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In den düster-rauschhaften „Gesängen des Maldoror” des Comte de Lautréamont, einem der Schlüsseltexte der Moderne, findet sich die Formel: „schön wie die unvermutete Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch”. Eine solche Rede war skandalös: kein klassischer Vers mehr, weder Ausdruck einer immer schon vorgefundenen, „heiligen” Ordnung, noch die Stimme der Seele auf der Suche nach sich selbst. In abgeschwächter Form ist die einstige, durchaus folgenreiche Erregung noch heute spürbar. Der Comte, der bürgerlich Isidor Ducasse hieß und schon mit 24 Jahren starb, war ein Zeitgenosse Baudelaires und Nietzsches; und sein Verneinungswille, seine Zerstörungs- und Zersetzungslust war vielleicht noch heftiger. Seine Poesie sollte nicht der Erbauung dienen; sie formulierte vielmehr ein provokatives Programm, das im Bildersturm und in der Subversion überkommener Werte, Normen und Haltungen die große Chance sah. Die große Chance? Das war, wenn es überhaupt eines gab, das gemeinsame Motto all der Avantgarden und neuen Künste am Beginn des 20. Jahrhunderts: Schon Rimbaud träumte von der „Zerrüttung der Sinne” als Voraussetzung eines neuen Sehens, einer anderen, emphatischen Erfahrung. Zuerst Cézanne, dann die Kubisten Picasso und Braque zerlegten die Körper, um ihre Gesetze zu ergründen. Henri Matisse und die Fauves machten Schluss mit der überkommenen Farbenlehre, um wilder, entgrenzter empfinden zu können, Schönberg und seine Schule ließen die längst bis zum Bersten pralle Tonalität platzen. Die große Chance bestand darin, dass etwas sichtbar, hörbar, lebbar wurde, was bis dahin noch nie gesehen, gehört, gelebt worden war. Die alte Ordnung wurde als Armut und Zwang empfunden. Die neue Regel war eine, die Platz schuf für Zufälle, für Begegnungen und Ereignisse. Am deutlichsten wurde das vielleicht bei den Surrealisten: ihre Methode der écriture beziehungsweise der peinture automatique sollte nichts ausschließen, alles sollte sich, vom Subjekt nicht mehr geplant oder gesteuert, im Zeichen oder Bild zeigen, ereignen. Unterhalb der Welt der bürgerlichen Rationalität wartete die eigentliche: die des Traums, des Unbewussten, des Rauschs, des erotischen Exzesses, des Heiligen im Alltagsleben. Und den Soundtrack dieser authentischen, „wilden” Existenz sollte der Jazz liefern. Die große Chance sollte darin bestehen, dass jetzt, in diesem ausgezeichneten Augenblick, etwas entsteht, was es so noch nie gab – und nie mehr geben würde. Der Musiker folgt nicht einem vorgegeben und reproduzierbaren Text, sondern einer Inspiration, die ihn und den Zuhörer verbindet. Das große Versprechen des Jazz, das ihn heftiger und hitziger machte als jede andere Art von Musik vor ihm, bestand darin, dass durch ihn die Existenz wahrhaftiger und intensiver wird. Man muss nur noch einmal Jack Kerouacs „On the road” lesen, um zu erfahren, wie der Bebop Charlie Parkers zur Initiation für die jungen Männer wird, die nach dem anderen Zustand, nach einem befreiten, „wahren” Leben suchen. Zum Jazz gehört aber eine Paradoxie, die er mit allen Avantgarden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts teilt: im Hirn- und Körperschwitzen der freien Improvisation verwirklicht sich nicht die reine Anarchie, sondern eine Ordnung, die „tiefer” sein sollte als die alte, die sie zum Einsturz brachte. Nicht der Jazz war willkürlich, sondern jede Regel, die sich nicht rechtfertigen konnte, die ihre Autorität ausschließlich einer Hierarchie verdankte, die von den Avantgarden als ungerecht(-fertigt) und anmaßend entlarvt wurde. Was sich im Jazz ebenso wie in Schönbergs Zwölftonmusik oder in einem kubistischen Gemälde ausdrückte, war eine Freiheit, die sich gerade im dauernden Bezug auf eine strenge, aber dezentrierte, de-hierarchisierte Ordnung bewährte. Das, was schon die Surrealisten und später die Situationisten (ver-)suchten, nämlich durch das Arrangieren radikaler Zufälle alte, verhindernde Ordnungen platzen zu lassen und „reine” Begegnungen, pure Ereignisse zu ermöglichen, das unternehmen auch der Jazz, solange er noch nicht zum Genre erstarrt ist, und die neue Elektronik, wenn sie mehr sein will als Funktionsmusik für den Dancefloor oder ein Mittel maschineller Betäubung. Sehr nah am so verstandenen Jazz und an den Avantgarden ist die „Clicks
& Cuts”-Ästhetik des Frankfurter Labels Mille Plateaux,
die sich in nunmehr 100 Veröffentlichungen entfaltet und für
Neueinsteiger am einfachsten auf einer 3-CD-Box studieren lässt,
die diesen programmatischen Namen trägt („Clicks & Cuts”,
MP 98) und viele der wesentlichen Künstler dieses wegweisenden Labels
versammelt. Die erste erschreckte Frage dürfte lauten: Kann denn
rein maschinelle Musik Jazz oder zumindest “jazzy” sein? Welche
Art von Freiheit und augenblickshafter Expressivität ist denn im
Reich der binären Codes überhaupt möglich? Ist Musik in
diesem selbst theoretisch hoch ambitionierten Kosmos, den man auch Trans-Techno
nennen könnte, nicht bestenfalls ein Abfallprodukt oder wenn’s
besser klingen soll: Helmut Hein |
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