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Jazzzeitung

2008/01 ::: seite 3

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Inhalt 2008/01

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene / kurz, aber wichtig


TITEL - Musikerschicksal
Die Geschichte des Jazztrompeters Werner Steinmälzl – Teil 1


DOSSIER
- Musikbücher
Die wilden Zwanziger
Robert Nippoldt und Hans-Jürgen Schaal und ihr opulentes Buch über New York

Jazz-Visionen aus 40 Jahren
Ein Bildband von Siggi Loch

Drei Wünsche frei
Pannonica de Koenigswinter und ihre Labour of Love

Ein kleines Meisterwerk
Der Fotograf Jimmy Katz und seine Musikerporträts


Portraits

Stéphane Grappelli, Sabine Kühlich, Gilad Atzmon, Hyperactive Kid, Soulsängerin Ledisi, Daniel Glatzel

… und mehr im Inhaltsverzeichnis

Von der Eleganz des Swing

Zum 100. Geburtstag von Stéphane Grappelli – Von Bert Noglik

Als er im November 1996 am Jazzfest in Berlin spielte, glich das einem großen Abschiednehmen. Er spielte im Rollstuhl, aber wie er musizierte, das war eine Antithese zur Gravitationslehre: leicht, schwerelos, nicht etwa dem eigenen Alter trotzend, sondern dieses vergessen machend und den ganzen Saal verzaubernd. Ein Greis mit einer geradezu schelmenhaft aufblitzenden Geistesgegenwart. Ein Veteran ohne Verlust an virtuosem Vermögen. Wie so oft hatte er auch in diesem Konzert nicht mit den Klängen gegeizt, sich nicht lange bitten lassen, noch und noch eine Zugabe zu spielen, hatte er sich generös gezeigt, ja geradezu an sein Publikum verschenkt. Zum Schluss: andächtiger Beifall und entzündete Feuerzeuge wie bei einem Rockkonzert. Das Bild eines gerührten Altmeisters vor einer großen Wiese brennender Kerzen. Ein Jahr später ist er gestorben, 89-jährig in jener Stadt, in der er das Licht der Welt erblickt hatte: Paris.

Stéphane Grappelli

Bild vergrößernStéphane Grappelli

Ich erinnere mich an einen Tag im Oktober 1993. Wir hatten ihn zu einem Konzert in das Leipziger Gewandhaus eingeladen, begaben uns auf die Fahrt zum Flughafen, kamen in einen Stau und folglich zu spät. Da saß er ganz friedlich auf einem Stühlchen aus Eisengeflecht, die Violine auf dem Schoß, die kaum ein Mensch bezahlen kann, und meinte, er hätte schon damit gerechnet, dass ihn irgendjemand abholen würde. Beim Konzert ließ er sich mit dem Rollstuhl bis an den Bühnenrand fahren, intonierte dabei auf der Violine „Auf in den Kampf“ und nahm alle Kraft zusammen, sich hochzureißen und aufrecht in der Mitte zwischen Gitarristen und Bassisten zu positionieren.

Stéphane Grappelli, der in einem Waisenhaus aufgewachsen ist, begann seine Laufbahn als Pianist und Geiger in den kleinen Kinos und Hinterhöfen von Paris. Als Halbwüchsiger hatte er von seinem aus dem Krieg zurückgekehrten Vater, einem Philosophieprofessor, eine Dreiviertel-Geige geschenkt bekommen, die dieser im Geschäft eines italienischen Schuhmachers entdeckt hatte. Der Junge brachte sich das Spielen auf Geige und Klavier selbst bei, sprach deshalb später oft davon, die Musik vom Himmel geschenkt bekommen zu haben. Er spielte zur Begleitung von Stummfilmen und in einem Salonorchester, zunächst Klavier, weil er befürchtete, sich mit der Geige nicht genügend Gehör verschaffen zu können. Dennoch war es die Violine, die es ihm besonders angetan hatte, und bald auch der Jazz, den er durch Schallplatten kennen lernte, die damals zu den Raritäten zählten. Musik wie die von Louis Armstrong oder Bix Beiderbecke wollte er auf der Geige spielen, ja ihm schwebte vor, der „Art Tatum der Violine“ zu werden. In diesem Wunsch, den amerikanischen Hot Jazz auf einem Instrument zu intonieren, das zu den Ikonen der europäischen Musikkultur zählt, liegt ein Schlüssel für die spätere Eigenständigkeit, für die Besonderheit, die ihn zum Weltstar machte. Stéphane Grappelli war in einem anderen Milieu als dem des Jazz, er war mit anderen Klängen aufgewachsen, mit der französischen Popularmusik, der Klassik und dem Farbenreichtum der Impressionisten. Bereits Anfang der 30er-Jahre traf er mit dem Gitarristen Django Reinhardt zusammen, einem Manouche, beheimatet in der Kultur des fahrenden Volkes, der französischen Sinti. Man erzählt, Django wäre so fasziniert vom gemeinsamen Spiel gewesen, dass er Stéphane Grappelli noch nachts in seinen Wohnwagen eingeladen habe, wo beide stundenlang musiziert hätten. Während beide in einem Unterhaltungsorchester engagiert waren, das an den Champs-Élysées zum Tanztee aufspielte, erzählt man weiterhin, wäre Grappelli eine Saite gerissen und er hätte sich hinter der Bühne neu eingestimmt. Django spielte ein bisschen vor sich hin und auch der Bassist Louis Vola stimmte ein. Was wie eine Zufallsklimperei anmutete, war die Geburtsstunde eines neuen Klanges – kammermusikalisch und swingend. Aus der Faszination dieser Saitenspiele ist das „Quintette du Hot Club de France“ erwachsen – jene Gruppe mit Violine, Gitarre und drei Gitarristen, die einen der ersten wesentlichen, längst nicht mehr wegzudenkenden Beitrag Europas zur Weltsprache des Jazz leistete. Während der Pariser Weltausstellung 1937 engagierte die Sängerin Bricktop, so genannt wegen ihrer roten Haare, das Quintett für einen Pavillon, den sie voll mit Tischen stellte, so dass das Publikum nicht tanzen konnte. Endlich, erinnerte sich Grappelli, konnte diese Musik so gehört werden wie die eines klassischen Streichquartetts. Dabei gingen für ihn, den Jazzman, Unterhaltung und Kunstanspruch bereits damals Hand in Hand. „Noch heute“, äußerte er rund 60 Jahre später im Interview, „sprechen die Menschen von diesem Quintett“. Und er sagte das ohne Koketterie, so, als ob es ihn selbst verwundere.

Der unberechenbare und in seinem Wesen „wilde“ Django und der kultivierte, besonnene, gebildete Stéphane Grappeli waren so verschieden, wie zwei Menschen nur irgend sein können. Und dennoch oder vielleicht deshalb vermochten sie sich trefflich zu ergänzen, haben sie viele Stücke gemeinsam komponiert, eigentlich improvisiert, da Django Reinhardt keine Noten lesen konnte. Spannungen zwischen beiden gab es reichlich, auch Zerwürfnisse. Und trotzdem wusste Stéphane Grappelli sehr wohl, was er an dem Sinti-Gitarristen hatte und was er ihm verdankte: nicht nur einen kongenialen Partner im Zusammenspiel, sondern auch den Einfluss aus der Erfahrung einer nicht an die Normen des Mainstream angepassten Kultur, die diese ohnehin schon komplexe Musik noch reicher machte. Nach der Trennung von Django und auch viele Jahre nach dem Tod des Gitarristen vermied Grappelli eine Besetzung wie die des „Quintette du Hot Club de France“. Ihm war klar, dass es sich um ein Original handelte, das sich nicht kopieren ließ. Als er später ein Quartett mit einem Kontrabassisten und zwei Gitarristen formierte, stellte er stets einen Stuhl auf die Bühne, einen Stuhl für Django.

Stéphane Grappelli spielte mit vielen der Großen des Jazz, mit Musikern wie Oscar Peterson und Joe Pass, auch mit früheren amerikanischen „Herausforderern“ wie Joe Venuti, Eddie South und Stuff Smith, mit Jüngeren, die seiner Tradition folgten, mit Innovatoren wie McCoy Tyner und Martial Solal und mit einem der Meister der klassischen Musik: Yehudi Menuhin. Dieser bescheinigte dem Jazzgeiger, „das Violinspiel durch Phantasie, perfekte Technik und spontanen Gefühlsausdruck“ bereichert zu haben. Das Instrument, das er von Michel Warlop, dem französischen Geigenpionier übernahm, ging von Hand zu Hand weiter an die jeweils nachrückend talentierten Jazzgeiger: an Jean-Luc Ponty und Didier Lockwood. Dass Grappelli viele Nachfolger und Nachahmer gefunden, aber im eigentlichen Sinne keine „Schule“ gemacht hat, nimmt nicht wunder angesichts der Einzigartigkeit seines Geigenspiels. Die Musik des „Hot Club de France“ freilich beflügelt viele Gruppen, die diesen Stil pflegen und dafür sorgen, dass man ihn live erfahren und nicht nur von Schallplatten kennen lernen kann.

Zu den letzten Einspielungen Stéphane Grappellis zählt eine Platte, die er mit dem Pianisten Michel Petrucciani aufgenommen hat: „Flamingo“. Der schon in sich zusammen gesunkene Stéphane Grappelli mit dem infolge der Glasknochenkrankheit kleinwüchsig gebliebenen Pianisten. Zwei Zerbrechliche, die das Zarte anklingen lassen, die aber nicht nur mit Sentiment, sondern auch mit Temperament gemeinsam ein Fest des Lebens zelebrieren. Noch in seinen späten Lebensjahren huschte ein Anflug von Jugend über das Altersgesicht des Geigers, wenn er sich ganz dem Spiel und seinem Publikum hingab. Und sein Terminkalender war angefüllt mit Konzertdaten weit über seine Lebenszeit hinaus. „Ich reise noch immer viel, auch wenn ich mitunter schon etwas müde werde“, gestand er mir im Interview. „Wenn man für die Leute spielen will, muss man dorthin gehen, wo man sie antrifft. Und ich habe solches Vergnügen daran, diese Musik zu spielen, dass ich das bis zum Ende tun werde.“

Bert Noglik

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