Anzeige |
|
|
Anzeige |
|
Jazz ist, wenn man sich in einem furchtbar romantischen Lied vor Lachen nicht mehr halten kann. Rebekka Bakken steht auf der Bühne der alten Klosterruine Eldenaer und singt von einem Mädchen, in dessen Haar sich der Mondschein fängt. Plötzlich reißen die schweren Wolken über Bakken auf und der Vollmond kommt zum Vorschein. Er gießt sein helles Licht Meter für Meter, Bogen für Bogen weiter durch die mittelalterlichen Mauerreste bis er die norwegische Blonde trifft. Als sein Licht endlich von ihren Haaren ins Publikum zurückgeworfen wird, strahlt die Sängerin zunächst, dann kichert sie, um endlich in schallendem Gelächter auszubrechen. Bakken spürt die unfreiwillige Komik der zufälligen Überinszenierung und nimmt es mit Humor. Dann schließt sie die Augen und taucht tief zurück in die Musik. Die Eldenaer Jazzevenings sind eines der lässigsten Jazzfestivals Deutschlands. Die Klosterruine bietet mehreren hundert Zuhörern eine gute Akustik und optimale Sicht auf die Bühne. Die Ruine wird von einem großzügigen Park umgeben, der von allen Seiten Zutritt in den Zuschauerbereich gestattet. Niemand stört sich am ständigen kommen und gehen, Kinder tollen umher und die Künstler chillen bei gutem Wetter auf einer VIP-Rasenfläche. Die Besucher kommen aus der näheren Umgebung der Hansestadt Greifswald, viele Urlauber eingeschlossen. Berliner trifft man überall, sowohl im Publikum als auch auf der Bühne. Vier der sechs Festival-Gruppen haben sich aus der Hauptstadt auf den Weg gemacht: Das Julia Hülsmann Trio, Ernst Biers Helter Skelter, Jacobien Vlasmans Hüftgold und das Zentralquartett. Das Zentralquartett, bestehend aus Conrad Bauer, Ulrich Gumpert, Ernst-Ludwig Petrowsky und Günter Sommer, ist in dieser Auswahl die einzige Band, die von ihrer Herkunft und von ihrer Spielweise an die ursprüngliche Tradition der Eldenaer Jazzevenings erinnert. Einst wurde hier ausschließlich improvisiert, Jazz als Ort kritischer Freiheit und Systemunabhängigkeit zelebriert. Heute ist das Festival künstlerisch nicht mehr von seinen europäischen Pendants zu unterscheiden, doch eine schmalztriefende 70er-Jahre Ballade wie „Baltimore“ könnte von Hülsmann und Bakken nicht am falscheren Ort vorgetragen werden. Tags zuvor strahlte das Fernsehen eine Reportage über die Einsamkeit und die Gewalt in Gnoien aus. Wie hört sich der Soundtrack einer versinkenden Nachbarstadt unserer Zeit an? Die Eldenaer Jazzevenings 2003 werden wohl in erster Linie durch einen völlig anderen Traditionalisten in Erinnerung bleiben. Ausgerechnet ein westdeutscher Free Jazz-Veteran marschierte mit einem als improvisierende Schlange geformten Jugendensemble auf die Bühne und löste beim Publikum Entzücken aus. Andreas Sappelt vom Kulturamt Greifswald und Thilo Braune vom Trägerverein werden die Einladung nicht bereut haben: Gunter Hampels Next Generation beeindruckte durch permanente Kollektivimprovisation, durch HipHop, durch virtuose Instrumentalität und aufregende Visualisierung. Über Hampel, der sich immer noch als Dark Vader des Jazz kleidet, mag man denken was man will. Fest steht, dass der Wahl-New Yorker genau spürt, wie man das Publikum gleichzeitig fordern und unterhalten kann. Auch die selbstkritischen Witzchen stehen dem Herrn gut zu Gesicht. Eine Truppe, die so unter Strom steht, wünscht man jedem Jazz-Genre! Al Weckert |
|