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Die quirlige Berliner Jazzszene hat wohl längst Köln, Hamburg oder München die jeweils selbst aufgesetzte Krone geraubt! Ulrich Olshausen, Jazzmoderator beim Hessischen Rundfunk spricht aus, worüber unter Jazzkritikern außerhalb der Hauptstadt Einigkeit besteht. Berliner Experten runzeln bei solchen Statements die Stirn. Welche Szene? Zu einer Szene gehört ein Netzwerk von Publika, eine teilweise Identität von Personen, von Orten und von Inhalten. So gesehen gibt es in Berlin nicht eine, sondern diverse Jazzszenen. Bestes Beispiel sind die jahrzehntelangen Parallelveranstaltungen von JazzFest und Total Music Meeting. Gerade daraus wächst für die Berliner die enorme Faszination: Hier bin ich meine eigene Jazzvariante, hier darf ich es sein. Dieses Berlin-Dossier geht der Frage nach, was die sprichwörtliche Anziehungskraft der Stadt ausmacht. Dabei wird auch ein Streifzug durch den Jazzunderground rund um die Band Der Rote Bereich unternommen.
In Berlin, so könnte man es ökonomisch formulieren, ist seit dem Fall der Mauer das Ungleichgewicht zu einem Dauerzustand geworden. Der Leser einer Stadtillustrierten kann an manchen Tagen zwischen bis zu 20 verschiedenen Jazzveranstaltungen wählen. Veranstaltungsorte für Jazz schießen wie Pilze aus dem Boden (das Jazzinstitut verzeichnet 38 Clubs, aber auch hier sind nicht annähernd alle aufgelistet). Besonders unter der Woche drücken sich die enormen Steigerungsraten aus. Dieser Zustand prägt die Musikszene, denn die Clubs brauchen für ihr tägliches Programm stets neue Bands und Musiker. Seit Jahren stagniert die durchschnittliche Abendgage bei 100 Mark, in letzter Zeit locken immer mehr Kneipen mit Engagements für den Eintritt. Keine andere Stadt bietet so viel Arbeit für Jazzmusiker zu derart niedrigen Gagen wie Berlin. Zu einem gewissen Teil wird diese Entwicklung aus Sicht der Musiker durch die niedrigen Mietpreise und die geringen durchschnittlichen Lebenshaltungskosten ausgeglichen. In dieser Beziehung ist Berlin näher an Warschau als an London oder Paris. Selbst Proberäume gibt es in Hülle und Fülle, in allen Preislagen und immer kurzfristig verfügbar. Aber einen Jazzplattenladen? Der letzte seiner Art (Jazzcock) ist vor Jahren aus der Stadt geflüchtet. Sein Erbe verwalten die Generalisten L&P, das Kulturkaufhaus Dussmann und über vierzig weitere CD- und Vinylhändler mit mehr oder minder gepflegten Jazzecken. Als weiteres Opfer mangelnder Kaufkraft musste der allseits verehrte Buchspezialist Bote & Bock seine Türen schließen und hinterließ eine deutlich spürbare Lücke.
In Berlin sammelt sich Initiative und Know-how, allein es fehlt am Geld. Selbst die bekanntesten Jazzclubs leiden unter diesem Image. Die Veranstalter Sedal Sardan vom A-Trane, Giorgio Carioti vom Quasimodo, Jörg Zieprig vom B-Flat, Assi Glöde vom Jazzkeller Treptow, Hugo Rieck vom Bandenschen Hof, Stefan Berker vom Schlot sie alle sind erfahrene Enthusiasten, fast ohne Spielraum in der Geschäftsführung. Im Publikum wiederum fehlen die Talentscouts der großen Plattenfirmen, die in Süd- oder Westdeutschland ihre Hauptquartiere haben. Die Berliner Label Timescraper, Traumton (unter anderem Michael Schiefel) und FMP (unter anderem Alexander von Schlippenbach) können diese Lücke von ihrer jeweiligen Marktsituation her nicht wirklich schließen. Auch die Festivalszene ist reich und arm zugleich. Jazz Meeting Berlin, Jazz Across the Border, JazzFest Berlin, Total Music Meeting, sie alle stecken trotz künstlerischer Klasse seit Jahren in grundsätzlichen Finanzschwierigkeiten. Für inhaltliche Qualität garantierten bislang Jazzkenner wie Günther Huesmann (Jazz Across the Border), Jost Gebers (Total Music Meeting) und Albert Mangelsdorff (JazzFest Berlin). Insbesondere was das internationale Renommee anbelangt, haben die Festivals für die Stadt Erhebliches geleistet. Das Jazzfest ist seit den 60er-Jahren ein Motor der deutschen Jazzentwicklung, das Total Music Meeting ist das Sprungbrett vieler improvisierender Kollegen zu weltweiten Karrieren und seit 1978 eine der ersten etablierten Begegnungsstätten der Musik aus Ost und West. Das Jazz Across the Border ist geradezu Inbegriff musikalischer Globalisierung der 90er-Jahre. Doch die Finanzdecke in Berlin ist gering und das Standing von Jazz gegenüber der Hochkulturszene schwach. Nach dem Ende der Förderung durch den Kultursenat ist für das Jazz Across the Border das Ende gekommen. Das Total Music Meeting wagt einen Neubeginn der Zusammenarbeit mit dem Senat im kleinen Rahmen, begleitet von einem betriebswirtschaftlichen und personellen Paradigmenwechsel. Das JazzFest will mit nun jährlich wechselnden künstlerischen Leitern zurück in die Erfolgsspur finden und hat sich für 2001 mit dem schwedischen Posaunisten Nils Landgren deutlich verjüngt.
Im Windschatten der großen Festivals etablieren sich eine Vielzahl kleinerer Jazzreihen und lokaler Festivals. Seit Jahren räumt das Köpenicker Blues- und Jazzfestival unter der Geschäftsführung von Wolfgang Pinzl stattliche Zuschauermengen mit einer populären musikalischen Mischung ab. Das Jazz Meeting Berlin, organisiert von Helmut Degner und Joe Kutschera, steigt nach einer Senatsabsage auf private Finanzierung um. Junge Jazzstars der internationalen Szene kombiniert das Blue Nites Festivals im Tränenpalast auf intelligente Weise mit lokalen Jazzgrößen, allerdings bislang ohne den gewünschten Publikumserfolg und in diesem Jahr auch ohne Subventionierung. Der JVC-Konzern hat es bei seinem einmaligen Festival-Versuch in Berlin offenbar belassen. Jazzradio 101,9, das seinerzeit mit JVC kooperierte, bestreitet in diesem Jahr zum zweiten Mal nach englischem Vorbild ein Fridge Festival: Parallel zum JazzFest Berlin wird ein Verbund von Jazzclubs werbetechnisch unterstützt durch den privaten Radiosender lokale Jazzmusiker eigener Wahl präsentieren. Ein neuer Versuch im Jahr 2001 ist der Berliner Jazz und Blues Award. Der Verein Jazzinitiative Berlin e.V., geleitet von Olaf Dämlow (Yorkschlösschen) und Tanja Siebert (Jazzradio 101,9), lässt Jazzbands vor den Augen einer gewählten Jury in einer Art Duell-Verfahren den Titel des Berliner Jazzchampions austragen. Die Vorauswahl der Bands findet durch die beteiligten Clubs und Mitglieder statt, avantgardistischer Jazz ist nicht vertreten. Das entgegengesetzte Konzept verfolgt die Jazzfront e.V., indem sie bisweilen so genannte Jazz-Units veranstaltet, den Schwerpunkt auf moderne improvisierte Musik legen und zu einer mehrtägigen musikalischen Begegnung zwischen unterschiedlichen Musikergruppen führen. Jazzinitiative, Jazzfront und andere Vereine mit dem Appendix Jazz im Namen bemühen sich um den Ruf des Berliner Jazz in der Öffentlichkeit. Doch das Feld scheint zu groß und die Interessen zu unterschiedlich, als dass es bislang zu einer starken Interessenvertretung gegenüber dem Senat oder anderen Stellen gekommen ist. Jazz Services e.V. brachte 1998 unter der Leitung von Joachim Litty einen Jazzsampler für die Stadt heraus, der sich leider nicht zu einer kontinuierlichen künstlerischen Dokumentation entwickeln konnte. Der Jazztreff Karlhorst e.V. hat viele Mitglieder, bedient aber mehr oder minder nur eine Region und tendenziell ältere Jazzfans. Der Landesmusikrat und die Landesmusikakademie, sowie einige wenige private Träger wie die Freie Kunstschule Berlin richten Workshops für jüngere Jazzmusiker und BigBand-Interessierte aus.
Das Radio der Stadt, das den Namen Jazz im Namen trägt und 24 Stunden am Stück Musik spielt, die sich Jazz nennt, ist mit Abstand die umstrittenste Jazz-Einrichtung Berlins. Kein Wunder: Seit der Übername durch englische Investoren vor drei Jahren sendet Jazzradio 101,9 ausschließlich so genannten Smooth-Jazz. Im Kampf um Quoten trennte sich Jazzradio 101,9 von den meisten als Moderatoren beschäftigten Jazzexperten, was erbitterte Gefühle hinterließ. So ein Jazzradio brauche ich nicht, schimpfte der international bekannte Schlagzeuger Ernst Bier, ehemals Redakteur für die inzwischen abgeschaffte Berlin-Szene-Sendung. Mehr konkrete Unterstützung erhalten Jazzmusiker durch die öffentlich-rechtlichen Sender. Seit Jahrzehnten produziert der SFB Jazzsendungen, für die Konzerte veranstaltet, aufgenommen und auch als CD produziert werden. Ulf Drechsel, stellvertretend für eine Reihe engagierter Kulturjournalisten, produzierte kürzlich eine multimediale Performance von Willekes Wilder Welt. Die eigene BigBand konnten die Jazzfreunde des Hauses nicht retten, sie wurde in diesem Jahr endgültig abgewickelt. Sicherlich ist die Stadt damit um eine Jazzinstitution mit großen Namen wie Günter Norris, Till Brönner oder dem kürzlich verstorbenen Helmut Brandt ärmer. Andererseits hatte die RIAS-Bigband in Berlin niemals die Bedeutung und den künstlerischen Wert wie etwa die WDR-Bigband im Westen. Den Kontakt zur lokalen Szene hält Jazzradio 101,9 über seine Internetpräsenz. Die Jazzradio-Seite ist auf hohem technischen Niveau und featured ständig bekannte und weniger bekannte Gäste aus der Berliner Jazzszene. Die Journalistin Carina Prange ist Herausgeberin von Jazzdimensions, einem ebenfalls gut funktionierenden Online-Magazin für Jazz mit Ambitionen weit über Berlin hinaus und stilistisch offen gegenüber den Stilarten Worldmusic und Latin. Die dritte große Internetseite für Jazz in Berlin, Jazzfiles, ist eine Mischung aus Jazzsoziologie, journalistischer Provokation und multimedialen Stilelementen. Kein Wunder, dass sich gleich drei Online-Magazine um das Jazzgeschehen in der Stadt kümmern, ist Jazz doch
in der sonstigen Berliner Presselandschaft völlig unterrepräsentiert. Zwar schreiben Wolf Kampmann, Angela
Ballhorn und viele andere Berliner Journalisten für die bundesweite Jazzpresse. Aber die lokalen Medien fassen
Jazz nur mit der Kneifzange an. Als jazzfreundlich gilt allenfalls die Morgenpost, mit Abstrichen der
Tagesspiegel. Zitty, Tip, Berliner Zeitung und Boulevardzeitungen
ignorieren Jazz, obwohl ihre Tagesprogramme voll davon sind. Schützenhilfe von außen kommt da gerade recht.
Josef Engels platziert regelmäßig großformatige Beiträge über Berliner Jazzkünstler
in Die Welt, die dann via Welt-Online an die Internet-Jazzcommunity weitergeleitet werden. Eine Bildungseinrichtung für sich ist Robin Draganic, der seit seiner Rückkehr aus China vor einem Jahrzehnt monatlich zwölf bis zwanzig Jam-Sessions leitet. Robins Nest in der Bebop-Bar und im B-Flat sind Legende in Berlin. Neuankömmlinge auf der Suche nach Kontakten steuern zwangsläufig irgendwann die Repertoire-Schule von Robin Draganic an. Im Rahmen der so genannten Jazz Education versammeln sich zusammengehörige Lehrmeinungen und Spielauffassungen, die über die ganze Stadt Gruppen und Grüppchen von Musikercliquen formen. Konkurrenz belebt das Geschäft und für eine außeruniversitäre Opposition in den Off-Clubs wird damit auch gleich das Fundament gelegt. Legendäre Einrichtungen wie der Eimer, das Acud oder das Raumschiff Zitrone (die Tradition abseitiger Namen hat sich seit dem Comeback des Jazz 1948 in der Berliner Badewanne gehalten) präsentieren Jazzgrößen mit und ohne staatliche Lizenz, vor allem aber mit individuellen künstlerischen Ansätzen im Programm. In genau diesen Spielstätten formt sich das Musikerkonglomerat um Der Rote Bereich, von dort aus nimmt es seinen immensen Einfluss auf die Jazzjugend der Stadt. Die Protagonisten des Jazz-Undergrounds sind Frank Möbus, John Schröder und Rudi Mahall. Zu dritt faszinieren die Herren mit unerhörtem Klang, Rhythmus und einem schlitzohrigen Humor. Die Musik hat so ziemlich alles, um einen Kommentar zur Zeit abzugeben. Sie ist nicht beliebig, sie funktioniert nur als Team, sie verlässt bekannte Wege zugunsten neuer Wendungen, sie ist kraftvoll und persönlich, sie bringt das Blut in Wallung. Die Musik lacht, schreit und seufzt, sie schwitzt und ist ungeniert. Sie hat einen heilenden Einfluss auf Leblose und Unmotivierte. Zu den Konzerten strömen Musikfreaks und Studenten. Gerade die Jazzfans, die im Allgemeinen Mätzchen und intellektuelles Getue ablehnen, werden vom Witz und dem Ausdruck der Band eingenommen. Im Umfeld dieser Musikerpersönlichkeiten ist eine Underground-Szene entstanden, die improvisierte Musik in den vielfältigsten Variationen ausagiert. Freedom of Speech (Henrik Walsdorff, Schröder, Uli Jenneßen), Günther Adler (Mahall, Daniel Erdmann, Heinrich Köbberling, Johannes Fink), Erdmann 2000 (Erdmann, Fink, Möbus, Schröder), Momentum Impakto (Erdmann, Kalle Kalima, Schröder), Sandra Weckert Way Out East (Weckert, Mahall, Erdmann, Kalima, Schröder, Fink), Lax (Walsdorff, Gerold Genßler, Jenneßen, Schröder), Die Enttäuschung (Mahall, Axel Dörner, Jan Roder, Jenneßen), Das Rosa Rauschen (Felix Wahnschaffe, Schröder) diese Liste ließe sich fortsetzen. Einige dieser Bands haben in diesem Jahr umfangreiche Deutschlandtourneen absolviert und außerhalb Berlins Staunen und Anerkennung hervorgerufen. Der Urfranke und Wahlberliner Johannes Fink fasst seine Erfahrungen mit der Musikstadt Berlin und seiner kurzen Rückkehr in die Heimat mit neuer Band und neuem Schallplattenlabel im Rücken repräsentativ zusammen: Vor nicht mal zweieinhalb Jahren bin ich nach Berlin gekommen. Zuerst bin ich auf Sessions gegangen. Dann plötzlich kam ich in die Band von Aki Takase und plötzlich ist alles von allein gelaufen. Es war eine super Entscheidung nach Berlin zu gehen. Dadurch, dass es so viele Musiker gibt, gibt es so viele verschiedene differenzierte Szenen. Der Kreis der Musiker muss möglichst groß sein, um sich entwickeln zu können. Meine Träume werden nun in den Konzerten ausgelebt. Das sind unglaublich geile Gigs, die Läden sind alle voll, die Leute hören zu, sind begeistert und kaufen die CDs. Aus dieser Art Erlebnisse natürlich auch aus anderen: man denke nur an das Swing Revival und den Erfolg des Swing Dance Orchesters oder an Till Brönners Weltkarriere ist der Mythos Jazzstadt Berlin gestrickt. Für Musiker wie Johannes Fink, Frank Möbus, Rudi Mahall oder John Schröder scheint die Hauptstadt stets eine Green Card bereitzuhalten auch oder gerade ohne staatliche Zuschüsse. Allerdings besteht die dringende Gefahr in einen provinziellen Status zurückzufallen, wenn das Festivalsterben nicht gebremst werden kann. Allein die Zukunft wird zeigen, ob die derzeitigen Spielräume erhalten werden und der Besitz der Jazzkrone ein sich selbst stärkender Prozess ist. Albert Weckert |
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