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Jazzzeitung

2007/05  ::: seite 17

rezensionen

 

Inhalt 2007/05

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene / kurz, aber wichtig


TITEL - Endzeitstimmung
Wir erleben die Apokalypse des Jazz


DOSSIER

Individualisten aus Chicago
Zum Tod des Pianisten Andrew Hill und des Geigers Johnny Frigo

I like the way you play
Abschied von Joe Zawinul mit Erinnerungen an eine bewegte Zeit


Portraits

Jean-Luc Ponty, Kristin Asbjørnsen, Daniel Smith, Harald Banters Media Band, Besuch bei Richie Beirach

… und mehr im Inhaltsverzeichnis

Ist der Jazz tot?

Neue Bücher gelesen & kommentiert von Joe Viera

Stuart Nicholson: Is Jazz dead ? (Or has it moved to a new address) Routledge/New York-London, 270 Seiten

Der Jazz ist schon öfters totgesagt worden, aber immer von Leuten, die zu wenig Bescheid wussten, oder von solchen, die die neuesten Entwicklungen nicht mochten (oder die Musikform als Ganzes). Angesichts der (scheinbaren) Richtungslosigkeit der heutigen Szene kann man freilich fragen, ob und wie es weitergeht. Das tut der Autor in neun Kapiteln. Der Klarheit wegen habe ich im Folgenden die Meinung des Autors (A) und meinen Kommentar dazu (K) deutlich voneinander getrennt. Die Kapitelüberschriften sind in Kurzform vermerkt.

1 Jazz Mainstream 1990 to 2005

A: Miles Davis‘ Tod 1991 hat den Jazz in eine Krise gestürzt, da kein Nachfolger in Sicht ist. Eine stilistische Retro-Bewegung, die schon vorher existierte, hat sich verstärkt. Mehr und mehr wurde die Arbeit der Jazzmusiker wirtschaftlichen Zwängen unterworfen.
K: Der Autor überschätzt die Bedeutung von Miles Davis. Viele Musiker arbeiteten ohne sich nach ihm zu orientieren, und sie warteten auch nicht auf einen Nachfolger. Das Publikum begeisterte sich keineswegs nur für Stars. Viele Mittler setzen heutzutage freilich vor allem auf gut verkäufliche große Namen. Die wirtschaftlichen Zwänge, die noch nie so stark waren, sind eine Folge des derzeitigen Turbokapitalismus, den es auf allen Gebieten zu zähmen gilt, da er höchst unsozial ist.

2 The Wynton Marsalis Phenomenon

A: Ständig hoch gelobt vor allem von den amerikanischen Journalisten Stanley Crouch und Albert Murray ist er zu einer Art Ikone geworden.
K: Nicht, dass Wynton Marsalis den Bebop bevorzugt, ist zu kritisieren, sondern wie er es macht. Er wird als Jazzmusiker sehr überschätzt (er ist ein viel besserer klassischer Musiker). Ich habe übrigens nie einen Trompeter getroffen oder von einem gehört, der ihn als Vorbild genannt hätte!

3 Jazz at Lincoln Center

A: 1991 startete das „Jazz at Lincoln Center“-Programm mit Wynton Marsalis als künstlerischem Leiter. In der Folge gab es immer wieder Diskussionen wegen einseitiger Programmgestaltung und Bevorzugung schwarzer Musiker im Lincoln Center Jazz Orchestra.
K: Hat Wynton Marsalis eine Lebensstellung im Lincoln Center? Wenn ja, weshalb? Wäre nicht einmal ein Wechsel in der künstlerischen Leitung angebracht?
Institutionen dieser Art sollte es viel mehr geben. Der Jazz braucht sie gerade jetzt. Aber sie müssen sehr sorgfältig geplant werden und ihre Arbeit darf allein von künstlerischen Zielen bestimmt sein.

4 Jazz Singers

A: Norah Jones, Diana Krall, Jamie Callum, Jane Monheit, Michael Bublé… in Europa vor allem skandinavische Sängerinnen wie Silje Nergaard, Victoria Tolstoy, Rebekka Bakken haben einen regelrechten Boom im Jazzgesang initiiert.
K: Leider hängen sich viele daran an, die ihre Fähigkeiten überschätzen. Im übrigen ist der Jazz immer in erster Linie eine Instrumentalmusik gewesen.

5 Jazz Education

A: Sie ist weit verbreitet, aber vielen Absolventen von Ausbildungsgängen fehlt es an Originalität. Die Konzentration auf den Bebop während des Studiums ist nachteilig.
K: Der Bebop mit all seinen Formen (Early Bop, Cool Bop, Hard Bop, Modal Bop, Free Bop) und namenlosen Unterformen ist zum Hauptbereich des Jazz geworden aus dem einfachen Grund, weil dort die musikalischen Möglichkeiten größer sind als in jedem anderen Stilbereich des Jazz (sie sind auch noch lange nicht ausgeschöpft). Natürlich sollte eine gründliche Ausbildung alle Stilbereiche umfassen, ferner den ganzen Latin-Bereich und weitere Formen von Musik; allerdings ist das aus Zeitgründen meist kaum zu schaffen. Es fehlt hier auch an Post-Graduate-Studiengängen zur Weiterbildung. Ein Mangel an Originalität besteht leider. Aber wird er nicht auch von Veranstaltern und Plattenfirmen gefördert, die Eigenwilliges aus finanziellen Gründen ablehnen (müssen)? Und war die Zahl der originellen Musiker eigentlich 1940, 1960 oder 1980 größer als heute?

6 Future Jazz

A: Die Verwendung elektronischer Klangerzeuger hat stark zugenommen, auch in Europa. Der Autor nennt eine Fülle von Beispielen.
K: Das ist aber nur ein Aspekt künftiger Entwicklungen. Leider geht der Autor auf anderes nicht ein.

7 Jazz in the Global Village

A: Die Globalisierung gibt es im Jazz schon sehr lange. Neu hinzugekommen ist eine Interaktion zwischen internationalem Jazz und lokalen Formen (der Autor nennt dies Glokalisierung). Die Amerikaner nehmen davon zu wenig Kenntnis (der Autor ist Engländer).
K: Kein Einwand.

8 The Nordic Tone in Jazz

A: Das „Nach-Innen-Hören“, für das der Autor u.a. Edvard Munch, Sören Kierke-gaard und Ingmar Bergman nennt, findet sich auch bei vielen skandinavischen Jazzmusikern, deren Arbeit sehr stark öffentlich gefördert wird, vor allem in Schweden („The typical Swedish jazz musician is the best overall equipped craftsman around“/Dave Liebman, S. 198)
K: Zutreffend beschrieben.

9 Marketplace or Subsidy

A: Der Jazz kommt heute ohne öffentliche Unterstützung nicht mehr aus. Der holländische Saxophonist Yuri Honing bringt es auf den Punkt: „If you look at history, the church was originally the main financier of most of the arts, and later on royalty took on that role as the most important promoter of art. So it is quite logical that as church and royalty no longer support the arts, the government is responsible“, S.227).
K: Und warum sollte da der Jazz beiseite stehen? Die Frage der Verteilungsgerechtigkeit muss diskutiert werden. Welche Kunstform soll wieviel bekommen und warum?
Ein wichtiges Buch, von dem es hoffentlich bald eine deutsche Übersetzung gibt. Dann aber ist ein weniger irreführender Titel sinnvoll, denn der Autor erklärt den Jazz keineswegs für tot – ganz im Gegenteil.

Bruno Spoerri (Hg.): Jazz in der Schweiz – Geschichte und Geschichten. Chronos Verlag, Zürich/459 Seiten mit einer CD-ROM (Biographien, Diskographien, Bibliographie)

Schon Ende der 20er Jahre begannen in der Schweiz Hörer und Musiker sich eingehend mit dem echten Jazz zu beschäftigen. Dieser war damals (und auch später noch lange) in der Wahrnehmung Vieler durch Jazz beeinflusste Tanzmusik; er war durch diese stark überdeckt mit der Folge, dass etwa Paul Whiteman bekannter war und höher eingeschätzt wurde als Louis Armstrong (heute unvorstellbar, aber es war damals wirklich so). Nach dem 2. Weltkrieg stieg die Zahl der Jazzmusiker stark an; die meisten blieben Amateure, da sie in der Schweiz nicht genügend Arbeit fanden und nicht ins Ausland wechseln wollten wie der Schlagzeuger Daniel Humair aus Genf, der 1958 mit 20 Jahren nach Paris ging und sich dort zu einem Weltklassemusiker entwickelte. Die Qualität der Schweizer Amateurmusiker war schon in den 50er-Jahren erstaunlich hoch, was das von André Berner 1951 gegründete Zürcher Amateur Jazz Festival jedes Jahr eindrucksvoll bewies. Insgesamt ist seither trotz mancher Schwierigkeiten die Rolle des Jazz im öffentlichen Bewusstsein der Schweiz bemerkenswert groß und kann als Vorbild für viele andere europäische Länder gelten. Bruno Spoerri, selbst ein bekannter Musiker, hat mit einem Autorenteam die Geschichte des Jazz in der Schweiz von den ersten Anfängen bis heute sehr sachlich-kritisch und ausführlich dargestellt. Ein verdienstvolles Buch, dem eine weite Verbreitung zu wünschen ist. Warum gibt es übrigens immer noch keine entsprechende Arbeit über den Jazz in Deutschland?

Bill Crow: Jazz Anecdotes Second Time Around, Oxford University Press/New York, 391 Seiten

1990 brachte Bill Crow (früher Bassist unter anderem bei Marion McPartland, Gerry Mulligan und Benny Goodman) die erste Fassung seiner „Jazz Anecdotes“ heraus, 1992 ein zweites autobiographisches Buch „From Birdland to Broadway“. Sie enthalten beide zahlreiche Geschichten über Musiker, Veranstalter, Manager, Agenten, Kritiker und Besucher. Man versteht den Jazz viel besser, wenn man sie kennt. Jazzmusiker haben einen starken Sinn für Situationskomik, der aus der gleichen Quelle gespeist wird wie die Fähigkeit des Improvisierens. Es geht in beiden Fällen um das rasche Erfassen von Augenblicken – im Falle des Musikmachens von Spielsituationen – und um die schnelle Reaktion darauf. Bill Crows Sammlung reicht von boshaften Bemerkungen („Glenn should have lived, and the music should have died.“ Al Klink über Glenn Miller, S.13) über witzige Ratschläge („Let them think it‘s a little hard for you to do it. You‘re making it look too easy.“ Louis Armstrong zu Erskine Hawkins über das Trompetenspiel im hohen Register, S.45) bis zu schlagfertigen Definitionen („Endless love is a tennis match between me and Ray Charles!“ der blinde George Shearing, S.314) und zu allen möglichen, zum Teil sehr skurrilen Begebenheiten. Sollte man nicht frühzeitig an ein Weihnachtsgeschenk denken? Hier ist eines.

Dave Oliphant: Texan Jazz
University of Texas Press, Austin/USA, 481 Seiten

Ist es sinnvoll, eine Geschichte des Jazz in Texas beziehungsweise der in Texas geborenen oder aufgewachsenen Jazzmusiker zu schreiben? Wenn man bedenkt, dass Texas erstens der östliche Nachbarstaat von Louisiana ist, wo einst der Jazz entstand, und dass Texas zweitens flächenmäßig der zweitgrößte und bevölkerungsmäßig der drittgrößte Staat der USA ist, dann kann man freilich einiges an Stoff für dieses Thema erwarten und man wird nicht enttäuscht. Die Liste der großen Musiker ist lang: Sie reicht (eine kleine Auswahl) von Jack Teagarden, Charlie Christian, Hot Lips Page und Herb Ellis über Budd Johnson, Tyree Glenn, Harry James, Kenny Dorham, Red Garland und Jimmy Giuffre bis zu Ornette Coleman, Dewey Redman, Julius Hemphill und Roy Hargrove. Auch der größte aller Ragtime-Komponisten, Scott Joplin, und einer der größten Bluessänger, Blind Lemon Jefferson, gehören dazu. Ihnen allen hat Dave Oliphant sein Buch gewidmet; er schreibt anschaulich und fügt den bekannten Fakten viele Details hinzu, vor allem über weniger bekannte Musiker. So ist ein lesenswertes Buch entstanden, das sich niemand entgehen lassen sollte, der sich für die Geschichte des Jazz interessiert.
In einem zweiten Buch (Jazz Mavericks of the Lone Star State, gleicher Verlag, 242 Seiten), einer Aufsatzsammlung, hat Oliphant einiges erweitert und vertieft. Einige noch nennenswerte Musiker sind ihm freilich auch hier entgangen: der Trompeter Teddy Buckner (1909-94), der Tenorsaxophonist Curtis Amy (1929-2002) und der Arrangeur (auch Sänger und Pianist) Onzy Matthews (1937-97), von dem MOSAIC gerade einiges wieder veröffentlicht hat (Best.-Nr.MS-029).

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