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Eine der schlimmsten Erfahrungen, die uns in unserem Dasein aufgezwungen wird, ist der Verlust eines geliebten Menschen. An Platz eins steht der Verlust durch Tod, direkt gefolgt von der häufigsten (und für die Kunst im Allgemeinen und die Musik im Speziellen eminent wichtigen) Variante: dem Verlust durch Trennung. In der Regel aufgrund von nicht behebbaren Differenzen. Manchmal entsteht daraus anschließend eine Freundschaft – eine schwierige Angelegenheit, denn die vorher enge Verbundenheit muss nun einer weitaus distanzierteren und allgemeingültigen Beziehung weichen. Toleranz muss sich entwickeln. Neue Parameter bestimmen das Leben. Um ohne weitere Umwege zum Punkt zu kommen: Die große Liebe zum Jazz ist weg. Meinerseits. Mein Herz hängt am Jazz, aber als feste Beziehung: auf Dauer undenkbar. Aufgefallen ist mir das in erster Linie im Alltag: Jazz hat wenig Platz auf meinem MP3-Player. Er schafft es im Regelfall nicht, mich angemessen zu unterhalten (und zu meiner Schande muss ich gestehen: das ist mir essentiell wichtig). Ich könnte auf Anhieb kein Album aus dem Jazz nennen, das beim Hören große Gefühle in mir auslöst. Kurz: Jazz inspiriert mich nicht mehr. Woran das liegt? Ich weiß es nicht. Offenbar bin ich entjazzt. Den Sommer untermalen momentan alte Hip-Hop-Klassiker, Heulen kann ich am Besten zu den Hymnen von Placebo, den Editors und den morgendlichen Weg zur Arbeit besingt Ben Harper. Sicher – nur weil man Jazz mag, muss man ihn nicht andauernd hören. Doch der Druck, den diese Musik, seine Begeisterer und sein Image ausüben ist immens – erst gestern durfte ich in der Universitätsbeilage eines sehr großen und renommierten deutschen Nachrichtenmagazins in einem Artikel über die Laufbahn einer jungen Gesangsstudentin folgenden Satz lesen: „Dann kam die Phase der Revolte. Statt ‚All of Me’ oder ‚Lover Man’ standen Jimi Hendrix oder AC/DC auf ihrem Programm. Doch nach fünf Jahren […] war der Jazz wieder da.“ Der mitschwingende Tenor: „Beinahe wäre sie auf die schiefe Bahn gekommen.“ Die ausschließende Arroganz, dieses müde Lächeln gegenüber der allgegenwärtigen Popkultur, die nur im Grunde genau wegen eben dieser Allumfassendheit kritisiert wird, ist einzigartig... Und – so schade das ist – eine Eigenheit vieler Jazzer. Meine Entscheidung ist daher eindeutig: die Frage nach dem Musikgeschmack werde ich nun in neun von zehn Fällen ohne die Aufzählung von Jazz bestreiten. Indie, Soul, diese oder jene Richtung HipHop. Und bei den jeweils zehnten werde ich wahrscheinlich eine Diskussion über den Verfall der Jazzkultur anzetteln. Vielleicht raufen wir uns wieder einmal zusammen. Kontakt haben wir ja. Es ist ja auch nicht so, dass wir im Streit scheiden. Da ist ja eine gemeinsame Basis. Und wenn ich dann eines Abends „Kind Of Blue“ auflege und in Sehnsucht schwelge, dann werde ich zur Neutralisierung Placebo auflegen und mich trösten lassen: mit einem hoffnungsvollen „Soulmates Never Die“. Denn Substanz ist da. Wenn wir uns wieder treffen, voreinander stehen, nur der Jazz und ich (konkret: auf einem Konzert), wird die Leidenschaft wieder aufflammen. Dann werden wir aufeinander zustürmen und jeden Moment miteinander genießen. Das aber dann in tiefer Freundschaft – denn zu mehr hat’s wohl nicht gereicht. Sebastian Klug |
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