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Deutschland bekommt ein neues Jazzfestival. Eigentlich keine überraschende Nachricht, denn während immer weniger Jazz-CDs über die Ladentheke gehen, explodiert die europäische Festivallandschaft seit einigen Jahren richtiggehend. Über 1.000 Jazzfestivals gibt es bereits. Rund 25 neue Festivals kommen laut einer Studie des Münchner Unternehmensberaters Peter Leimgruber aus dem Jahr 2000 jedes Jahr europaweit hinzu. Das oben erwähnte neue Festival ist im Grunde ein Exportartikel: Es handelt sich um das traditionsreiche Jazz d‘Or-Festival in Straßbourg und kommt Anfang Oktober – genau einen Monat vor dem JazzFest Berlin – mit 14 Acts in die Hauptstadt.
Das Berliner-Jazzleben scheint attraktiv zu sein: Erst vor kurzem hat es das Copenhagen Jazz Festival vorgemacht, wie man die Marke Jazzfestival erfolgreich nach Deutschland exportiert. Man will in beiden Fällen offenbar nicht länger auf ein paar versprengte Jazztouristen aus Deutschland warten, die den Weg nach Kopenhagen oder Straßbourg finden, sondern man geht gleich direkt in den deutschen Markt. Stichwort Markt. Früher waren Festivals vor allem von einer künstlerischen Idee geprägt, heute werden sie dagegen am Reißbrett konzipiert und sehen sich als Wirtschaftsunternehmen an. Markenbildung kommt vor dem einzelnen künstlerischen Statement. In der Erlebnisgesellschaft gewinnt die Kunstbetriebsform „Festival“ immer größere Bedeutung, auch wenn sie anders als ein Unternehmen der Erwerbswirtschaft, nicht nur an den Parametern Umsatz und Gewinn gemessen werden kann. Jazzmusik zählt innerhalb des Musikmarktes zu den umsatzschwachen, aber kulturell relevanten Teilen. Während der Umsatzanteil von Jazzmusik bei Tonträgern bei mageren 1,9 Prozent liegt, machen die Besucher von Jazzkonzerten immerhin 4,8 Prozent aus. Interesse, ein Jazzkonzert zu besuchen, geben sogar 10,4 Prozent der Musikinteressierten an (Quelle Musikalmanach, Deutscher Musikrat). Der Anteil des Jazz am Veranstaltungsgeschehen liegt also deutlich höher, als es die Verhältnisse auf dem Tonträgermarkt und das Programmangebot von Rundfunk und TV vermuten lassen. Das Angebot ist da, wie ist es mit der Nachfrage? Der Anteil der monatlichen Ausgaben eines deutschen Haushaltes für Freizeit, Unterhaltung und Kultur beträgt 12 Prozent (261 Euro), im Gegensatz zu Bekleidung 5 Prozent (112 Euro) und Wohnen 32 Prozent (679 Euro). (Quelle: brand eins 5/2007) Dass hier Ressourcen für die Veranstalter liegen, zeigt auch ein aktueller Trend: Immer mehr etablierte Klassikfestivals und -Veranstalter nehmen inzwischen Jazzkonzerte ins Programm und haben damit Erfolg. Sie wollen mit solchen Programmierungen ein erweitertes überregionales und internationales Publikum erreichen – und machen den Traditionsfestivals Konkurrenz. Beispiele für diese Entwicklung sind: das Menuhin Festival in Gstaad (CH), die Ludwigsburger Schlossfestspiele, die RuhrTriennale, das Beethovenfest Bonn, das Rheingau Musik Festival oder die Themen-Programme der Philharmonie Essen. Allein bis Anfang Juni haben 150 Festivals ihre Programme an die Redaktion der jazzzeitung gesandt oder gemailt. Das sind längst nicht alle. Was die Veranstalter wollen, liegt auf der Hand: Das deutschsprachige Publikum mittels unserer Produkte jazzzeitung (Auflage 15.000) und neue musikzeitung (Auflage 22.000) zu erreichen und zum Besuch einzuladen. Was den Jazzreisenden aber letztlich dazu bringt, sein Wohnzimmer zu verlassen und auf ein Festival – möglicherweise sogar im Ausland – zu fahren, soll im Folgenden näher untersucht werden. Der Jazztourist im klassischen Sinne ist Kenner. Er sucht sich das zu ihm passende Festival: Typische Destinationen für ihn sind Festivals wie Moers, Willisau, Salzau, Saalfelden, JazzFest Berlin, Bozen, Bari, Siena oder Perugia. Das kann auch Dresden oder Ascona für den Traditionalisten sein. Kurz gesagt: Das Festival seiner Wahl ist durch die künstlerische Idee geprägt. Für den Enthusiasten reklamiere ich noch ein weiteres Motiv: Man könnte es ein religiöses nennen für ihn wird die Reise zum Festival zur jährlichen Pilgerfahrt. Die Festivalbesucher werden für kurze Zeit Mitglieder einer Gemeinschaft von Geistesgenossen, die auf der Suche sind. Es gibt weitere Gründe anzuführen, warum einer zum Jazztouristen wird: Etwa das Gesamterlebnis einer Bildungsreise, das weit über das einzelne Konzert hinausgeht. Festivals können dem Zuhörer Existenzielles zurückgeben. Dazu zählt gemeinsames Feiern, Interaktion, Essen, Trinken und das Gefühl, Teil einer sozialen Erfahrung zu sein. Darin unterscheiden sie sich nicht von den Besuchern eines Fußballspiels. Kulturelle Motive sind für immer mehr Menschen von zunehmender Bedeutung, wenn der Besuch einer Destination geplant wird. Das beste Beispiel dafür ist die Beliebtheit von Städtereisen. Zu den wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Tourismusform ein Zitat aus einer Studie des Instituts für öffentliche Dienstleistungen und Tourismus, St. Gallen: „Standen in der Vergangenheit lediglich Fragen nach den direkt mess- und nachvollziehbaren Effekten, zum Beispiel Besucherzahlen, Übernachtungen oder den monetären Einkommenseffekten im Vordergrund, so verlagert sich das Interesse in den letzten Jahren immer mehr hin zu den so genannten intangiblen Effekten. Unter diesem Begriff werden Infrastruktureffekte, Image- und Kompetenzgewinne und Netzwerkeffekte zusammengefasst. Diese sind vor allem für die langfristigen Wirkungen von Kultureinrichtungen und -anlässen verantwortlich.“ Beispiele wie die Jazzfestivals in Montreux, Burghausen, Willisau, Saalfelden und Moers, aber auch das Jazzweekend in Regensburg zeigen, wie kulturelle Anlässe das Bild einer Destination prägen. Doch Vorsicht: Wir lassen uns von der Euphorie anstecken, dass es landauf, landab jazzt und swingt. Einkommensstarke Generationen drängen als Zuhörer derzeit in die Jazzkonzerte. Schön! Doch was ist mit dem Publikum von morgen und übermorgen? Die flächendeckende Jazzblüte, die Europa derzeit schmückt, kann vergänglich sein. Rapider Schwund von Musikunterricht an Schulen, Verteuerung des Unterrichts an Musikschulen werden sichtbar. Europaweit kreisen die Zeiträuber um Kinder und Jugendliche: Ein Instrument spielen steht heute mehr denn je in Konkurrenz zu Sport, Computer und Konsum. Wer seinem Festival eine Zukunft geben will, sollte früh auch ans nachwachsende Publikum denken. Kooperationen mit Schulen und Ausbildungsinstituten, national wie international, gehören heute zu einem Festivalkonzept genauso wie ein spannendes Programm. Und so hoffen wir – soeben erreichte uns die Meldung von einer weiteren Festivalneugründung in Feldafing (siehe Seite 2) –, dass wir bald das zweitausendste Jazzfestival Europas in der jazzzeitung melden dürfen. Denn wir brauchen Festivals mehr denn je, sie eröffnen dem Jazz, der ja nicht an Oper und Konzerthaus institutionalisiert ist, eine feste Heimat in der internationalen Konzertlandschaft. Andreas Kolb
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