Anzeige |
|
|
Anzeige |
|
Eines jener Häuser, das, sichtlich gealtert, noch immer etwas vom Stolz der Gründerzeit ausstrahlt. Schon vor hundert Jahren haben hier Intellektuelle gewohnt, Künstler, Musiker. Der Pianist empfängt mich im Salon. In dessen Mitte nicht etwa ein Flügel, sondern ein Tisch von den Ausmaßen einer Tischtennisplatte, übersät mit Briefen, zerknülltem Papier, Drucksachen, CDs... Ein riesiger Wühltisch, den Richie mit den Worten kommentiert: „Ich brauche das, dass man das anfassen kann.“ Im Gespräch wird er mehrfach von dem kleinen Tisch, an dem wir Platz nehmen, aufspringen, dieses oder jenes aus dem Chaos herausfischen, vorzeigen oder vorspielen. Erinnerungen in Gestalt einer dinglich gewordenen Materialsammlung. Das Greifbare.
An den Wänden Plakate von Konzerten, auch eines von einem Auftritt mit Stan Getz in Japan, mit dem Richie Beirach in den 70er-Jahren rund um die Welt gereist ist. Doch nicht darauf deutet er als erstes, sondern auf eine Reproduktion von Paul Klees „Alter Klang“. Warme, aus dem Dunkeln aufleuchtende Farbtöne in abstrakt geometrischer Anordnung mit weichen Trennlinien. „Ist das nicht wundervoll“, ruft er aus, als wolle er in dieses Bild eintauchen. Das ist die Welt der Moderne, in der sich Richie Beirach zu Hause fühlt. Die europäische Tradition bedeutet ihm viel, mit ihr ist er aufgewachsen, mit Bach und Beethoven, Chopin, Debussy und Ravel, Bartók, Strawinsky und Chatschaturjan. Erst mit zwölf hat er den Jazz entdeckt, der ihn freilich nie mehr losließ. Lange, nachdem er sich einen Namen als Jazzpianist gemacht hatte, fing er an, sich europäischen Vorlagen zu nähern. Daraus ist eine Trilogie erwachsen: „Round About Bartók… Federico Mompou… Monteverdi“. „Das glich einer Heimkehr“, sagt er, „und zugleich war es eine enorme Herausforderung.“ Handelt es sich doch um Kompositionen, bei denen man schwerlich etwas weglassen, denen man nur sehr behutsam etwas hinzufügen kann. Einige seiner vorangegangenen Versuche, bekennt Richie Beirach, seien „zu jazzy“ gewesen. Erst wenn man diese Werke gänzlich verinnerlicht habe, könne man sich an den Flügel setzen und sie im Prozess des Spiels neu entdecken, umkreisen, fortspinnen, auf sehr persönliche Art weiterführen – auf einer Zeitschiene, die Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbindet. Dem Publikum sei es egal, ob es sich bei einem Stück um eine Komposition oder um eine Improvisation handelt. „Das Publikum will berührt werden.“ Ich frage Richie Beirach, der sich auch als Komponist zu profilieren wusste, ob es nicht ausreiche, über Eigenes zu improvisieren? „Nein“, sagt er, „weil ich bei den eigenen Kompositionen durch mich selbst limitiert bin.“ So begab er sich auf die Suche nach Werken, die ihn zu inspirieren vermögen. Am liebsten sind ihm solche, die sich auf einer Seite mitteilen: „one page masterpieces“. Prägnantes Material, das ihm Raum lässt, das ihn wie von selbst in andere Gefilde leitet. Jüngst hat er das Andantino-Thema aus dem Children Song Nr. 1 von Aram Chatschaturjan wiederentdeckt und acht Variationen dazu aufgenommen. Was ihn motiviert sind Stücke, die etwas offen lassen, die die Geschichte nicht zu Ende erzählen. „Jazz beginnt dort, wo der Notentext endet.“ Richie Beirach setzt die Linie fort, die von Romantik und Impressionismus zur klassischen Moderne führt. Er liebt die lyrischen Dissonanzen. Auch Schönberg verehrend, bekennt er, dass dessen Kompositionen für ihn als Improvisator zu komplex, zu perfekt, zu „fertig“ seien. Ebenso wie die von Bach, mit Ausnahme etwa von dessen „Siciliana“. Richie Beirach erzählt Geschichten weiter, aber auch er lässt etwas offen, entzieht sich den programmmusikalischen Ausdeutungen. Bemüht sein, sagt er, ist das Gegenteil von Jazz. Was treibt einen Jazzmusiker, der in New York aufgewachsen ist nach Leipzig? Er hat eine Professur an der Musikhochschule, und das gelte hier etwas. In Euro-pa wird Jazz als Kunstform akzeptiert. In Amerika würde Jazz fast nur noch unter kommerziellen Gesichtspunkten wahrgenommen. Und die „Administration“ habe ihn überdies aus dem Land getrieben. Immerhin: Ende August, Anfang September gab es – als Reminiszenz an seinen 60. Geburtstag im Mai 2007 – eine viertägige Konzertreihe mit Richie Beirach, Randy Brecker, Gregor Huebner, George Mraz und Billy Hart in einem der renommiertesten New Yorker Jazzclubs, im Birdland. Der Pianist denkt nicht in „schwarzweiß“-Kategorien, auch dann nicht, wenn es um Geschichte und Gegenwart des Jazz geht. Man müsse nicht die Leiden eines Afroamerikaners erfahren haben, um sich in diesem musikalischen Idiom auszudrücken. Natürlich spiegele seine Musik in besonderem Maße die europäischen Einflüsse. Aber auch die Jazzrhythmik spiele eine Rolle, wenn auch sublim, unter der Oberfläche. „Ich bevorzuge langsame Stücke, die ich auf meine Weise rhythmisieren kann.“ Der Pianist mit der kugelförmigen Gestalt, der in seinem Spiel einen lyrischen und kaum je einen nervös-perkussiven Gestus offenbart, erweist sich im Gespräch als höchst impulsiv, die Worte oft herausplatzend, den Sätzen mit treibender Dynamik Nachdruck verleihend. Die Trilogie „Round About Bartók… Federico Mompou… Monteverdi“ entstand im Trio mit dem Geiger Gregor Huebner und dem Bassisten George Mraz – eine Band ohne Schlagzeug, ein Ensemble aus Saiteninstrumenten, denn auch das Klavier kann als solches begriffen werden. „Mein kleines Orchester“, wie Richie Beirach anfügt. Gregor Huebner studierte an der Manhattan School in New York bei eben jener Komponistin, die Richie Beirach rund 25 Jahre zuvor als Student aufgesucht hatte: Ludmila Ulehla. Doch Gregor Huebner wollte sich auch im Jazz ein wenig umschauen, und Klavierstunden bei Richie Beirach. Als dieser den Geigenkasten des jungen Mannes sah, ermunterte er ihn, die Violine auszupacken und zu improvisieren. Drei Wochen später saß ein aufgeregter Gregor Huebner gemeinsam mit Richie Beirach, George Mraz und Billy Hart im Studio, um bei den Aufnahmen für das Album „The Snow Leopard“ mitzuwirken. Richie Beirach schwärmt von den „First Takes“: „Das ist es, da ist alles noch taufrisch.“ In Gregor Huebner fand er den Geiger, nach dem er immer gesucht hatte. Einen Musiker in der europäischen Tradition mit einem naturwüchsigen Feeling für den Jazz – wie Zbigniew Seifert, dem Richie Beirach die Komposition „Elm“ und „Zal“ widmete. „Zal“ ist das polnische Wort für „Seele“. Die „spontane Komposition“ bleibt für Richie Beirach ein anzustrebendes Ideal. Aber er weiß auch um die Paradoxie dieser Begriffsfügungen, ist sich darüber im Klaren, dass jeder mit seinem eigenen Background, seinen eigenen Prägungen, seinen eigenen Mustern spielt. Im Spiel mit der Gruppe „Quest“ mit dem Saxophonisten Dave Liebman, dem Bassisten Ron McLure und dem Schlagzeuger Billy Hart waren es oft nur Strukturelemente, von denen ausgehend, sich die Musik frei in die Lüfte bewegte. Nach zehn Jahren gemeinsamen Musizierens gab es eine 15-jährige Pause. Und nun spielen sie wieder gemeinsam, so, als ob sie gestern aufgehört hätten, nur eben mit all den inzwischen akkumulierten Erfahrungen. „Von nun an“, sagt Richie Beirach, „wird es die Gruppe geben, so lange wir zu spielen vermögen.“ David Liebman ist Richie Beirachs Seelenverwandter seit der Studienzeit Ende der 60er-Jahre. In der Loft-Scene gab es damals ein Haus, in dem Chick Corea eine Etage angemietet hatte, darüber wohnte Dave Holland und ganz oben Dave Liebman. Eine Jam Session jagte die andere, Tag und Nacht, und alle waren Freunde. Nach den gemeinsam mit Dave Liebman unternommenen Jazzrock-Abenteuern mit der Gruppe „Lookout Farm“ entstanden frei schwingende Saxophon-Piano-Duos. Richie Beirach unterrichtet in Leipzig. Jedes Jahr sitzt er in der Aufnahmekommission, wie er zugibt, „leidend und aufgeregt“. Von 50 Bewerbern schafft es ein Student oder eine Studentin. Die zehn besten unterrichtet er dann einmal in der Woche. Was ihn nachdenklich stimmt: dass es den wenigsten möglich sein wird, eine professionelle Laufbahn einzuschlagen, dass er wiederum Musiklehrer ausbildet, die wiederum… „Aber“, so Richie Beirach, „schließlich ist es ja auch eine Aufgabe Hörer heranzubilden.“ Wenn Jazz unverwechselbaren Ausdruck der Persönlichkeit bedeutet, kann man Jazz nur schwer unterrichten. „Aber Gehörbildung, Harmonielehre, Komposition lassen sich durchaus vermitteln.“ Richie Beirachs Kurzformel lautet „Heart – Ear – Hand“. Nur was das erste, das Herz, anbelangt, kann er nicht helfen. Es gibt auffällig viele Widmungen im Schaffen von Beirach. Ausdruck
dafür, wie er mit anderen verbunden ist, ihnen seine Zuneigung oder
seinen Respekt bezeugt. Die anderen sind gegenwärtig in seinem Spiel.
Der aus ungarischer Bauernmusik schöpfende Béla Bartók,
Federico Mompou, der Außenseiter aus Katalonien, Claudio Monteverdi,
der Meister des großen Gefühls, Kurt Weill, der Unvereinnahmbare,
aber auch Miles Davis und Red Garland, Cole Porter und George Gershwin,
die Freunde und Freundinnen, die Studenten, die ihn nachts anrufen. Sie
tauchen in seinem Spiel auf, nicht als Zitate, nicht als Kopien, sondern
als Schatten und Spiegelbilder. Dabei entsteht etwas ganz Persönliches,
das man eher ahnt, als dass man es zu greifen bekommt. So selten, so
flüchtig, so erhaltenswert. Ähnlich dem „Snow Leopard“,
dem Tiger im Schnee, der so schnell ist und so smart und der die Freiheit
liebt.
|
|