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Jazzzeitung

2007/05  ::: seite 13-14

rezensionen

 

Inhalt 2007/05

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene / kurz, aber wichtig


TITEL - Endzeitstimmung
Wir erleben die Apokalypse des Jazz


DOSSIER

Individualisten aus Chicago
Zum Tod des Pianisten Andrew Hill und des Geigers Johnny Frigo

I like the way you play
Abschied von Joe Zawinul mit Erinnerungen an eine bewegte Zeit


Portraits

Jean-Luc Ponty, Kristin Asbjørnsen, Daniel Smith, Harald Banters Media Band, Besuch bei Richie Beirach

… und mehr im Inhaltsverzeichnis

Die Rezensionen 5/2007

Thilo Wolf
In A Personal Mood. Big Band –

Jazz Quintet – Jazz Trio – Piano Solo
MDL JAZZ

Thilo Wolfs Big Band hat sich in den letzten Jahren mit „Swing it!“ als feste Größe im Bayerischen Rundfunk und als Fernsehorchester in der Prime-Time der deutschen Abendunterhaltung etabliert. Anlässlich des 15-jährigen Bestehens der Band und bislang 20 eingespielten CDs mit Jazz-Größen aus dem In- und Ausland, nahm Wolf in großer und kleiner Besetzung eine neue CD auf, die ihn und seine Ensembles persönlich – in a personal mood – widerspiegeln soll.
Neben dem erwarteten und geschätzten Big Band-Sound der 60er-Jahre in Tradition von Benny Goodman und Freddie McKay, begeistert George Gershwins „Fascinating Rhythm“ im eingespielten Trio von Wolf am Piano, Bassist Markus Schieferdecker und Drummer Paul Hochstädter.
Das wenig bekannte Filmthema zu „Tim & Struppi“ im Jazz Quintet (sax, cl, fl, b, dr, g, p) bietet einen angenehmen Kontrast zum übrigen Programm des Tonträgers: ein warmes Saxophon- und nachdenkliches Pianospiel wechseln sich in leicht-jazziger Comic-Charakteristik ab.
Vom Bandleader selbst sind drei spritzige Kompositionen auf der CD zu finden, die das Repertoire gleichermaßen einrahmen und in ihrer Essenz zusammenfassen. So ist „Dapper’s Tune“ ein mitreißender Song der Big Band Tradition in Reinkultur, „Le Chat Sauvage“ hingegen für Piano Solo der stille Höhepunkt der Einspielung – ein romantisches Stück mit eingängiger Melodie und softer Harmonisierung.
Friederike Neermann

Jan Lundgren
Magnum Mysterium

ACT 9457-2

Was die Vielseitigkeit angeht, ist der schwedische Pianist Jan Lundgren schwer zu übertreffen.
Nach einer fundierten klassischen Ausbildung pendelt er als Jazzpianist zwischen dem „Great American Songbook“, skandinavischer Volksmusik und kammermusikalischen Formationen. Mit „Magnum Mysterium“ wendet sich der 41-Jährige nun der sakralen Vokalmusik der Renaissance zu. Teile von Messen und Motetten des 16. Jahrhunderts werden zum Ausgangspunkt für Lundgrens pianistische Interpretationen.
Zwar machen Dirigent Gustaf Sjökvist und sein Kammerchor ihre Sache ganz ausgezeichnet – doch Jan Lundgrens melodiöses, sich verträumt dahin schlängelndes Spiel steht doch recht unvermittelt neben den eher strengen Gesängen von Monteverdi bis Orlando di Lasso.
Der Pianist hat einen Special Guest eingeladen, den Bassisten Lars Danielsson, der zarte Loops und elektronische Effekte beisteuert. Leider überziehen die beiden die alte Vokalmusik mit einem romantisierenden Gefühls-Zuckerguss. Zuweilen streifen sie die Grenze zur Sentimentalität – schließlich ist eine solche Gefühlsseligkeit jenem ausschließlich dem Lob Gottes gewidmeten Gesang völlig fremd. Überdies ergibt die Unvereinbarkeit der alten Kirchentonarten mit der temperierten Dur-Moll-Stimmung des Klaviers einen Missklang. Worin eigentlich Lundgrens künstlerische Absicht bei diesem Projekts liegt, bleibt ein „magnum mysterium“.
Antje Rößler

Glücklich 1
K.ill Y.our D.arling

Neuklang NCD 4017/SunnyMoon

Eine Rumpelkammer mit Ikea-Holzregal. Darin verstaut, Hängetoms, Motorradhelm, Pappkarton und Filmrollen, Requisiten der Vergangenheit. Aus diesem Erinnerungstrash hat die Sängerin Winnie Brückner mit ihren drei zu „Glücklich 1“ geeinten Musikerfreunden aus Weimar, Marco de Vries, Hannes Daerr und Janis Görlich, ihr Debütalbum „K.ill Y.our D.arling“ bestückt. Songs in deutsch und englisch, darunter einen von Irving Berlin und Ralph Towner. Letzteren hat Brückner mit einem berückend poetischen Text umstrickt und als „Liebe nur“ uns als ewige Metapher und unerträgliche Frage aus dem Regal der eigenen Rumpelkammer geholt. Es ist ein bemerkenswertes Debüt, inhaltlich wie formal, mit reizvoller Besetzung: Bassklarinette, Gitarre und Casio, Schlagzeug. Sängerin Brückner steuert noch Elektronisches bei. Die Musiker – akademische Jazzer aus Weimar und Berlin (HfM Hanns Eisler), die parallel alle in ganz verschiedenen Projekten – darunter BundesJazzOrchester, Berliner JugendJazzOrchestser – stecken und engagiert sind. Als Produzenten haben sich die Vier Glücklichen Gitarrist Frank Möbus geholt, der über das Bandprojekt mit einem seiner Schüler ins Schwärmen geraten ist: „Die Zusammenarbeit mit Glücklich1 gehört zweifelsohne zu den künstlerisch spannendsten Aufgaben, die mir in letzter Zeit begegneten!“ Man kann den Ex-Nürnberger verstehen, eine musikalisch wie textlich derart interessante und eigenwillige Entdeckung im gefährlichen Gestrüpp zwischen Pop, Jazz und Avantgarde hat absoluten Seltenheitswert.
Michael Scheiner

Paul Bley
Solo in Mondsee

ECM 1785 CD 6025 1709775 (9)

Paul Bley kehrt nach Jahrzehnten dorthin zurück, wo er 1972 mit seinem Solo Album „Open, To Love“ bereits einen Meilenstein setzte. Rechtzeitig zu seinem 75. Geburtstag veröffentlicht ECM nun sein für das Label zweites Soloalbum „Solo in Mondsee“. Eingespielt bereits im April 2001 in der wundervollen Atmosphäre von Schloss Mondsee in Österreich auf einem herrlichen Bösendorfer Imperial, der mit seiner unübertroffenen und berührenden Klangfülle dem Anschlag und Spiel Paul Bleys sehr entgegenkommt.
Er eröffnet seine Soloimprovisation mit einem kurzen Anschlagen und Nachklingen der Bassseiten. Danach folgen zehn brillante Improvisationen mit immer wieder überraschenden musikalischen Einfällen, Wendungen und Richtungen. Für Sekunden blitzen vertraute, bekannt geglaubte Melodien oder Rhythmen auf, um sofort wieder in ihre harmonischen Bestandteile zerlegt zu werden. Paul Bley stellt in seinen Mondsee Variationen immer wieder klar umrissene, kurze Sequenzen vor, überlässt sie dann mit seinen Improvisationen darüber der weiteren Fantasie des Hörers und greift über allem fast zurückhaltend, meditativ in die Tasten. Klingt kompliziert, ist es aber überhaupt nicht und funktioniert bei Paul Bley hervorragend. Alles in allem sind dies Improvisationen eines abgeklärten Meisters, der weder sich noch dem Hörer etwas beweisen muss, sondern einfach mit der Ästhetik und Simplizität von Klängen spielt, sie klar strukturiert und den Hörer in den wunderbaren musikalischen Kosmos von Paul Bley entführt.
Thomas J. Krebs

Michael Brecker
Pilgrimage

Universal Music 060251726351

Es ist schwer die letzte Aufnahme eines gerade verstorbenen Musikers zu würdigen und dabei objektiv zu bleiben. Aber Michael Breckers CD „Pilgrimage“ ist (s)ein Vermächtnis, konzipiert und eingespielt in den kurzen Zeitspannen, in denen er trotz seiner schweren Krankheit noch die Kraft hatte zu spielen. Das Ganze mutet elegisch an, bedenkt man Hintergründe und Tragik, die mit der im Jahre 2005 bei Michael Brecker diagnostizierten Krankheit MDS verbunden ist, aber die Musik ist alles andere als trauernd. Mit unbändiger und enormer Kraft spielt Brecker noch einmal auf, unterstützt von Herbie Hancock, Brad Mehldau, Pat Metheny, John Pattitucci und Jack DeJohnette. Die neun Stücke der CD, alle aus Breckers Feder, ziehen den Hörer von Anfang an in den Bann. Fast spielt Brecker kraftvoller denn je, bläst riesige, wuchtig kantige Statements auf seinem EWI und Tenorsaxophon. Allein mit dem Opener „The mean time“ oder seinem „Tumbleweed“ setzt sich Michael Brecker ein Denkmal. Erst nach mehrmaligem Hören erschließen sich Themen, Improvisationen und Feinheiten, die das facettenreiche Album ausmachen, zumal seine Kompositionen herrlich vielfältig und zugleich alles andere als eingängig sind. Michael Brecker ist einer der ganz großen Meister gewesen. Mit seinen kongenialen Mitstreitern entfacht er durch sein großartiges Spiel ein letztes, leidenschaftliches Feuer, das noch lange nachglühen wird.
Thomas J. Krebs

Josh Roseman
New Constellations Live in Vienna

Enja Records/NIN 1906 2

Womöglich wären den Pilzköpfen bei Josh Rosemans Dub-Version ihres niedlichen Liebesliedchens „I Should Have Known Better“ und dem am Ende folgenden Live-Remix die Haare zu Berge gestanden. Da aber sind heute die Tantiemen vor. Fette Posaunenlinien verzwirlen sich auf dem neuen Album des New Yorker Posaunisten mit uurrgs-Electronic, ssshhoouie-Samples, cool groovenden Reggaerhythmen, Bläsersätzen und anderen verwirrenden und mitreißenden Sounds zu einer aparten Mischung. Auf „Live In Vienna“ verwandeln sich Reggae-Roots, Ska und Dub in interstellare Klangausflüge. Neben neu arrangierten jamaikanischen Klassikern von den Skatalites, Paragons und Abyssinians gibt es auch einige ungewöhnliche Originals des Bandleaders. Abenteuerlustige Bläsersoli, aktuelle Rechnertechnologie und experimentelle Abläufe sorgen dafür, daß das alte Ska-Material zum Sprungbrett in die Zukunft wird. Nach zwei höchst unterschiedlichen und hoch gelobten Alben mit Rocksongs und Acid-Jazz, wechselt Roseman damit erneut die Richtung. Eine aufregende Musik, die vor Ideen, Energie und den wildesten Schlenkern zu bersten scheint. Josh Roseman gehört heute zu den eindrucksvollsten Individualisten auf der Jazzszene. Der mehrfache Poll-Sieger ist ein gefragter Sideman, spielte mit Dave Holland, Dave Douglas, Meshell Ndegeocello, Steve Coleman, Uri Caine, John Zorn und Matthew Shipp.
Michael Scheiner

Don Cherry – Gato Barbieri Karl Berger Aldo Romano Bo Stief
Live At Café Montmartre 1966

ESP Disk ESP 4032/SunnyMoon

Wiederveröffentlichungen aus den frühen Zeiten des Free Jazz sind immer wieder ein Erlebnis. Im Fall von Don Cherrys früher Kopenhagen-Aufnahme im legendären Café Montmartre markieren sie zugleich einen entscheidenden Punkt in der Karriere dieses unvergessenen Musikers. Er hatte die gewohnte Umgebung seiner New Yorker Partner verlassen und sich mit Musikern aus aller Welt zusammengetan, eine Art Start in die Weltmusik Jazz. Zusammen mit dem deutschen Vibraphonisten Karl Berger, dem südamerikanischen Saxophonisten Gato Barbieri, dem dänischen Bassisten Bo Stief und dem italienischen Schlagzeuger Aldo Romano, alle damals noch in stürmischen „jugendlichem Alter“ zelebriert er alle Vorzüge der neuen Freiheit ohne die Erinnerungen an Bop und Ornette Coleman vergessen zu machen. Symptomatisch auch, dass er zwei der Titel mit dem Begriff „Coctail“, der schwunghaften Mischung vieler unterschiedlicher Einflüsse in Verbindung bringt. Traumhaft ist das kongeniale und manchmal geradezu hymnische Bläserzusammenspiel mit Barbieri, dessen kraftvolle Eskapaden noch ungebrochen sind. Deutlich nachzuvollziehen auch die emanzipatorisch gelungene Freiheit und Virtuosität der drei Europäer, heute Teil der Legendensammlung des Jazz der letzten 40 Jahre. Auf jeden Fall ein Erlebnis!
Hans-Jürgen von Osterhausen

Dietmar Osterburg-Trio
For a while

NRW Vertrieb 2007

„For a while“ – für eine Weile ... mitgenommen wird man auf Anhieb vom gleichnamigen Album des Trios um den Gitarristen Dietmar Osterburg aus Braunschweig. Osterburg ist nicht nur ein stilistisch brillanter Solist auf den sechs Saiten, sondern in seinem vielseitigen Musikerleben auch Kontrabassist, Musikpädagoge und Schöpfer von Theatermusiken – er hat dabei Jazz und Klassik gleichermaßen verinnerlicht. Auf dem vorliegenden Debütalbum durchdringt er ganz mühelos die Weiten eines hellhörig-modernen Gitarrenjazz. Einer beredten Stimme gleich entfaltet sich sein ausgesprochen organisches Spiel auf der elektrischen und akustischen Gitarre. Mit einnehmender Wärme fügen sich die Kompositionen wie Perlen einer Kette zu einem mitreißenden Entwicklungsbogen zusammen. Osterburgs melodische Einfälle und sprühende Improvisationen weisen geradezu klassische Finesse auf. Bassist André Neygenfind und Schlagzeuger Eddie Filipp sind derweil als dynamische Rhythmusgruppe betont leichtfüßig präsent, um diesen Reichtum impulsiv zu verstärken oder geschmeidig zu verdichten. Hier gelingt die hohe Kunst, aus einer solchen Interaktion heraus starke Atmosphären zu kreieren. Lyrisches Verweilen ist dabei genauso angesagt wie zupackendes Temperament viel Raum erobert – manchmal gar auf funkigen Höhenflügen in bester Scofieldscher Manier.
Stefan Pieper

Keith Jarrett/Gary Peacock/Jack DeJohnette: My Foolish Heart –
Live At Montreux 2001

ECM 2021/22 – 2-CD 6025 173 7326

Jazzstandards haben kein Verfallsdatum. Ihre Konsistenz erweist sich nicht durch Interpretation, sondern indem ihre Aneignung das historische Original je individuell transzendiert. Solche Kreativität haben Keith Jarrett, Gary Peacock und Jack DeJohnette in ihrem Programm „My Foolish Heart – Live At Montreux 2001“ gezeigt. Wobei sie den Titelsong aus einem offenen Intro zu legerem Swing bringen, an dem entlang sie harmonisches und rhythmisches Potenzial für die Gegenwart entdecken. Ebenso surft Keith Jarrett an und über die modalen Grenzen des „Four“-Themas von Miles Davis. Dichte Interaktionen, genaue Basskontrapunkte und Trommel fill-ins bereiten für ihn den spontanen Kurs. Vielleicht unerwartet, aber konsequent ist die Hinwendung des Trios zu den historischen Wurzeln der Jazzpianostilistik, nämlich Ragtime: „Ain’t Misbehavin’“ ist eine virtuose Hommage an Fats Waller, die Gary Peacock mit einem „vokalen“ Basssolo (es könnte wirklich Scatgesang sein) und Jack DeJohnette mit flexiblen Drumakzenten feiern. Presto beschleunigt dann „Honeysuckle Rose“, die Keith Jarrett frappierend linker Hand jongliert. Gar nicht „Foolish“ (töricht) haben Keith Jarrett, Gary Peacock und Jack DeJohnette diesen und anderen Standards ihre unverbrauchte vibrierende Energie gegeben: so entstand ihr ultimatives Album.
Hans-Dieter Grünefeld

Marc Copland New York Trio
Recordings – Vol. 2 (Voices) with Gary Peacock & Paul Motian

Pirouet PIT 3023

Kaum sensiblere Musik ist denkbar als die wachsam sorgsame Interaktion eines Meistertrios seelenverwandter Feingeister. Kaum feinnervigere Mitspieler hätte sich Marc Copland suchen können zum zweiten Band seiner New Yorker Tri(o)logie als Paul Motian und wiederum Gary Peacock! Bereits der Auftakt mit dessen „Vignette“ legt an den Tag, auf welchem Niveau hier die Balance von Individualität und Gemeinsinn erspielt wird. Kein Ton ist zu viel, kein Akzent zu wenig. Anregend, in feiner Schattierung, spannungsvoll konturiert zeigt sich Peacocks „Albert“, in quecksilbriger Flüchtigkeit bewegt sich das Copland-typische „Rivers Run“. Miles Davis’ „All Blues“ zeigt faszinierend schillernde Farben von eindringlicher Tiefe. So offenbart sich das kommunikative Geflecht dreier leiser, aber bestimmter „Voices“ in so sanftmütiger wie aufrichtiger Ästhetik als wahrlich erhabenes Trio.
Tobias Böcker

Schlippenbach Trio
Winterreise

psi 06.10/Emanem

Obwohl das Schlippenbach Trio dreieinhalb Jahrzehnte existiert, mithin die am längsten bestehende Combo des europäischen Jazz ist, hat es bislang allenfalls ein halbes Dutzend Aufnahmen vorgelegt. „Winterreise“, im Kölner Loft live eingespielt, ist eine weitere Aufnahme, die das Trio in ein günstiges Licht rückt. Es bewegt sich wie gewohnt im Kosmos freier musikalischer Assoziationen. Die drei Musiker bewegen sich aufeinander zu und weg, alles auslotend. Dabei zeigen sie keinerlei Ermüdungserscheinungen, feilen weiter an ihrem Vokabular. Alexander von Schlippenbach wird nicht müde, die Möglichkeiten des Flügels auszunutzen, Evan Parker besticht einmal mehr durch ein zirkular geatmetes großes Sax-Solo, Paul Lovens lotet die diffizilsten perkussiven Dinge aus bis hin zu zarten Farbtupfern.
Das Trio lebt von der Präsenz seiner souveränen Instrumentalisten und vom spontanen Powerplay.
Reiner Kobe

Louis Sclavis
L’imparfait des langues

ECM 1954

Louis Sclavis legt die Melodie mit seinem Sopran in aller Ruhe zu Weltschnipsel von Donner und Hinterhofkindern aus. Elektronische Cluster einer Bitches-Brew-Tastatur. Leicht folkloristisch beschwingte Linien geschwätziger Bläser zur Rohheit energetischer Reliefs aus Gitarren und Synthesizer. Das Quintett liefert ein Nummernprogramm in üblichem Wechsel zwischen thematischem Material und Improvisationen. Ein leicht zu durchschauendes Konzept mit schematischen Vorzeichnungen. Selten öffnen Bruchzonen den musikalischen Horizont. Reizvoll sind Sclavis’ Solo als Muezzin, Maxime Delpierre’s Gitarre im neunten Stück und ein Miles-Tribut. Dass ein berühmter Musiker sein Instrument gut spielen kann, ist allgemein anerkannt, aber dass er über mehr bis minder einfallsreiche Passagen hinaus die spielerischen Talente junger Mitmusiker zu einem großartigen Album verwickeln kann, ist nicht selbstverständlich. Daran gilt es zu arbeiten.
Oliver Schwerdt

Bugge Wesseltoft
IM

Jazzland/Universal

Seit dem letzten Klavier-Soloalbum ist ein Jahrzehnt vergangen. Und wirklich repräsentativ war es auch nicht, denn damals spielte Bugge Wesseltoft in einer Hau-Ruck-Aktion Weihnachtslieder ein. Grund genug also für den norwegischen Tastenkünstler, einen neuen Anlauf zu wagen: „Ich habe nie wirklich Klavier gelernt“, meinte er zum Hintergrund von „IM“ und fügte hinzu: „Für mich ist das Album eine besondere Form des Herantastens an einen speziellen Klang, der einen enormen Reiz hat.“ Also mal keine New Conceptions of Jazz, sondern Wesseltoft allein mit seinem Flügel, verschiedenen Kosmetikknöpfen im Studio und bei zwei Liedern der Sängerin Mari Boine als Gast.
Das Resultat seiner musikalischen Selbsterkundung ist so konsequent wie faszinierend, weil es den motivischen Minimalismus der vergangenen Jahre weiterführt. Es ist die Antithese zum Geläufigkeitsdogma des Akademismus und perfektioniert die Kunst der Nuancierung, der behutsamen Steigerung, der pointierten Dramaturgie. Die Musik spielt mit den Momenten der Verweigerung ebenso wie mit dem nordischen Mystizismus kathedralenhaft verhallter Räume und solitär in Molltrunkenheit schwebender Motivik. Wesseltoft ist ein Schelm, seine Melancholie ist eine fröhliche, mit einer Portion Satie gewürzt, ohne allerdings in eine akustische Wellness-Ästhetik abzugleiten. So ist „IM“ genau genommen ein Gegenprogramm zur Bedeutungsfülle des Wohllautes, aber auch das nicht wirklich. Eigentlich ist es vor allem ein Album, auf dem jemand mit seinem Klavier spielt.
Ralf Dombrowski

Nylonovy Vek V Nahravkach Ceskych Swingaru 1945–1950
(Nylon Age in Recordings of Czech Swingers 1945—1950)

FONOGRAMM FR 0151-~2

„Nylon Age“ nannte der tschechische Schriftsteller Josef Skvorecky die kurze Zeitspanne zwischen dem Kriegsende 1945 und dem kommunistischen Umsturz 1948. Damals wurde in der Tschechoslowakei viel Jazz gespielt, wovon diese CD mit insgesamt 27 Titeln Zeugnis ablegt. Manches ist von erstaunlicher Qualität, so die sieben Stücke der Big Band von Karel Vlach, die es mit den damaligen deutschen Big Bands ohne weiteres aufnimmt. Eine so relaxte und swingende Rhythmusgruppe suchte man bei uns seinerzeit vergeblich. Den Höhepunkt der CD bilden aber die drei Nummern der Combo „Rytmus 48“ mit dem Altsaxophonisten Karel Krautgartner (später Leiter der Radio Big Band Prag) und vor allem dem Trompeter Dunca Broz, dem zweiten großen tschechischen Jazzmusiker jener Tage nach dem Pianisten Jiri Verberger, der hier leider mit keiner Aufnahme vertreten ist. „Rytmus 48“ hatte sich sehr überzeugend dem Bebop verschrieben, und wenn man Dunca Brozs Solo in „Night and Day“ hört, dann kann man nur staunen. Leider hat das kommunistische Regime nach 1948 dem allen ein Ende gesetzt. Erst ab Mitte der 60er Jahre konnten die Musiker wieder freier atmen – bis 1968, dann kamen neue Repressalien. Allein schon wegen der Aufnahmen von Karel Vlach und „Rytmus 48“ gehört diese CD in jede Sammlung. Der Booklettext stammt übrigens von Lubomir Doruzka, dem bekanntesten tschechischen Jazzkritiker, der am 18. März seinen 84. Geburtstag feierte. Wir gratulieren!
Joe Viera

Francesco Tristano
Not For Piano

In-Fine Music/Alive

Es ist ein Album, das aus dem Rahmen fällt. Da sind zunächst die Umstände der Entstehung an sich. Francesco Tristano (weder verwandt noch verschwägert mit dem alten Lennie, sehr zu seinem Bedauern) gehört zu den aufsteigenden Sternen am klassischen Klavierfirmament. Mitte zwanzig, Gewinner der Concours International d‘Orléans, Juilliard Absolvent, geboren in Luxemburg in bildungsbürgerlichem Environs, inzwischen wohnhaft in Barcelona. Nach einem Bach-Recital anno 2005 in Paris wird er von einem Electronic-Produzenten angesprochen, ob er eine Platte mit ihm machen wolle.
Bald darauf entsteht eine improvisierte Solo-Aufnahme über einige Songs der Techno-Ära, unter anderem von Derrick May, Jeff Mills, kombiniert mit eigenem Material. Das Ganze erinnert ein wenig an Gonzales, auch an die frühen Arbeiten von Wim Mertens. Es bekommt, ein bisschen cheesy, den Titel „Not For Piano“, wird aber nicht veröffentlicht, sondern wandert erst einmal zurück ins Studio. Ein paar Perkussion- und Klavier-Akzente werden hinzugefügt, der Charakter des Solo-Albums bleibt aber erhalten. Nach weiteren Monaten von Sound-Feinarbeit, die wahrscheinlich außer den Beteiligten kaum noch einer bemerkt, sind endlich alle zufrieden und „Not For Piano“ erscheint beim neu gegründeten Electronic-Label In-Fine vom Szene-Newcomer Agoria. Am Ende klingt es wie ein Soundtrack ohne Film, ohne alle Esoterik betörend entrückt, trancehaft und in seiner stilistischen Autarkie derzeit singulär. Ein echter Geheimtipp.
Ralf Dombrowski

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