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Michael Schiefel hat sein Lied verloren. Vor zwei Wochen ist dem Jazz-Vokalisten, der für seine elektronischen Stimm-Experimente bekannt ist, der Laptop abgestürzt. Die Festplatte ist ruiniert. Das ist der tragische Teil seiner New York-Geschichte. Neben allen Kontaktadressen und Recherchen, die er als Harvard Stipendiat seit September vergangenen Jahres in den USA gesammelt hat, hat Schiefel zwei gerade erst in New York komponierte, Stücke verloren. Trotzdem lächelt er, nippt in seinem Lieblingscafe im Greenwich Village an seinem Milchkaffee und meint: „Was mich verblüfft ist, wie viel mir so ein Song bedeutet. Sonst hat man das Lied ja einfach, nimmt es auf und produziert es. Aber dieser eine Song hatte eine so komplexe, komplizierte Akkordfolge, die ich nicht wieder finden kann.“ Dazu muss man wissen, dass Michael Schiefel viele Titel für sein Solo-Projekt direkt an seinem Computer einsingt und dann damit experimentiert, tüftelt und alles perfektioniert, oft wochenlang. Melodik und Rhythmik, Begleitakkorde und Melodie sind einzig und allein Schiefel’sche Vokalakrobatik, mal geloopt, mal elektronisch intoniert. Um mit seinen Kompositionen auch live auftreten zu können, hat er dem Erfinder des Gibson Echoplex, Matthias Grob, so ziemlich alle Funktionsdetails des Loop-Geräts abgeguckt. Mittlerweile arbeitet er mit einem Bekannten von Grob, dem Gitarristen und Programmierer Ljubo Majstorovic, an einer Software, die sein gesamtes derzeitiges Equipment mit einem Laptop plus maßgeschneidertem Controller ersetzen kann. Damit wird noch viel mehr möglich sein, obwohl einige Musikstücke, wie etwa das vor kurzem verloren Gegangene, sich auch mit der besten Technik nicht live aufführen lassen. „Das wäre zu kompliziert“, erklärt Schiefel. Durch das Harvard Stipendium hoffte er, bisher leider vergebens, Mitstreiter
für ein mehrköpfiges Elektronic-Gesangs-Projekt zu finden.
Nicht, dass Schiefel, der seit sechs Jahren auch als Professor für
Jazzgesang an der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ in
Weimar unterrichtet, zu wenige Projekte hätte. Neben seinem Solo-Auftritt
spielt er mit dem zeitgenössischen Jazzquintett „Jazz Indeed“,
der zehnköpfigen Mini-Big-Band „Thärichen’s Tentett“ und
dem Bulgarisch-Deutschen Quintett „Batoru Balkan Jazz Projekt“.
Während seines Stipendium-Semesters in den USA, haben sich schon
eine ganze Reihe von Konzerten angehäuft. „Langweilig wird
es mir bestimmt nicht, wenn ich wieder zurück bin,“ meint
Schiefel. Auch könne er es kaum erwarten, sich einmal in Ruhe hinzusetzen
und alle Eindrücke seines USA-Aufenthalts zu verarbeiten. „ New York ist ein Dauer-Jazz-Festival“, schwärmt er, obwohl er nach einigen Wochen wählerischer geworden ist, statt zwei, drei Konzerten am Abend, vier, fünf in der Woche sieht: Brad Mehldau etwa oder Sheila Jordan. Natürlich war er in allen klassischen Jazz-Clubs (von Blue Note bis Village Vanguard) und entdeckte durch ein Laurie Anderson-Konzert „The Stone“, John Zorns neuen Downtown-Club für experimentellen Jazz. Er zog mit deutschen Exil-Musikern, wie etwa der Sängerin Sabine Kühlich oder dem Schlagzeuger Jochen Rückert, durch die Jazz-Szene New Yorks, improvisierte mit Theo Bleckmann und J.D. Walter (zwei anderen Vokalisten, die mit elektronischen Elementen arbeiten) auf der Bühne, gab bei einer Jam-Session im legendären „Smoke“ die Standards „Joy Spring“ und „Donna Lee“ (gleich zwei Mal, weil es so gut ankam) zum besten, traf alte, neue Musikerfreunde, wie etwa den russischen Pianisten Misha Piatigorsky, der ein Semester in Weimar studierte, war bei einem Workshop mit Steve Coleman dabei und wird Ende März bei einem von Wolfram Knauer (Jazzinstitut Darmstadt, gerade ist er über die Louis Armstrong Stiftung als Gastdozent an der Columbia University) organisierten Panel zum Thema „Where You Come From Is Where You Go. A Jazz Conversation” sprechen. (Die Jazzzeitung wird berichten.) Schiefel kommt aus einer gutbürgerlichen Familie aus Münster, die Mutter ist Lehrerin, spielte viel Klavier. Doch obwohl Michael schon als kleiner Junge an die Tasten gesetzt wurde, wusste er: „Das Akkorde drücken ist nichts für mich. Ich habe mich damit nie ernsthaft ausgedrückt, immer lieber gesungen.“ Seine ersten Aufnahmen waren mit einem Kinderchor. Mit sechzehn lernte er Jazz-Klavier, fing an, erste eigene Stücke zu schreiben, „die klangen wie die Beatles“. Später wurde er Bobby McFerrin-Fan, mit dem er während eines Workshops an der Berliner Universität der Künste (UdK) dann sogar mal ein Duostück singen konnte. Damals entdeckte er auch das Loop-Gerät und fand endlich seinen eigenen Weg, sich und seine Gefühle auszudrücken. Er studierte unter anderem bei Jerry Granelli, Lauren Newton und David Friedman an der UdK, die später mit der HfM (Hochschule für Musik) Hans Eisler zum Jazz Institut Berlin zusammenschmolz. „Als ich anfing, war die Jazz-Abteilung noch jung und nicht so groß. Es gab ständig wechselnde Lehrer. Das war für mich total richtig“, erklärt Schiefel, der von Falsett über Jazz so ziemlich alles aus seinen Stimmbändern holen kann. Hausieren geht er damit trotzdem nicht, obwohl New York eigentlich eine Stadt ist, in der man seiner Karriere am besten selbst mal einen kräftigen Schubs gibt. Angeben ist einfach nicht Schiefels Stärke. „Es ist ein Luxus bescheiden sein zu dürfen“, meint er und nippt in seinem Lieblings Cafe im Greenwich Village an seinem Milchkaffe. Denn bisher hat in Michael Schiefels Musikerleben eigentlich immer alles gut geklappt – bis die Festplatte versagte. „In New York war der Laptop mein zu Hause“, sagt er. Egal ob er per Skype mit seinem Mann, einem Architektur Doktoranden in Boston, telefonierte, Berliner Zeitungen online las, deutsche Nachrichten schaute, Konzertdaten und Fakten über die New Yorker Jazz-Szene recherchierte oder komponierte, alles geschah an seinem Laptop. Davon handelt auch eines der beiden Stücke, die er beim Absturz seiner Festplatte verlor. Der Titel lautet: „My home is my tent“. Das andere, komplizierte Stück, an dessen komplexe Akkordfolgen Schiefel sich nicht mehr erinnern kann, trägt noch keinen Namen. Der Computerspezialist hat versprochen, die Daten zu retten – für die stolze Summe von 1.700 US-Dollar. „Ich habe vier Wochen mit mir gerungen“, gibt Schiefel zu. „Aber meine Lieder sind mein Leben. So ein Stück ist wie ein Baby, und soll dieses jetzt eine Fehlgeburt werden?“ Schiefel entschloss sich, die 1.700 Dollar zu zahlen. Ein teures, aber immerhin, „Happy End“! Josefine Koehn
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