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Rahsaan Roland Kirk spielte gerne mehrere Blasinstrumente zur selben Zeit. Saß man sehenden Auges vor ihm im Publikum, womöglich in der ersten Reihe, schimmerte einem das Gold Afrikas in den Pupillen. In Kirks Augäpfeln hingegen regte sich nichts. Verborgen hinter dunklen Gläsern waren sie kurz nach seiner Geburt erloschen. Wie mag er sich gefühlt haben dort oben auf der Bühne? Ein Jazzkonzert im Dunkeln verschafft uns eine klitzekleine Vorahnung. Ein Essen in vollkommener Finsternis verhilft uns zu einer Simulation blinder Lebensrealität. Ein Jazzkonzert in einem stockfinsteren Restaurant fordert uns und die Musiker mit allen Organen und Sinnen weit über das übliche Maß. Wenn die Augen ausruhen und sich die innere Perspektive in unzählige Dimensionen der Wahrnehmung weitet, dann sind Sie womöglich Gast beim Jazz-Dining im Berliner Dunkelrestaurant Nocti Vagus. Im Schleusenbereich legt sich lautstark ein Schalter um und ein gedämpftes Restlicht strahlt von der Wand. Besucher erleben die Schwelle zur Dunkelheit als ein Abtauchen in tiefes Schwarz. Wie beruhigend die Berührung der Kellnerin wirkt. Eingehängt führt Astrid ihre Klientel an einen von dreizehn Tischen. Drumherum lautstarkes Geschwätz der übrigen Gäste. Jetzt heißt es Tuchfühlung aufnehmen. Messer, Gabel, Tischkante, Weinglas. Mit den ersten Worten an Freunde oder Familie fällt die Vorsicht ab. Bis zur ersten Beule geraten die umnachteten Gäste in hörbar steigende Erregung. Die Ohren machen sich an die Arbeit, durchwandern den Raum per Echolot und begleiten alle Wege der Kellnerin Schritt für Schritt. Mit der Vorspeise klinkt sich der Gaumen in diesen Erkundungsprozess mit ein. Küchenchef Klaus Alex zieht in seinem Kräutergarten kulinarische Träume, die nun erwachen. Feine Nasen geraten in Verzückung und euphorische Hände gießen Selters über den Gläserrand hinaus auf die Hosen. Die Tischnachbarin will kosten? Huch! Das war wohl nicht der Mund... Das überraschende Geschick im blinden Umgang mit Messer und Gabel hat seine Grenzen im Geltungsbereich der eigenen Person. Das Essen überbietet sich bis zum Dessert mit jedem weiteren Gang. Ist die letzte Beere gekostet und die Schaumcreme in all ihren Nuancen geschmeckt, werden die Musiker auf die unsichtbare Bühne geführt. Markus Klossek und Martin Werner haben schon manche Nacht gemeinsam zum Tage gemacht. Im Nocti Vagus aber beleuchtet keine Kerze ein Notenblatt, selbst Uhren mit leuchtenden Displays werden von Gastgeberin Gritt Alack eingesammelt. Anstatt sich wie gewohnt zum Songauftakt zuzunicken und uns freundlich anzublicken, zählt für Klossek und Werner jetzt nur noch – verzeihen Sie das Wortspiel – blindes Verständnis. Blindes Verständnis, das sagt sich leicht. Das Gitarrenduo M & M – benannt nach den Vornamen der Musiker und in Anspielung auf den verblüffend gleichartigen Fortschritt der Kahlköpfigkeit – schwingt auf einer Wellenlänge. Ihre Jazzgitarren sind melodieverliebt, timingsicher und gut abgehangen. Von ihren Eigenkompositionen und den lyrischen Bearbeitungen ausgewählter Standards überträgt sich ein Feeling innerer Übereinstimmung auf das Publikum, das diese Botschaft dankbar annimmt. Der Abschied fällt schwerer als der Eintritt. Zu gut fühlt man sich nun, tiefgehend entspannt und unterhalten. Die Gedanken springen von einer Idee zur anderen. Wie Rahsaan Roland Kirk kann man im Dunkeln ein Weltpanorama von Klang in den Jazz einflechten: unbekannte Instrumente, Musik auf Wasserbasis, perkussive Inszenierungen, Verbalakrobatik. Musik, die unsere Empfindung ins Unendliche erweitert, so, wie Besucher des Dunkelrestaurants das Menue noch nach Wochen auf der Zungenspitze buchstabieren können. Al Weckert
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