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Auch ein Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung befinden sich deutsche West-Ost-Befindlichkeiten in einer Schieflage, die Bundesrepublik Deutschland im Zentrum Europas ist in sich zerrissen. Diese Meinung vertreten die Macher von contrapunkt, der 2002 ins Leben gerufenen Musiksendung des Bayerischen und des Mitteldeutschen Rundfunks. Für den BR moderiert Jazzzeitungs-Herausgeber Theo Geißler zusammen mit seinem MDR-Kollegen Manfred Wagenbreth. Am 19. November 2002 ging es im Bayerischen Bahnhof in Leipzig um das Thema „jazz: free./.frei“, eingeladen waren die Musiker Ernst-Ludwig Petrowsky und Joachim Kühn und die Jazzjournalisten Bert Noglik (MDR) und Gudrun Endress (Jazzpodium, SWR). Die Jazzzeitung war live dabei und druckt an dieser Stelle eine gekürzte Fassung der anregenden und erhellenden Diskussion.
Theo Geißler: „ free contra frei“ haben wir ein bisschen heimtückisch unsere Spannungsfeldbegrenzer getauft, wohlwissend, dass es noch immer viele Menschen gibt, die „frei“ für die wörtliche Übersetzung von „free“ halten. Aber lassen Sie sich doch mal den schönen Satz: „Die Gedanken sind free“ auf ihrem Trommelfell zergehen und schon wissen Sie ein bisschen genauer, was wir meinen. Manfred Wagenbreth: Nur wenige Musikrichtungen dürften fürs
breite Publikum so diffus umrissen sein wie der Jazz und ebenso wenig
hinterfragt. Jazz, ist das nicht das, was aus dem kreolisch schwarzen
New Orleans kommt, oder das, wo man so entspannt mit der rechten Hand
oder mit der Linken wahlweise schnipsen kann, oder das, wo jeder macht,
was er will. Free eben. Und doch hat es seit gut 50 Jahren eine Entwicklung
gegeben, die den Jazz auch hierzulande vom amerikanischen Original emanzipiert
und entfernt hat. Zwei Künstler, die maßgeblich daran Anteil
hatten, haben wir heute bei uns zu Gast, ebenso eine Kollegin, einen Kollegen,
die jeder für sich so sachkundig sind, wie es keinem von uns beiden
jemals vergönnt sein wird und in dieser Entwicklung begleitet und
dokumentiert haben. Ernst-Ludwig Petrowsky: Prinzipiell ja, ich erinnere mich. Und ich stehe eigentlich immer noch dazu, obwohl jetzt kein leibhaftiges Beispiel in der Nähe gerade gewirkt haben könnte, sollte, hat. Geißler: Frau Endress, charmant, wie wir sind, gehen wir davon aus, dass auch Sie den 50er-Jahre-Jazz eher so vom Hören, von der Schallplatte her kennen, und sicherlich darüber gelesen haben. Wolfgang Knauer, ich weiß, der ist auch noch ziemlich jung, vom Darmstädter Jazz-Institut meinte, bei Leuten um die 54 eine Art Break festmachen zu können. Da hätte der deutsche Jazz zum ersten Mal angefangen, sich bisschen vom amerikanischen zu emanzipieren. Gudrun Endress: Man könnte einen Markenstein setzen bei dieser Generation. Aber ich glaube, schon in den Tanzorchestern der 20er-Jahre wurde in Deutschland ordentlich gejazzt. Man kann also nicht sagen, es gibt den so genannten deutschen Jazz, der sich sehr unterscheidet. Wir haben eben Beispiele gehört, Kühn und Cecil Taylor. Wer von unseren Hörern könnte mit Bestimmtheit sagen, das eine ist deutsch und das andere ist amerikanisch. Joachim Kühn: Das ist doch ganz egal, wo jemand geboren ist, wenn die Musik spielt, das ist nun mal Jazz. Das hat sich schon insofern emanzipiert, dass eben auch ein Europäer in der Lage ist, mit Amerikanern zusammen zu spielen. Wagenbreth: Es heißt ja, um mal in der Geschichte zu bleiben, es habe auch in der DDR, unmittelbar nach Kriegsende, so etwas wie ein gewisses Laissez-faire gegeben, hinsichtlich des Jazz, seiner Musiker und der Leute, die ihn hörten. Das war offenbar nur eine kurze Periode, die spätestens in den 50er-Jahren vom kulturpolitischen Bannstrahl beendet wurde. Herr Noglik, wie konkret lassen sich überhaupt einzelne Stationen oder Epochen in der Entwicklung des Jazz in der DDR zu dieser frühen Zeit festmachen? Bert Noglik: Ich glaube, man muss zwei Ebenen unterscheiden: zum einen die musikalische, stilistische und zum anderen die kulturpolitische. Was die Abnabelung des deutschen oder europäischen Jazz von den amerikanischen Vorbildern anbelangt, so ist es sehr schwierig, das an einem bestimmten Jahr oder an einer bestimmten Phase festmachen zu wollen. Das sind Langzeitprozesse, da wird vieles akkumuliert, und irgendwann erreicht es eine neue Qualität. Der europäische Jazz beginnt mit Django Reinhardt, aber wenn wir uns dann in den 60er-Jahren Albert Mangelsdorff ansehen, wächst langsam etwas, es entstehen spezifische Züge, die es so in Amerika zuvor noch nicht gegeben hat. Bereicherung, das ist also die eine Seite. Die andere Seite ist die: Wie stellt sich das Ganze unter dem Blickpunkt kulturpolitischer Prozesse dar, und da kann man sehr wohl klare Einschnitte feststellen. Die Phase 1945 bis 1949 war wirklich in der damaligen sowjetischen Besatzungszone eine Zeit von hoher Liberalität, was den Jazz anbelangt. Weil die Sowjets zunächst mal den Jazz gefördert haben – in Berlin beispielsweise durch die Plattenfirma Amiga. Wagenbreth: Was heute im Rückblick schwer vorstellbar ist. Haben Sie eine Vorstellung, warum die sowjetische Militäradministration so etwas zugelassen hat?
Noglik: Ich nehme an, es war für einen Teil der intellektuellen sowjetischen Kultur, der Offiziere, so ein Gefühl der Befreiung. Wir müssen uns das vorstellen: Bei den Siegesfeiern auf dem roten Platz wurde „Chattanooga Choo Choo“ von Glenn Miller gespielt und zwar von einer sowjetischen Militärkapelle. Das sagt einiges aus. Aber dann setzte sich mehr und mehr die strikte an Stalin orientierte Kulturpolitik durch, und in der DDR war dann ab der Kulturkonferenz von 1952 Schluss, alle Jazztitel wurden aus dem Rundfunkprogramm gestrichen. Es gab zwar keine generellen Verbote, was Jazz anbelangte, aber er zählte zur Musik des Klassenfeindes. Geißler: Es gab jede Menge harter Worte, in DDR-Lexika findet man solche Sätze wie: „Jazz ist ein Giftgasangriff auf das proletarische Bewusstsein“, oder „Jazzer, egal welcher Hautfarbe, die Bebop oder Cooljazz spielen, das sind Snobs, das sind Volksschädlinge“ und ihr Publikum eigentlich dann gleich mit dazu. Ich meine, solche Diktion, die kennt man ja eigentlich aus der Nazizeit. So sind die Nazis mit Jazz umgegangen. Herr Petrowsky, Herr Kühn, war das für Sie von Bedeutung, hat Sie das betroffen und berührt? Kühn: Ja, auf jeden Fall. Ich kann mich an einen Moment noch sehr gut erinnern. Wir spielten damals einmal pro Woche Dixieland in so einer Art Clubhaus in Leipzig. Eines Abends kamen sie – wir nannten sie damals Bonzen – rein und wollten wirklich mit uns anfangen, über Jazz zu diskutieren: Was das für eine amerikanische, imperialistische Musik sei und wie volksschädigend. Wir konnten denen nicht klar machen, dass Jazz von den Schwarzen Amerikas kommt, die selbst gelitten haben, mit denen wir eigentlich in einem Boot sitzen sollten, das konnten die nicht begreifen. Geißler: Herr Petrowsky, haben Sie in dieser Zeit deratige Erfahrungen machen müssen? Petrowsky: Durchaus. Es gab ja immer diese rigiden Erlasse das Repertoire betreffend: Es gab da ein Gesetz: 40/60. Es mussten 60 Prozent DDR-Kompositionen und 40 Prozent erlaubtes Westmaterial gespielt werden. Wobei das Letztere auch noch genehmigt werden musste. Wagenbreth: Aber hatten die Warmer und Mahner der DDR-Kulturpolitik nicht vielleicht von ihrer Seite aus doch recht? Denn den Jazz gibt es noch, die DDR nicht mehr. Petrowsky: Das stimmt nicht. Es hatte natürlich wirtschaftspolitische, ökonomische Hintergründe. Die DDR musste die Lizenzen der betreffenden „verbotenen“ Titel in harter Währung zahlen. Und in Bezug auf harte Währung war die DDR natürlich ganz weich. Wagenbreth: Haben auch philosophische Aspekte eine Rolle gespielt? Dass eine Musik, die nach Freiheit drängt, wie der Jazz notwendigerweise in die Bandagen geraten musste in einem System, in dem die Rolle des Individuums nur eine untergeordnete spielt.
Noglik: Ich denke schon. Die Vorstellung von Improvisation ist etwas, das in einem System mit sehr strikten, ideologischen Kategorien schwer unterzubringen ist. Etwas, was sich der Kontrolle, was sich dem Dirigismus im weitesten Sinne entzieht. Mental, auf der Ebene von Stimmung, auf der Ebene von Befindlichkeit, stand Jazz bestimmt immer gegen das System. Das war ja genau das, was die Funktionäre auch so gestört hat und was sie nicht dingfest machen konnten. Andererseits war der Vorteil der Jazz-Musiker der, dass Jazz sich eben nicht verbal festmachen, sich nicht interpretieren ließ wie selbst noch simple Werke bildender Kunst. Wagenbreth: Ich entsinne mich an spätere Jahre der DDR als in Berlin unter Rock- und Popmusikern der Spruch umging: „Na, den Jazzern können sie ja nicht an‘ Karren fahren, die machen ja keine Texte.“ Wobei die Formensprache des Jazz natürlich eine viel widerborstigere war als jeder noch so aufmüpfig gemeinte Text, glaube ich. Geißler: Wechseln wir die Seiten: Gibt es weitere Eckpunkte, an denen sich in der damaligen Bundesrepublik der Jazz weiter von der amerikanischen Musik emanzipierte, das Wort kam um 1963 auf… Es gab eine Bürgerbewegung auch im Westen, es gab eine Friedensbewegung, es gab dann 1967/68 die ersten Studentenproteste. Dem Jazz sagt man nach, er hätte mit solchen Phänomenen eigentlich nichts zu tun und nichts am Hut. Stimmt das so, Frau Endress? Endress: Ja, in jener Zeit war ein großes Unbehagen unter der Jugend. Wir gehören ja alle so ungefähr zur selben Generation. Wir wissen, dass wir als 20- bis 25- Jährige alle neue Wege suchten, wir waren mit nichts mehr zufrieden, analog zur Musik: weder mit dem vorgegebenen Lebensrhythmus, noch mit unserer Gesellschaft der Harmonie, noch mit dem, was wir auszusagen hatten. Man hat in allen Bereichen des Lebens neue Möglichkeiten gesucht, Grenzen gesprengt, Dinge liquidiert und das hat sich in der Musik ganz stark gespiegelt. Wagenbreth: Herr Petrowsky, ich nehme an, dass Sie den Blick nach dem oder zu dem, was im Westen Deutschlands passierte, immer hatten. Wie haben Sie das wahrgenommen, was da passierte mit Leuten wie Schlippenbach, Mangelsdorff oder Holzmann später. Petrowsky: Wir waren nie ohne Verbindung, aber das direkte Wahrnehmen passierte dadurch, dass die Genannten aber auch ein paar Weiterangereiste aus Wuppertal, Peter Kowald, Peter Brötzmann und und und, mit uns in Ostberlin, den Grenzüberschritt vom Westen nach den Osten nicht scheuend, musizierten. Und das artete dann oft zu mehr oder weniger, ich will es nicht Orgien nennen, aber doch sehr orgiastischen, musikalischen natürlich, Festivitäten der freien Improvisation aus. Geißler: Man sagt ja, der Jazz in der DDR hat eine ganz
eigene Sprache entwickelt. Frau Endress, wie wurde das denn bei uns im
Westen empfunden? Geißler: Jetzt möchte ich doch noch mal zurück in diese Grauzone zwischen Politik und Psychologie, in der sich ja eine ganze Menge entwickelt hat. Herr Noglik, wie haben Sie diese Dependenzen beobachtet? Noglik: Deutliche Unterschiede gibt es zwischen den 60er- und 70er-Jahren. In den 60ern war es das Aufbegehren von Kühn, das ich kurz noch mitbekommen habe, es war die Phase 1964 bis 1966, wo wirklich etwas Eigenständiges in der Musik passiert ist, etwas, was man so, zuvor auch im Jazz der DDR, gar nicht gekannt hat. Und dann, davon abgesetzt, gab es eigentlich eine größere Bewegung mit innovativer Musik erst in den 70ern beginnend mit Gruppen wie Synopsis. Zu der zählten Petrowsky, Konrad Bauer, Günter Sommer und Ulrich Gumpert, die Gruppe gibt es immer noch unter dem Namen: „Zentralquartett“. Mit dieser Gruppe setzte so etwas wie eine Initialzündung ein und auf einmal brachen sich freie Spielformen des Jazz Bahn. Da passierte etwas Neues im Sinne einer Bewegung. Das, was ich zuvor erlebt habe, mit Kühn, war ein genialer Vorstoß, der allerdings erstmal Jahre folgenlos blieb. Geißler: Freie Form, das bedeutet individuelles Musizieren. Und damit hat sich die offizielle Kulturpolitik der DDR besonders schwer getan. Mit welcher politischen Akrobatik ist man diesem Phänomen denn beigekommen? Noglik: Die Szene hat sich ihre Kanäle selbst geschaffen. Das heißt, kleine Clubs an Universitäten, Clubhäusern, Kulturhäusern, Interessengemeinschaften fingen an, sich zu organisieren und Jazzkonzerte zu veranstalten. Auf diese Weise ist eine Infrastruktur entstanden, jenseits der hochoffiziellen staatlichen Kanäle. Das wiederum schaffte Auftrittsmöglichkeiten für Musiker, und so ist allmählich eine ganz eigene Szene gewachsen. Wagenbreth: Herr Petrowsky, hat Ihrer Meinung nach die Kulturpolitik der DDR resigniert, oder waren die Genossen erleuchtet worden? Petrowsky: Das war wohl ein Nachgeben vor der Flut der immer
populärer werdenden Jazzmusik, die natürlich auch eine Menge
Publikum anzog, das gar nicht so fachmythologisch oder mental dem Jazz
nahe stand, das auch nicht genau wusste, warum es geht. Aber es war eine
andere Luft, ein anderes Ambiente. Auf der anderen Seite, ich weiß
nicht, ob man das so sagen kann, wir haben eigentlich eine uralte Geschichte
mit der freien improvisierten Musik. Es gab eine Lücke, die, zwischen
Mitte der 60er-Jahre, als Joachim Kühn die DDR verließ, da
hatte er eigentlich schon nicht nur für sich und seine Band Signale
gesetzt, sondern auch für eine Menge von Musikern in der DDR. Kühn: Ja unbedingt. Ich hatte eine Grenze erreicht, die
nicht zu überspringen war. Es gab alle möglichen Schwierigkeiten.
Erst mal ging ich nach Prag, um Jazz spielen zu können, 1964. Und
als ich zurückkam, gab es den ersten „Jazzclub“ der DDR
in Potsdam, wo wir jedes Wochenende, Freitag, Samstag, Sonntag, im Restaurant
des Rathauses spielen durften. Das war unser erster fester Job, das war
schon enorm. Es war das erste Mal, dass es den Begriff „Jazzmusiker“
in der DDR überhaupt gab. Es ließ sich davon leben. Wir spielten
manchmal auch noch andere Jobs. Und für 50 Mark, also Ostmark damals,
als wir noch unsere Reise selbst bezahlen mussten und das Hotel. Solche
Jobs spielten wir natürlich auch. Wir haben wirklich von unten angefangen.
Einfach nur, um diese Musik spielen zu können. Geißler: Ernst-Ludwig Petrowsky, was wurde aus dem DDR-Jazz nach 1989? Was wurde aus seiner Widerborstigkeit? Petrowsky: Es wurde ein bisschen extremer auf der einen Seite, auf der anderen Seite wurde die Möglichkeit des kommerziell angepassten Schleimscheißertums genutzt. Das ist bis heute so geblieben. Damals? Da war es eigentlich das Gegenteil. Nachdem Joachim weggegangen war, blieb der Rest der DDR einer Übermacht von Schleimscheißertum ausgeliefert. Was Joachim möglicherweise noch gar nicht weiß: Die DDR mit dem Karlheinz Deim – Rundfunkprodzent und heimlicher Jazzliebhaber – obwohl er in der zentralen Parteileitung eine Funktion hatte, hatte beschlossen, eine Art durch den DDR-Rundfunk sanktionierte Jazzband zu gründen. Joachim und ich, wir sollten die Leitung des Ganzen sein. Was daraus wurde, ist unter dem Begriff des Rundfunk Jazzensemble Studio 4 mehr oder weniger nur im Osten bekannt geworden. Obwohl einer unserer ersten Jobs (1968) eine Teilnahme beim Jazzfestival Montreux war. Geißler: Frau Endress, warum haben wir bei uns die Schleimscheißer so gerne aufgenommen? Endress: Die Freejazz-Generation, das war Sturm und Drang – irgendwann ist man geläutert und verbindet alle diese Erkenntnisse und das Wissen, das man im Freejazz gesammelt hat, um vielleicht wieder mehr in die Mitte zu kommen. So war es bei sehr vielen. Auch dein Kollege Peter Brötzmann spielt heute nicht mehr so spröde wie damals. Petrowsky: Ich habe gehört, dass Peter ein bisschen sanfter geworden ist. Ich finde aber, es ist noch immer das abenteuerlichste, was es gibt, wenn man frei improvisieren kann. Wagenbreth: Welche Einflüsse hat Ihrer Ansicht nach der Boom der „Weltmusik“ auf den Jazz? Petrowsky: Ich habe Probleme mit Kategorien. Der Jazz ist in seinen besten Zügen und Inhalten immer schon eine Weltmusik gewesen bevor der Begriff Weltmusik aufkam. Der Jazz beinhaltet in sich eine ganze Menge von verunglückten Vokabeln und Begrifflichkeiten. Die zerplatzen wie Luftballons und es bleibt immer nur die Essenz übrig. Der Begriff Jazz hat Platz für Kreatives, Unbequemes, Gutes, aber auch Poppiges, Weichgespültes. Man muss eben nur wissen wo man sich ansiedelt: auf der erfolgsorientierten Schiene oder auf dem Nagelbrett des Asketentums. Geißler: Dieses Nagelbrett bekommt bei uns hier in Deutschland einen tollen Boden. Die Jazzausbildung ist so gut wie noch nie. Die Strukturen sind so gut wie noch nie. Es gibt Bundesjazzorchester, es gibt Landesjazzorchester, es gibt Big Bands in den Schulen. Führen diese Strukturen nicht dazu, dass ein Stück Zentralherz - eben das freie beeinträchtigt wird. Noglik: Diese flächendeckende Jazzausbildung ist ein ambivalentes
Phänomen. Was sich vermitteln lässt, das ist Technik und Know
how, aber ganz bestimmt nicht die Seele. Und wenn wir davon sprechen,
dass Jazz so etwas wie einen Genialitätsfaktor in sich birgt, dann
ist der sicher nicht vermittelbar. Wenn wir die Zahlen sehen, in der Jazzmusiker
heute ausgebildet werden, dann müssen wir uns fragen: wo sollen die
alle hin? Wagenbreth: Ist Seele in einer Gesellschaft des Überflusses schwerer zu finden? Endress: Ein Jazzmusiker ist immer durch ein individuelles Element gekennzeichnet: Ob sie das Seele nennen oder inneres Anliegen, das macht keinen Unterschied. Kühn: Das Problem ist: Es gibt zu viele Schulen. Es spielen so viele Leute, die können gar nicht alle gut sein. Es gibt vielleicht unter 1.000 Leuten vielleicht ein Talent, das in der Lage ist international überhaupt mitzuhalten. Das ist nicht nur in Deutschland so, das ist überall so. Geißler: Die brauchen doch keine Stars werden... Kühn: Die wollen Jazz spielen – und um Jazz spielen zu können, da brauch man Auftritte in Clubs. Das ist sogar im lokalen Bereich schon schwierig genug, ganz zu schweigen vom internationalen. Wagenbreth: Bert Noglik, müsste man nicht auch fragen, wo soll das Publikum herkommen, das die hören soll? Noglik: Man sollte mehr Augenmerk auf die Publikumshörerziehung richten. Wir bilden möglicherweise zuviel Jazzmusiker und zu wenig Publikum aus. Endress: Mann muss auch die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten ins Gebet nehmen. Man konnte beobachten, dass die Jazzsendungen immer später gesendet werden, junge Menschen haben überhaupt keinen Zugang zu dieser Musik mehr. Und die Sendungen werden immer spärlicher, der Etat für Konzert- und Clubmitschnitte wird immer weiter beschnitten. Wagenbreth: Bert Noglik, wo kommt ihre Hoffnung her? Noglik: Die Sättigungstendenzen haben doch keineswegs alles
platt gemacht. Ganz im Gegenteil. service: contrapunkt
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