Ausgabe April 1999STORYBYE, BYE SMALLGROUP Louis Sclavis arbeitet mit dem Jazztet des Gitarristen Bernard Struber Autor: Foto: |
Drei Attribute, die einem Jazzmusiker zur Popularität verhelfen
können: Virtuosität, Individualität und Vielseitigkeit. In Glücksfällen besitzen
manche zwei davon. Wenn es jedoch darum geht, das eigene Profil mit einer ständig
wechselnden künstlerischen Umgebung in Einklang zu bringen, bleibt meist entweder der
Rahmen oder aber das Ego auf der Strecke. In Europa gibt es derzeit eigentlich nur einen,
der in seinem Spiel, seinem ganzen musikalisch-konzeptionellen Denken derart schlüssig
die unterschiedlichsten theoretischen Ansätze und praktischen Spielweisen bündelt, um
daraus eine neue Einheit zu gestalten: Louis Sclavis. Der 46jährige reflektiert die Geschichte der abendländischen Musik ebenso wie die Entwicklung der amerikanischen Jazztradition und greift bei Bedarf unverblümt auf Elemente französischer Folklore, vor allem aus der Bretagne und der Auvergne, zurück. Sclavis großes Plus, das ihn vom Rest der durch Prägungen eingeengten Kollegen unterscheidet, ist seine unverdorbene Offenheit. Wie ein Chamäleon verändert er seine Farben, absorbiert das Flair der Instrumente, den Charakter ihrer Bediener an seiner Seite. "Ich kümmere mich eigentlich längst nicht mehr um reine Stile, um Jazz, Folklore, Klassik, Rock oder andere Dinge. Es sind hauptsächlich die Leute, mit denen ich spiele, die meine Musik prägen. Da gibt es nie ein bestimmtes Konzept. Ich schließe mich einfach mit dem Background meiner Partner kurz. Es muß eine Verbindung existieren, in der sich alles von selbst entwickeln kann. Meine Aufgabe besteht nur darin, die entsprechenden Kompositionen vorzulegen und meine Stimme einzubringen. Alles andere ist ein freier Prozeß!" Früher, bei den Anfängen im lockeren anarchischen Ensemble "La Marmite" oder im Improvisations-Workshop seiner Geburtsstadt Lyon, da bekannte sich Louis Sclavis noch nahezu vorbehaltlos zum völlig losgelösten, radikal-expressiven Freejazz. Doch schon zu jener Zeit strebte die französische Musikerkooperative ARFI (Association de la Recherche dun Folklore Imaginaire) immer mehr nach unverbrauchten, klischeefreien Improvisationsformen. Für Sclavis und die anderen verloren die klassischen amerikanischen Bop-Muster nämlich langsam ihren Reiz, ebenso wie die rein assoziative, kollektive, vorgabenfreie Auffassung der frühen Avantgarde. Es ging um einen anderen Weg, einen Kompromiß, der eine enorme Chance darstellte und im Grund exakt das Wesen des Jazz verkörperte. Jeder Auftritt glich einem Trip ins Unbekannte. Für den außergewöhnlichen Klarinettisten und Saxophonisten gilt deshalb bis heute: alles spielt sich im Grenzgebiet zwischen dem Schattenreich des Unbewußten und klarem, konzeptionellem Formdenken ab. "Mir passiert es manchmal, daß ich eine bestimmte Melodie im Kopf habe. Aber sobald ich das Instrument zur Hand nehme, klingt sie plötzlich völlig anders. Normalerweise will ich das nicht. Doch ich muß es akzeptieren. Egal ob es um eine Komposition oder um eine Improvisation geht: man versucht wohl immer, alles zu kontrollieren. Aber die besten Dinge sind meist die, die man nicht kontrollieren kann." Kritiker vergleichen seine visionäre Kraft mit der eines Karl-Heinz Stockhausen, seine Phantasie mit der eines Ornette Coleman, seinen einzigartigen Klarinettenton mit dem eines Eric Dolphy. Doch Sclavis mag so etwas überhaupt nicht. Er lehnt es rundweg ab, als Produkt einer ganz speziellen Inspiration zu gelten, nimmt weiten Abstand von jenen, die gewaltsam versuchen, die Geschichte anzuhalten, will sich auf keinen Fall die publikumsträchtige Faszination einer afro-amerikanischen oder europäischen Kultur überstreifen lassen. Stockhausen, Coleman und Dolphy schätzt er zwar über alle Maßen, letzteren vor allem, weil er die von ihm so heißgeliebte Baßklarinette endgültig etablierte. "Ich habe mir aber meinen eigenen Stil aus vielen kleinen Dingen heraus entwickelt, vieles darin verarbeitet. Kann sein, daß ich gerade deshalb auf so eine Schiene geraten bin. Da geht es weniger um das Bewahren irgendeines Backgrounds. Nein, meine Identität stammt aus der Arbeit mit anderen Musikern, mit Theaterleuten, Filmemachern, Choreographen, Fotographen, Malern." Die Palette seiner Partner dokumentiert diese eklektische Philosophie auf eindrucksvolle Weise. Louis Sclavis nahm Platten mit Cecil Taylor, Dino Saluzzi, Ernst Reijseger, Evan Parker, Marc Ducret, Aldo Romano oder Trilok Gurtu auf, nach dem vielbeachteten 97er-Miniaturenprojekt "Danses Et Autres Scénes" (Label Bleu/Efa-Medien), einer Melange aus harmonisch simplen Kinderliedern, eleganten Walzern, prickelnden Tangos, strengen Motetten, rasenden Streicherarrangements und gedankenverlorenen Akkorden, überraschte er kürzlich mit "Le Phare" (Enja/Edel Contraire), seiner ersten Kollaboration mit einer Bigband, dem Jazztet des Straßburger Gitarristen Bernard Struber. Sclavis: "Struber hat einige meiner ursprünglich für Smallgroups geschriebenen Kompositionen für diesen größeren Klangkörper umarrangiert. Das Ergebnis war interessant. Es hat mir wiederum den Weg in ein bislang unbekanntes Terrain gezeigt." Und in diesem schier endlosen Kosmos der kreativen Dauerspannung, der nervenaufreibenden Ungewißheit in Erwartung alles Zukünftigen soll die Reise weitergehen. Mit seinem Trio um den Bassisten Bruno Chevillon und den Drummer Francois Merville sowie einem Cellisten und einem Trompeter plant er eine weitere Aufnahme für das ECM-Label, mit Aldo Romano und Henri Texier steht eine Fortsetzung des umjubelten 95er-Geniestreiches "Le Querrec" bei Label Bleu an. Gerade eben hat Sclavis einen Kompositionsauftrag für einen Film von Bertrand Travernier abgeschlossen, mit einem reinen Bläserquintett ein Konzert für den NDR in Hamburg absolviert, eine Japan-Tournee hinter sich gebracht. Rastlosigkeit, hinter der schlußendlich die eine große Frage steht: Wer bin ich? "Meine ganze Arbeit versucht mir, darauf eine Antwort zu geben. Aber inzwischen weiß ich, daß ich sie nur bekomme, wenn ich mich frage: Wie bin ich anderen gegenüber? Nicht der Mensch formt die Welt, sondern die Welt den Menschen." |
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