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Als Marcus Woelfle vor einigen Monaten auf Reisen war vergaß er bei einem Zwischenhalt seinen Geigenkasten auf dem Autodach. Nach längerem Suchen fand er sein geliebtes, ihn von Kindesbeinen an begleitendes Instrument jedoch unversehrt wieder. Woelfle, der sich nur allzugern von anderen Verpflichtungen vereinnahmen lässt, nahm das als Fingerzeig Gottes: „Vergiss die Geige nicht!“
Selbst wer ihn noch nie spielen gehört hat, kennt Marcus Woelfles Namen und Stimme: Von der Münchner Jazz Welle Plus und, seit 1997, aus dem Bayerischen Rundfunk. Beim Klassik-Ratespiel der Jazz Welle gewann er 1991 regelmäßig so viele Platten, dass man ihm schließlich die Teilnahme verweigerte. Er schlug dem Sender vor, er möge ihn einstellen, das sei auf jeden Fall billiger. So kam er an ein Volontariat, und der Universität ging ein vielversprechender Literaturwissenschaftler verloren. Denn mehr noch als in den Büchern ist der gelernte Philologe Woelfle in der Musik zuhause: Er hat das kleinste und preisgünstigste Jazzlexikon verfasst (Compact Verlag) und Schaals Lexikon der Jazz-Standards mit ebenso fundierten wie kurzweiligen Beiträgen bereichert (Bärenreiter). Beim Jazz der Jahrhundertmitte schlägt sein Herz spürbar schneller; es sind jedoch seine prägenden Hörerfahrungen mit europäischer und ethnischer Musik, die ihn als Spieler unverwechselbar, aber auch unberechenbar machen. Streich- und Zupfinstrumente kommen schließlich rund um den Globus vor, während Geigen im Jazz von jeher Ausnahmeerscheinungen geblieben sind. Der als Sohn einer toskanischen Mamma und eines bayerischen Vaters am 1.Februar1964 in München geborene Marcus Adrian Woelfle hat wohl aus geschriebenen Noten gelernt, doch schon in einem frühen Stadium „bin ich von ihnen abgewichen, um zu fantasieren, wie es die klassischen Musiker früher auch taten und habe erst später bemerkt, dass die Jazzmusiker etwas ganz Ähnliches tun. So kam es – noch bevor ich das Bluesschema kannte – zu einem inneren Bezug zum Free Jazz einerseits, zu den Oldtime-Musikern andererseits, die immerhin Zeitgenossen der jazzbegeisterten klassischen Moderne – Ravel, Strawinsky, „Les Six“ – waren.“ Die Standards sind ihm längst zur zweiten Natur geworden, vor allem die selbstkomponierten, mit denen er seine Auftritte zunehmend bestreitet. Doch damit nicht genug: Er hält sich und seine Sidemen – Christian Pfanzelter und wechselnde zweite Gitarristen, sowie Alex Haas am Bass – mit merkwürdigen Harmoniewechseln oder unüblichen Taktzahlen bei Laune (wovon die Hörer meist nichts merken). Wer assoziierte bei dieser reinen Saitenbesetzung nicht den Hot Club de France? „Zigeuner-Swing“ oder „From Swing to Bop“ bilden aber kaum mehr als eine Startrampe, von der aus es überallhin gehen kann, denn das Museale ist Woelfles Sache nicht. Beeinflusst sieht er sich weniger von Grappelli und Reinhardt (dem er mit seinem Zug ins Östlich-Musikantische durchaus nahesteht) als von Amerikanern wie Joe Venuti oder Stuff Smith. Deren Musik übersetzt er in die Sprache des Bebop, in dem die Geige ursprünglich nichts zu melden hatte. Hat sich das Publikum erst einmal von Woelfles freundlich-harmlosem Auftreten ködern lassen, kann er sich einiges herausnehmen – zum Beispiel, den soliden harmonischen Hintergrund und den geraden Swingrhythmus gegebenenfalls glatt zu negieren. „Ich spiele Swing, der ohne den Free Jazz nicht denkbar wäre.“ Sein umfängliches Schreibpensum – als Jazzzeitungs-Redakteur, Rondo-Rezensent und Autor von Programmheften und CD-Beilagen – lässt ihm neben seiner neuen Rolle als glücklicher Familienvater kaum die nötige Zeit, mit seinem Quartett auch die komplexeren seiner über hundert Kompositionen zu erarbeiten. Zu diesem Zweck hat Woelfle im Jahr 2000 eigens eine zweite, auf seine Musik spezialisierte Combo in der Besetzung Violine, Klavier, Bass und Schlagzeug gegründet. Obgleich von Barockmusik weit entfernt, konzertiert sie als „Der abentheuerliche Violinissimus Teutsch“. Dass Woelfle an persönlicher Reife stetig gewinnt, erstaunt gerade ob der Tatsache, dass er viel zu wenig zum Üben kommt. Virtuos klingt er dennoch, wobei die Eigenheiten seiner Improvisationen keiner speziellen Bogen- oder Grifftechnik entspringen: Es ist vielmehr seine Intuition, die theoretisch Disparates kurzschlussartig zu etwas logisch Klingendem verknüpft. „Das Musikantische an mir geht eine komische Verbindung mit dem Professoralen ein.“ Just diese Kombination prädestiniert ihn für diverse interdisziplinäre Projekte mit Schauspielern, Dichtern, Malern und anderen Künstlern, von denen das Duo mit dem satirischen Autor Joseph von Westphalen nur das erfolgreichste ist. Beim Koblenzer Zigeunermusikfestival „Djangos Erben“ absolvierte Woelfle kürzlich mit „Ferry’s Hot Club“ einen umjubelten Auftritt. Mit Titus Waldenfels, Alex de Santis und Rudi Schießl bildet er die Formation „Jazzcyk“, welche sich den Kompositionen Joschi Schumanns verschrieben hat, spielt als Sideman bei Waldenfels’ „Eurofälschern“ Arrangements deutscher Lieder und ist schon mehrfach bei „Embryo“ eingestiegen. Bei diesen Pionieren der Weltmusik traf Woelfle auch mit dem chinesischen Erhu-Spieler Xizhie Nie zusammen. Die beiden beschlossen, mit Martin Spiegelberg, Gitarre und wiederum Rudi Schießl am Schlagzeug ein Quartett aus der Taufe zu heben und sich auf chinesische Volkslieder in Jazz-Arrangements sowie auf solche Standards zu konzentrieren, die wegen ihrem Hang zur Pentatonik dem chinesischen Ohr entgegenkommen. Schon vor Monaten hat ein neues, gleichberechtigtes Trio zu proben begonnen, das Woelfle mit den beiden Gitarristen Thorsten Klentze und Andreas Wanner zusammenspannt und ausschließlich Originals der Bandmitglieder vortragen will. Schlussendlich hat Woelfle ein Duoprojekt gestartet, das sich der Kombination von altem Jazz und Alter Musik annimmt: Der Swing- und Stride-Pianist Christian Ludwig Mayer, Gewinner des Gasteig-Wettbewerbes 2002, spielt sonst nach eigener Aussage „Swing Novelties und Regressive Jazz“; für sein durch die Zeiten wandelndes Duo mit Woelfle will er auch Clavichord, Cembalo und Akkordeon einsetzen. Mit letzterem Instrument wären wir bei Woelfles aktuellen Konzerten angelangt: Er ist bekanntlich als künstlerischer Leiter der Internationalen Musiktage Kloster Schlehdorf tätig, die im Mai 2003 zum dritten Mal stattfinden werden. Die Zeit bis dahin überbrücken einige Auftritte mit seinem zwischen Folklore und Jazz vermittelnden Landsmann, dem berühmten Akkordeonisten Gianni Coscia, mit dem Woelfle letztes Jahr bei einer Schlehdorfer Jam Session auf Anhieb blendend harmonierte. Wer Woelfle hören will, muss schon in eines seiner Konzerte gehen – denn das Geigenspiel des passionierten Plattensammlers hat ironischerweise noch niemand auf Tonträgern festgehalten. Mátyás Kiss Termine
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