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Jazzzeitung
2007/04 ::: seite 3
jazz heute – no chaser
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Hört man einen so genannten Megahit zum ersten Mal, klingt er nicht originell.
Erst im fünften Durchgang gewinnen die Winzigkeiten, die diesen Song von
100 anderen unterscheiden, ihren Wiedererkennungswert. Musiklabors und DJs auf
der ganzen Welt sind heute damit beschäftigt, Computer-Programme für
Megahits zu erarbeiten: Man nehme 95 Prozent bewährte Hit-Bestandteile,
die restlichen 5 Prozent sind Glückssache. Oder umgekehrt: Du nennst deinen
Lieblingssong, mein Programm nennt dir zehn andere Songs, die dir auch gefallen
müssten, weil da nichts anderes drin ist. Denn fürs Musikhören
gilt: Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht. Der durchschnittliche Musikbauer
ist hörkonservativ und ohrenfaul. Das ist wie beim Sprechen: Unser Wortschatz-Erwerb
ist frühzeitig abgeschlossen, neue Wörter kommen nur zögerlich
hinzu, die Offenheit für Klang und Struktur von Fremdsprachen nimmt nach
der Adoleszenz markant ab. Im Leben der meisten Menschen bleibt auch der Musikgeschmack
ein „Naturschutzpark infantiler Verhaltensweisen“, wie Adorno einmal
schrieb. Nur die Wenigsten stürzen sich im Erwachsenenalter noch in eine
musikalische Fremdsprache. Nur die Wenigsten bewahren sich jene Offenheit, wie
sie etwa freie Improvisation von uns erwartet: den Klangspaß an fiepsenden
Flageolett-Tönen des Kontrabasses, die Entdeckerlust an wandernden Klavier-Clustern,
die Nervenstärke für ein kreischendes Saxophon-Duo. Die meisten rufen
da nur: „Das soll Musik sein? Sofort ausmachen!“ Für die erste
Begegnung der Menschheit mit außerirdischer Intelligenz sehe ich daher
auch ziemlich schwarz. Sobald die Knurzeltöne der grünen Männchen
aus den Lautsprechern dringen, werden wir alle rufen: „Da soll Sprache
sein? Sofort ausmachen! Das ist ja nicht auszuhalten!“
Rainer Wein rainer.wein@gmx.net
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