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Jazzzeitung
2012/01 ::: seite 15
rezensionen
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The Ultimate Jazz Archive
A Jazz Lunch For Your Ears
52CDs: Membran
Diese 52-CD-Box mit dem vielversprechenden Titel ist allenthalben für
einen niedrigen zweistelligen Betrag zu erstehen und nicht mit der älteren
168-CD-Box gleichen Namens zu verwechseln. Was verbirgt sich dahinter?
Von 50 CDs mit Aufnahmen, die älter als 50 Jahre sind, ist jeder
Silberling einer Künstlerpersönlichkeit gewidmet. Als Zugabe
gibt es eine CD-Rom mit den nötigen Informationen und zwei Sampler
mit modernen Aufnahmen aus dem Katalog der Labels, die von Membran vertrieben
werden. So viel guten Jazz kann man für so wenig Geld in CD-Form
kaum erwarten! Die Box wäre unschlagbar, wäre man bei der Zusammenstellung
(laut Werbung „Resultat hervorragender Recherche“) planvoll
vorgegangen. Die einzelnen Künstler werden nicht unbedingt mit „Best
of“ beziehungsweise „Greatest Hits“ präsentiert,
sondern meist mit irgendwelchen Aufnahmen. Mal führen obskure, mal
weltbekannte Einspielungen in das Schaffen des Jazzers ein, zuweilen
sind es typische, gelegentlich untypische Aufnahmen. Hier wird ein berühmtes
Album eins zu eins übernommen, da ist es eine Mischung aus Alben.
Wundert man sich zum Beispiel bei Billie Holiday, warum es ausgerechnet
diese Aufnahmen sein mussten, so reiht sich bei Sarah Vaughan Juwel an
Juwel. Trotz dieser Konzeptlosigkeit: Jeder Jazzfreund wird damit einige
Tage lang (ähnlich einem Briefmarkensammler mit einer Wundertüte „1.000
Stück aus aller Welt“) freudige Entdeckungen machen.
Mary Lou Williams
A Keyboard History
CD: Poll Winners Records
Mary Lou Williams gilt als berühmteste Jazzpianistin, doch völlig
abgesehen von ihrem Geschlecht oder ihrem Instrument war sie eine der
größten Persönlichkeiten der Jazzgeschichte: als Komponistin,
Arrangeurin, Bandleaderin, als für Zeitgenossen stets anregendes
Stück lebendiger Jazzgeschichte. Sie war ihrer Zeit stets voraus:
In den 20er-Jahren ehörte sie zu den Pionieren jener Musik, die
man in den 30er-Jahren Swing nannte. In den 40er-Jahren nahm die Mitschöpferin
des Kansas City Swing Partei für Bebop, und noch im Alter ließ sie
sich noch auf manches Experiment ein. Sie war, wie Duke Ellington einmal
treffend bemerkte, immer und ewig eine Zeitgenössin. Wer wäre
berufener als sie gewesen, ein Album „A Keyboard History“ zu
nennen und mit den Stücken von den Roots in die Gegenwart zu wandern – ohne
je allzu weit weg vom Blues zu sein, in dem sie das heilende Element
des Jazz sah. Das mit Wendell Marshall (b) und Osie Johnson (dr) 1955
eingespielte Album – hier mit dem im Vorjahr in Paris eingespielten
Album „Mary Lou“ gekoppelt – ist nicht nur ein genialer
Rückblick auf die bisherige Jazzklaviergeschichte und ihre bisherige
Karriere, es war ihr vorübergehender Abschied vom Jazz. Während
ihrer Europatournee hatte sie sich nämlich spontan so intensiv dem
christlichen zugewandt, dass ihr weiterer Berufsweg erst einmal unklar
war. Die „Keyboard History“ entstand nach langer innerer
Einkehr. Dem Album folgten Jahre des Betens, Meditierens und Predigens.
Dizzy Gillespie Octet feat. Benny Golson: The Greatest Trumpet Of Them
All
LP: Waxtime
Trotz eines Pressfehlers seines Exemplars empfiehlt der gerührte
Rezensent vorbehaltlos dieses in Besetzung und Repertoire unytpische
Gillespie-Album. Vermutlich, weil ein schlecht gewählter Titel unerfüllte
Erwartungen auf virtuoses Feuerwek des Bebop-Königs mit den Froschbacken
und der himmelwärts gebogenen Trompete schließen lässt,
kommt dieses Album bei Kritikern eher schlecht weg. Und doch gelang Dizzy
Gillespie (tp), Gigi Gryce (as), Benny Golson (ts), Pee Wee Moore (bs),
Henry Coker (tb), Ray Bryant (dr), Tommy Bryant (p) und Charlie Persip
(dr) 1957 ein Meisterwerk. Gillespie beschränkt sich auf die Rolle
des primus inter pares, um sich ohne Clownerien und auf Sparflamme einer
weniger hitzigen Ästhetik anzupassen. Er ist das i-Tüpfelchen
eines glänzend arrangierten Klanggemäldes aus durchaus satten
Pas- tellfarben, für das zwei große Arrangeure und Komponisten
1957 fast alle Songs beisteuerten: Golson („Blues After Dark“)
und der unterschätzte, vergessene Gryce („Smoke Signals“).
Das Resultat klingt in etwa so, als wäre das kurz darauf entstandene
Jazztet (mit Gillespie an Stelle von Art Farmer), gestützt vom Bryant
Trio zum Miniatur-Orchester angeschwollen, um mit der Hilfe einer klangfarblichen
Raffinesse, die beim Miles Davis Nonet anknüpft, mitten in der hitzigen
Hardbop-Ära eine Schönheitsfeier wonnig weicher, wohlig warmer
Partituren zu veranstalten. Romantisch-impressionistischen…
Wes Montgomery
Movin’: The Complete Verve Recordings
5 CDs: Verve
Als er einmal Charlie Christian hörte, legte sich Wes Montgomery
eine Gitarre zu und brachte sich selbst bei, darauf zu jazzen. Weil er,
wie seine Frau ihm versicherte, zu laut war, verzog er sich in eine Ecke
und vertauschte das übliche Plektrum mit seinem legendären
Daumen. So entwickelte er autodidaktisch eine Spielweise, die ebenso „technisch
unmöglich“ ist und doch verblüffend funktioniert. Montgomerys
eindrucksvolle Oktavläufe werden heute noch gerne abgekupfert. Erstaunlicherweise
blieb er – sieht man von einer kurzen Zeit bei Hampton ab – bis
in die späten 50er-Jahre Fabrikarbeiter, der nur nach Dienstschluss
in seiner Heimatstadt Indianapolis auftrat. Seine Aufnahmen für
Riverside (1959–63) sind der Höhepunkt seines Schaffens. Allerdings
scheint ihm kompromissloses Jazzen so wenig eingebracht zu haben, dass
er nach dem Bank- rott des Labels ernsthaft in Erwägung zog, wieder
in der Fabrik zu arbeiten. Die Rettung des siebenfachen Familienvaters
kam in der Gestalt von Creed Taylor, der ihn mit Instrumentalfassungen
von Pop- hits lancierte. Die hier (abgesehen von weniger bekannten alternate
takes) vereinten Alben für Verve (1964–66) haben zwar überwiegend
kommerziellen Charakter, doch gelang es Arrangeuren wie Oliver Nelson,
Don Sebesky und Claus Ogerman Montgomery goldene Käfige zu basteln,
in denen des gefangenen Jazzvogels Gesang immer noch zur Geltung kommt.
Horst Jankowski Quartet 1971
Swinging Explosion
LP: HGBS
Dass Alben aus der „guten alten Zeit“ nicht nur auf CD, sondern
auch in ursprünglicher LP-Form wieder erhältlich sind, ist
längst wieder eine Selbstverständlichkeit. Ein recht neuer
Trend hingegen ist, dass auch Erstveröffentlichungen nur noch auf
Vinyl und zum Download angeboten werden. HGBS könnte dafür
zum Trendsetter werden, so wie sein Vorgängerlabel MPS in den 70er-Jahren
schon Standards setzte, vor allem dafür, wie ein Jazzklavier auf
LP zu klingen habe. Doch nicht alles, was der legendäre Tonmeis-
ter Georg Brunner-Schwer damals produzierte, erschien seinerzeit. „Swinging
Explosion“, ein etwas weniger kommerzielles Album des einst in
der Fernsehunterhaltung sehr präsenten Berliner Pianisten Horst
Jankowski, erschien nun posthum aus Anlass von dessen 75. Geburtstag.
Es atmet ganz das Flair jener Jahre: An Peterson geschulter moderner
Swing, funkig und poppig durchsetzt, technisch versiert und hinreichend
originell – „How High The Moon“ wird schon mal gegen
den Strich, ja absichtsvoll gegen den Swing gebürstet. Man ahnt,
warum das mit Sigi Schwab (g), Hans Rettenbacher (b) und Lala Kovacec
(dr) 1971 eingespielte Album vierzig Jahre warten musste: In jenen Tagen
gingen Tastenmagiere wie Peterson, Hines, Garland, Alexander, Hanna und
Garner bei MPS ein und aus, neben denen Jankowski (immerhin mit zwei
anderen LPs 1970 und 71 im MPS-Katalog vertreten) sich ausnimmt wie ein
immerhin sehr guter Zauberlehrling.
Marcus A. Woelfle |