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Manchmal hat es den Anschein, als sei sie das dunkle Herz und der Motor der Moderne, von jedem gefürchtet und von allen bedient: Die Furie des Verschwindens, wie Hegel es nannte, das permanente und immer raschere Veralten, ja Löschen von Lebensformen, Haltungen, Verfahrensweisen, Medien und Kodes, die (angeblich) nicht mehr zeitgemäß und deshalb zum Untergehen bestimmt sind. Die intellektuelle oder vielleicht doch eher sentimentale Reaktion auf die Erfahrung des Verlusts ist das kulturkritische Gejammere, das seit einiger Zeit auch das Musikgeschäft erfasst hat. Aber: Kulturkritik tut nur so, als analysiere sie; ihr Wesen ist geradezu die Verweigerung der Einsicht, das Wegwischen von Kausalitäten und die Konstruktion von Schein. Der Preis, den die Kulturkritik und alle, die ihr Glauben schenken, zahlen, ist Verzweiflung und Leere, ein Nicht-Weiter-Wissen-und/oder-Wollen, das zu Regression führt: zu aggressiver Trauer, die nach „Schuldigen“ sucht. Derzeit herrscht pure Panik im Musik-Biz; jedenfalls bei den Großen, die immer nur das Geschäft im Sinn hatten. Dass alles immer enger und flacher wird, dass der „Grund“ des Geschäfts wegbricht und das Niveau immer bodenloser wird, ist aber nur eine Tunnelblick-Wahrnehmung, die einst auch im Osten bloß realsozialistische Öde sah, eine Daseins-DIN-Norm von Warschau bis Wladiwostok, wo kurz darauf wüste Dissidenz, Eigensinn, ein Wuchern von Traditionen sich als die wahrere, zu Konflikt und Bürgerkrieg führende Wirklichkeit herausstellte. Auch der kapitalistische Westen macht nur scheinbar platt: die „schöpferische Zerstörung“ des Ökonomen Schumpeter, so zynisch sie für die Betroffenen daherkommt, führt zu Differenz. Das Verschwinden von Medien, Genres, Formen ist bloß Schein oder Mode; alles kehrt, chimärisch, in resistenten Varianten, blühend wieder. Das gilt für die Hardware, also etwa für die Renaissance von Vinyl und Club- oder Kneipenkonzerten, aber mehr noch für die Sounds und Songs, die es noch nie in solcher Vielfalt gab. Das wichtigste Reservoir neuer, erneuerter Vielfalt ist heute der Jazz;
ein Jazz freilich, der durchlässig geworden ist für alles andere,
der nicht Kitsch ist, also Abwehrzauber und gewalttätiges Rückzugsgefecht,
sondern gewissermaßen die Furie des Verschwindens bei den Hörnern
packt. Dieser Jazz, der „Verdrängung“ (in der Psyche
wie im Material) nicht nötig hat, sucht nicht die reine Expression;
bei ihm wird der Ausdruck zum „track“, an dem der Schmutz,
die Spur haftet. Die avanciertesten Projekte und Virtuosen wollten immer
schon ihr Leben und den Eigensinn ihrer Medien, Instrumente hörbar
machen. Die Beschädigung gehörte zur Ekstase, sie war ihr Innerstes.
Was bei Hegel noch bloße Zumutung war, die Logik der Maschine, die
sich der des Lebens, des Subjekts entgegensetzt, das wird jetzt, im reichen
„Clickhouse“-Universum beispielsweise, zum ästhetischen
Zeichen, ja Fanal. Zu jeder Musik, die mehr ist als Kitsch, zum Jazz aber ganz besonders, gehört das prekäre Wissen, dass Identität nicht in der Wiederholung, sondern nur in der Variation hergestellt und bewahrt werden kann. Musik gibt es überhaupt erst, wenn es Abweichung, Differenz und Dissidenz gibt. Besonders heftig wird das gegenwärtig in den Metropolen erfahren, dort also, wo sich Kulturen durchdringen und das Eigene zu verlieren meinen. Das ist freilich lediglich Schein: Denn das Eigene braucht das Andere; es ereignet sich in ihm, wenn es mehr sein soll als Fetisch oder Maskerade. Während die „Fusion“ der 70er Jahre Vernichtung von Differenz war, die Herstellung eines Mainstreams, der für alle verträglich daherkam, produziert die gegenwärtige Vermischung der Stile, Formen, regionalen Traditionen und „Würzen“ gerade neue Abweichungen, eigene Sub-Genres und dazugehörige Sub-Kulturen. Die „Oriental Club“-Mode, die Panjabi MCs „Mundian To Bach Ke“-Hit folgte, vermischt Banghra und Beats, die aus dem HipHop-Kontext stammen, macht indische Hochzeitsmusik zu einem spezifischen Erkennungszeichen einer bestimmten Dancefloor-Community und, zumindest eine Saison lang, das Archaische zum Moment der Modernität. Dass diese Musik, anders als die „Fusion“ findiger Produzenten in den 70ern, deren Existenz und Identität von ihrem „Gebräu“ nicht erfasst und verändert wurde, „heiß“ ist, an ethnischen und kulturellen Bruchlinien sich bildet, zeigt nicht nur die Beinahe-Fatwa gegen Panjabi MC, weil er, fast schon aus einem kulturellen Versehen heraus, religiöse Gesänge als Background-Sound benutzte. Man kann es Tag für Tag in den „Nachbarschaften“ der großen Städte beobachten, wo die Einwanderer der zweiten und dritten Generation, unter dem Bann der Beschleunigung, ihr Leben neu definieren müssen. Die Furie des Verschwindens hinterlässt Ruinen; aber jedes Bruchstück hat auch das Zeug zum Baustein. Noch paradoxer wird es, wenn man beobachtet, dass ein Duo wie „Les Noubiens“ mit ihrem Afropean HipHop in Südafrika zum Herzstück einer neuen, panafrikanischen Identität wird und dann feststellen muss, dass diese betörenden Gesänge von kamerunischen Einwanderern der zweiten Generation stammen, die im Pariser Underground nach dem „Phantom“ des schwarzen Kontinents graben. Helmut Hein |
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