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Jazzzeitung

2002/10  ::: seite 14

portrait

 

Inhalt 2002/10

standards
Editorial
News
break
musiker-abc:
Benny Goodman
all that jazz:
Begegnungen, Ereignisse
no chaser:
Durcheinander
Farewell.
Zum Todes des Vibraphonisten Lionel Hampton

titel
Von der Freiheit des Hörens.
Jazzanova: jung, lässig, erfolgreich – Clubjazz aus Deutschland

berichte
Berlin. Das Berliner Dunkelrestaurant Nocti Vagus
Fürstenfeld.
Mo’Vibes 2002 im Veranstaltungsforum
Heidelberg.
Zwei Fragen an die Loungeband DePhazz
Montreux.
Zum 36. Montreux Jazzfestival 2002
Saalfelden.
Jazzfestival Saalfelden und die Grenzen des Zeitgeistes

jazz heute
 Ein Name, der verpflichtet.
Der Dresdner Jazzclub Neue Tonne startet ins Herbstprogramm

portrait / interview
Erneuerer und Entertainer.
Dizzy Gillespie zum 85. Geburtstag
Zwischen der Kulturen.
Nguyên Lê spielt die Musik von Jimi Hendrix
In der Musik zu hause.
Die zahlreichen Leben des Münchener Jazzgeigers Marcus Woelfle
Prüfung bestanden.
Der Pianist Christian Elsässer

play back / medien
Austria Akzente.
Das Quinton Label in Wien
Internet. Link-Tipps

education
Fortbildung. Fortbildung
Abgehört 9
Joshua Redman „My Foolish Heart“
Neulinge, Profis und Talente.
30 Jahre Jazzkurse der IG Jazz Burghausen
Patchwork von Antworten
Felix Janosas Arbeitsheft zum Thema „Was ist Jazz?“
Ein Label mit Stil und eine Diva
Neue Jazzbücher aus London und aus den USA

dossiermitteldeutschland
Domizil für Jazzdokumente.
Das International Jazz Archive in Eisenach
Impressionen einer Erkundung.
Die Jazzzeitungsredaktion auf großer Tour durch Thüringen und Sachsen
Spendenaufruf

service
Critics Choice
Rezensionen 2002/10
Service-Pack 2002/10 als pdf-Datei (kurz, aber wichtig; Clubadressen, Kalender, Jazz in Radio & TV, Jazz in Bayern und anderswo (698 kb))

 

In der Musik zu hause

Die zahlreichen Leben des Münchener Jazzgeigers Marcus Woelfle

Als Marcus Woelfle vor einigen Monaten auf Reisen war vergaß er bei einem Zwischenhalt seinen Geigenkasten auf dem Autodach. Nach längerem Suchen fand er sein geliebtes, ihn von Kindesbeinen an begleitendes Instrument jedoch unversehrt wieder. Woelfle, der sich nur allzugern von anderen Verpflichtungen vereinnahmen lässt, nahm das als Fingerzeig Gottes: „Vergiss die Geige nicht!“

Marcus Woelfle (li.) mit Titus Waldenfels. Foto: Bärbel Schmitt

Selbst wer ihn noch nie spielen gehört hat, kennt Marcus Woelfles Namen und Stimme: Von der Münchner Jazz Welle Plus und, seit 1997, aus dem Bayerischen Rundfunk. Beim Klassik-Ratespiel der Jazz Welle gewann er 1991 regelmäßig so viele Platten, dass man ihm schließlich die Teilnahme verweigerte. Er schlug dem Sender vor, er möge ihn einstellen, das sei auf jeden Fall billiger. So kam er an ein Volontariat, und der Universität ging ein vielversprechender Literaturwissenschaftler verloren.

Denn mehr noch als in den Büchern ist der gelernte Philologe Woelfle in der Musik zuhause: Er hat das kleinste und preisgünstigste Jazzlexikon verfasst (Compact Verlag) und Schaals Lexikon der Jazz-Standards mit ebenso fundierten wie kurzweiligen Beiträgen bereichert (Bärenreiter). Beim Jazz der Jahrhundertmitte schlägt sein Herz spürbar schneller; es sind jedoch seine prägenden Hörerfahrungen mit europäischer und ethnischer Musik, die ihn als Spieler unverwechselbar, aber auch unberechenbar machen. Streich- und Zupfinstrumente kommen schließlich rund um den Globus vor, während Geigen im Jazz von jeher Ausnahmeerscheinungen geblieben sind.

Der als Sohn einer toskanischen Mamma und eines bayerischen Vaters am 1.Februar1964 in München geborene Marcus Adrian Woelfle hat wohl aus geschriebenen Noten gelernt, doch schon in einem frühen Stadium „bin ich von ihnen abgewichen, um zu fantasieren, wie es die klassischen Musiker früher auch taten und habe erst später bemerkt, dass die Jazzmusiker etwas ganz Ähnliches tun. So kam es – noch bevor ich das Bluesschema kannte – zu einem inneren Bezug zum Free Jazz einerseits, zu den Oldtime-Musikern andererseits, die immerhin Zeitgenossen der jazzbegeisterten klassischen Moderne – Ravel, Strawinsky, „Les Six“ – waren.“

Die Standards sind ihm längst zur zweiten Natur geworden, vor allem die selbstkomponierten, mit denen er seine Auftritte zunehmend bestreitet. Doch damit nicht genug: Er hält sich und seine Sidemen – Christian Pfanzelter und wechselnde zweite Gitarristen, sowie Alex Haas am Bass – mit merkwürdigen Harmoniewechseln oder unüblichen Taktzahlen bei Laune (wovon die Hörer meist nichts merken). Wer assoziierte bei dieser reinen Saitenbesetzung nicht den Hot Club de France?

„Zigeuner-Swing“ oder „From Swing to Bop“ bilden aber kaum mehr als eine Startrampe, von der aus es überallhin gehen kann, denn das Museale ist Woelfles Sache nicht. Beeinflusst sieht er sich weniger von Grappelli und Reinhardt (dem er mit seinem Zug ins Östlich-Musikantische durchaus nahesteht) als von Amerikanern wie Joe Venuti oder Stuff Smith. Deren Musik übersetzt er in die Sprache des Bebop, in dem die Geige ursprünglich nichts zu melden hatte. Hat sich das Publikum erst einmal von Woelfles freundlich-harmlosem Auftreten ködern lassen, kann er sich einiges herausnehmen – zum Beispiel, den soliden harmonischen Hintergrund und den geraden Swingrhythmus gegebenenfalls glatt zu negieren. „Ich spiele Swing, der ohne den Free Jazz nicht denkbar wäre.“

Sein umfängliches Schreibpensum – als Jazzzeitungs-Redakteur, Rondo-Rezensent und Autor von Programmheften und CD-Beilagen – lässt ihm neben seiner neuen Rolle als glücklicher Familienvater kaum die nötige Zeit, mit seinem Quartett auch die komplexeren seiner über hundert Kompositionen zu erarbeiten. Zu diesem Zweck hat Woelfle im Jahr 2000 eigens eine zweite, auf seine Musik spezialisierte Combo in der Besetzung Violine, Klavier, Bass und Schlagzeug gegründet. Obgleich von Barockmusik weit entfernt, konzertiert sie als „Der abentheuerliche Violinissimus Teutsch“. Dass Woelfle an persönlicher Reife stetig gewinnt, erstaunt gerade ob der Tatsache, dass er viel zu wenig zum Üben kommt. Virtuos klingt er dennoch, wobei die Eigenheiten seiner Improvisationen keiner speziellen Bogen- oder Grifftechnik entspringen: Es ist vielmehr seine Intuition, die theoretisch Disparates kurzschlussartig zu etwas logisch Klingendem verknüpft. „Das Musikantische an mir geht eine komische Verbindung mit dem Professoralen ein.“ Just diese Kombination prädestiniert ihn für diverse interdisziplinäre Projekte mit Schauspielern, Dichtern, Malern und anderen Künstlern, von denen das Duo mit dem satirischen Autor Joseph von Westphalen nur das erfolgreichste ist. Beim Koblenzer Zigeunermusikfestival „Djangos Erben“ absolvierte Woelfle kürzlich mit „Ferry’s Hot Club“ einen umjubelten Auftritt. Mit Titus Waldenfels, Alex de Santis und Rudi Schießl bildet er die Formation „Jazzcyk“, welche sich den Kompositionen Joschi Schumanns verschrieben hat, spielt als Sideman bei Waldenfels’ „Eurofälschern“ Arrangements deutscher Lieder und ist schon mehrfach bei „Embryo“ eingestiegen.

Bei diesen Pionieren der Weltmusik traf Woelfle auch mit dem chinesischen Erhu-Spieler Xizhie Nie zusammen. Die beiden beschlossen, mit Martin Spiegelberg, Gitarre und wiederum Rudi Schießl am Schlagzeug ein Quartett aus der Taufe zu heben und sich auf chinesische Volkslieder in Jazz-Arrangements sowie auf solche Standards zu konzentrieren, die wegen ihrem Hang zur Pentatonik dem chinesischen Ohr entgegenkommen.

Schon vor Monaten hat ein neues, gleichberechtigtes Trio zu proben begonnen, das Woelfle mit den beiden Gitarristen Thorsten Klentze und Andreas Wanner zusammenspannt und ausschließlich Originals der Bandmitglieder vortragen will. Schlussendlich hat Woelfle ein Duoprojekt gestartet, das sich der Kombination von altem Jazz und Alter Musik annimmt: Der Swing- und Stride-Pianist Christian Ludwig Mayer, Gewinner des Gasteig-Wettbewerbes 2002, spielt sonst nach eigener Aussage „Swing Novelties und Regressive Jazz“; für sein durch die Zeiten wandelndes Duo mit Woelfle will er auch Clavichord, Cembalo und Akkordeon einsetzen. Mit letzterem Instrument wären wir bei Woelfles aktuellen Konzerten angelangt: Er ist bekanntlich als künstlerischer Leiter der Internationalen Musiktage Kloster Schlehdorf tätig, die im Mai 2003 zum dritten Mal stattfinden werden. Die Zeit bis dahin überbrücken einige Auftritte mit seinem zwischen Folklore und Jazz vermittelnden Landsmann, dem berühmten Akkordeonisten Gianni Coscia, mit dem Woelfle letztes Jahr bei einer Schlehdorfer Jam Session auf Anhieb blendend harmonierte. Wer Woelfle hören will, muss schon in eines seiner Konzerte gehen – denn das Geigenspiel des passionierten Plattensammlers hat ironischerweise noch niemand auf Tonträgern festgehalten.

Mátyás Kiss

Termine

11.10., 20 Uhr, Kallmann-Museum, Ismaning
13.10., 18 und 21 Uhr, Kloster Schlehdorf am Kochelsee (jeweils im Duo mit Giovanni Coscia)
16.10. Werkhaus, München, Leonrodstr. (als Mitglied der Gruppe Jazzcyk)


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