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Zu seinen Lieblingsthemen zählt eine Reise durch unterschiedliche Zeitebenen. Was wie eine Phantasmagorie anmutet, wird von der Alltagsrealität einer Stadt inspiriert, in der fast jeder Spaziergang durch mehrere Stilepochen führt: Prag. Jiri Stivin lässt sich von „seinem“ Prag inspirieren. Auf einer Platte, die bereits vor fünfzehn Jahren veröffentlicht wurde, findet sich sein Titel „An Alchemist’s Trip“. Wie einst die Alchemisten im Goldmachergässchen im Prager Burgviertel mischt Jiri Stivin die unterschiedlichsten musikalischen Substanzen zusammen. Manches bleibt Experiment. Doch im Glücksfall verwandelt sich das Unscheinbare, das scheinbar „Unedle“ in klingendes Gold.
Jiri Stivin wandert durch die musikalischen Jahrhunderte und begibt sich nicht nur auf Ausflüge durch Böhmens Wald und Flur, sondern auch auf Exkursionen in die Gebiete zwischen den etablierten Genres, in die Grenzgebiete zwischen Gestern und Heute, zwischen Jazz, Folklore, Alter und Neuer Musik. Wären die Begriffe nicht schon so abgenutzt, würde man ihn als talentierten Tausendsassa mit böhmischem Musikantenblut beschreiben. Was wie eine unbändige Vielzahl von Aktivitäten anmutet, wird von einer Mentalität zusammengehalten, die sich in unterschiedlichen musikalischen Bereichen unmittelbar mitteilen will. Jiri Stivin weiß nicht nur als Multiinstrumentalist, sondern auch als Multibegabung zu überzeugen: Instrumentalist, Komponist, Improvisator. Aus der Perspektive des Jazz betrachtet sehen wir einen Protagonisten der tschechischen Szene und einen Flötisten mit internationalem Renommee. In Kreisen der Alten Musik schätzt man ihn vor allem als Blockflötenvirtuosen und beseelten Interpreten. Er spielt unterschiedlichste Instrumente der weltweiten Flötenfamilie, Saxophone und Klarinetten. Er lässt sich vom Jazz beflügeln, und er offenbart ein inniges Verhältnis zur Musik des Mittelalters, der Renaissance und des Barock. Stivin, geboren am 23. November 1942 in Prag, studierte zunächst an der Prager Filmakademie und begann seine künstlerische Laufbahn als Kameramann. Obwohl man ihm besondere Begabung als „Augenmensch“ attestierte, begann er sich mehr und mehr für die Welt des Klingenden zu begeistern. Einer frühen Episode kommt mehr als nur anekdotische Qualität zu. In der Pause eines Konzerts, das der junge Kameramann besuchte, verkaufte ihm jemand in der Pause eine Flöte. Stivin, seit Jahrzehnten als Flötist profiliert, kommentierte rückblickend: „Es hätte auch irgendein anderes Instrument sein können.“ Bereits Anfang der sechziger Jahre offenbarte er einen Hang zum Universellen. Er nahm privaten Flötenunterricht bei Milan Munclinger, einem Experten für Alte Musik, und er spielte mit einer der ersten Prager Rockgruppen, den „Sputnici“. Bald war es vor allem der Jazz, der ihn faszinierte. Mit Martin Kratochvil gründete er „Jazz Q“, mit dem Veteranen Karel Velebny am Vibraphon spielte er in der „SHQ Combo“. Ende der sechziger Jahre, nach Niederschlagung des Prager Frühlings, lebte Jiri Stivin vorübergehend in London, wo er an der Royal Academy of Music bei Johnny Dankworth Komposition studierte und mit dem „Scratch Orchestra“ um Cornelius Cardew in die Avantgarde-Bezirke vorstieß, Anfang der siebziger Jahre, nun wieder zu Hause in Prag, entstand jenes Duo, mit dem Jiri Stivin auf internationalen Festivals in ganz Europa Furore machte: das „System Tandem“ mit dem Gitarristen Rudolf Dasek. Die beiden ergänzen sich auf wundersame Weise: Dasek, der einfallsreiche, doch vergleichsweise introvertierte Akkord-Arbeiter, und Stivin, der über das Trapez tänzelnde Flöten-Artist. Nach unzähligen Konzerten mit musikalischen Gesprächen über eigene Themen, Standards des Jazz und Volksmelodien befürchteten beide, dass sich Routine ausbreiten könne. Folgerichtig haben sie sich im verflixten siebenten Jahr freund-lich getrennt, freilich um sich von 1985 an, dann unter dem Namen „System Tandem Reunion“ und mit frisch geladenen musikalischen Batterien, zu neuen Dialogen hinreißen zu lassen. Jiri Stivin braucht die musikalische Veränderung – sowohl was die Stilbezirke als auch die Spielfelder anbelangt. Mit seinem wechselnd besetzten „Jiri Stivin & Co Jazz System“ widmet er sich dem Jazz und der zeitgenössischen Improvisationsmusik. Mit seinem „Collegium Quodlibet“ vitalisiert er die Musik vorklassischer Jahrhunderte. Stivin spielt mit den Virtuosi di Praga, mit den Prager Madrigalisten, dem Prager Sinfonieorchester, dem Talich Quartett, dem Suk Kammerorchester, mit internationalen Jazzgruppen wie dem „European Jazz Ensemble“ und mit Big Bands. Er schreibt Film- und Theatermusiken sowie Werke, die sich im konventionellen Sinne nicht mehr kategorisieren lassen. Zu seinem 50. Geburtstag, den er im Prager Jazzclub „Reduta“ feierte, veröffentlichte er eine Duo-Platte, auf der er mit seinem hochbegabten Sohn, Jiri Stivin jr. am Schlagzeug, zu hören ist. Fünf Jahre später folgte, benannt nach Variationen über ein Thema von Jan Pieterszoon Sweelinck, eine CD mit Blockflötenmusik des 17. Jahrhunderts: „Mein junges Leben hat ein End“. Jiri Stivin offenbart Momente von Melancholie wie die böhmischen, mährischen und slowakischen Volkslieder, die er so hinreißend jazzinspiriert zu interpretieren weiß. Doch seine ungestüme Lebenslust widersetzt sich jeglichem Methodenzwang. Mag ja sein, er wäre wirklich weltberühmt, wenn er sich nicht hinter seiner Mütze verstecken und ganz auf eine Sache, einen Stil, ein Instrument konzentrieren würde. Aber dann wäre er nicht mehr Stivin, der Individualist, der in der Morgendämmerung unerkannt, mit diversen Flöteninstrumenten unter dem Gehrock, durch das magische Prag streift wie ein Alchemist. Bert Noglik
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