beibrachte. Ich war in Ekstase versetzt
und die Herren Czerny und Clementi verloren schlagartig ihre dämonische
Macht. Meine beiden ersten Vinyl Platten waren von Tommy Ladnier und dem
großartigen frühen Fletcher Henderson. Ende der 70er-Jahre
gründete ich in Tübingen meine erste Band, die „Floyd
Floodlight Foyer Band“. Wir spielten so genannten Schleim- und Behelfsjazz
und über die vielen musikalischen Einsätze auf Marktplätzen,
in Jugendzentren, Wirtschaften und Jazzkellern lief mein Weg zugegeben
etwas verschlungen, aber doch sehr fröhlich zum Theater.
Jazzzeitung: Gibt es bestimmte Gruppen, Künstler aus dem
Jazzbereich, die Sie bewundern?
Tukur: Ich war immer begeisterter Anhänger der Epoche der
Big Bands und großen Jazz- und Tanzorchester. Ganz oben Duke Ellington,
Artie Shaw (der noch lebt!), aber auch „Impressionisten“ wie
Claude Thornhill. Spezialist bin ich jedoch geworden für die große
Zeit der englischen Orchester, allen voran die Hotbands von Jack Hylton,
die Savoy Orpheans und Rhythmic Eights. Waren diese Formationen auch nicht
immer avantgardistisch, so sind sie doch unschlagbar von ihren Arrangements,
ihrer Energie, Spielfreude und heute noch genauso frisch wie vor 75 Jahren.
Jazzzeitung: Hören Sie Jazz in Ihrer Freizeit oder von Berufs
wegen?
Tukur: Ein Cocktail ohne George Shearing, Art van Damme oder Chet
Baker ist eine trübe Sache...
Jazzzeitung: Ihre aktuelle CD dreht sich um das dunkle Thema
„Morphium“, von dem viele US-amerikanische Jazzer auch abhängig
waren und einen frühen Tod starben. Welchen Zusammenhänge, Gründe
könnte es geben, Ihrer Meinung nach?
Tukur: Übrigens kotzten auch deutsche Jazzer vor dieser
Apotheke. Der heute fast vergessene Saxophonist und Bandleader Erich Borchard
galt in den fühen 20er-Jahren als der wegweisende Musiker der Branche
und ging wie viele am Heroin zugrunde. Es war vor allem in den 20er-Jahren
noch relativ leicht, an die Modedroge Kokain, Heroin und Morphium zu kommen,
ihr Gebrauch war Teil des flebrigen Lebensgefühls in den Metropolen;
man musste überleben und spielte Tag und Nacht. In den USA war der
erfolgreiche schwarze Musiker zwar künstlerisch anerkannt, als Mensch
aber immer nur zweite Klasse und hatte durch die Hintereingänge in
die Bars oder Konzertsäle zu gehen. Diesen Widerspruch werden viele
nicht ausgehalten haben.
Interview Götz Alsmann
Jazzzeitung: Hat Jazz in Ihrer musikalisch-künstlerischen
Entwicklung eine Rolle gespielt?
Götz Alsmann: Die entscheidende!
Jazzzeitung: Gibt es bestimmte Gruppen, Künstler aus dem Jazzbereich,
die Sie bewundern?
Alsmann: Ungefähr 1000.
Jazzzeitung: Hören Sie Jazz in Ihrer Freizeit oder von Berufs
wegen?
Alsmann: Was verstehen Sie unter Freizeit (immer!)?
Jazzzeitung: Inwieweit sind „jazzige Elemente“ in Ihre
neue CD eingeflossen?
Alsmann: In sehr weit!
Jazzzeitung: Würden Sie gerne einmal in einer Jazzcombo singen/spielen?
Alsmann: Was glauben Sie, was ich täglich tue?
Interviews: Ursula Gaisa
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