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„Zornig bin ich noch immer“, sagt Gilad Atzmon. Doch seine Musik ist milder geworden. Auch wenn das aktuelle Album „Refuge“ (Zuflucht) im Titel auf politische Zustände verweist, hat sich Gilad Atzmon von der Überzeugung, Musik könne die Gesellschaft verändern, abgewandt, seit er 1994 aus Israel kommend in London „Zuflucht“ gefunden hat. „Als infantiler Erwachsener war ich Marxist und dachte, dass Kunst eine politische Funktion hat. Bis ich merkte, dass die Aufgaben innerhalb der Musik interessanter sind als die Rolle, die wir vielleicht haben. Musik und ästhetische Schönheit sind viel wichtiger als irgendeine idiotische Ideologie. Nicht von sozialen Ursachen bestimmt, sondern für sich selbst entsteht Musik und gibt Hoffnung.“ Was oberflächlich wie Resignation erscheint, ist eine veränderte Einstellung aufgrund reflektierter Erfahrungen.
Gilad Atzmon wurde 1963 geboren. Er war Soldat der israelischen Armee während des Libanon Krieges 1982, eine prägende Phase in seinem Leben, die ihn zu heftiger Kritik an der Politik seines Landes und im gesamten Nahen Osten durch publizistische Aktivität trieb. Seine Texte sind wie Improvisationen, haben überraschende Blickwinkel, um Klischees zu vermeiden. Nach seiner Ausbildung an der Rubin Academy of Music in Jerusalem, die „ wie meine Erziehung im Elternhaus ganz und gar europäisch war“, arbeitete er als Produzent und Arrangeur in Rock, Jazz und Ethnomusik, so mit Ofra Haza, Jack DeJohnette und Michel Petrucciani, bis er in England das Orient House Ensemble formierte. Nun wurde „das Saxophon meine eigentliche, externe Stimme, mit der ich meiner selbst bewusst werde. Musik ist das Medium, gehört nicht zu uns, sondern ereignet sich in meiner Band und bei mir intuitiv, wir feiern sie und werden überwältigt. Wenn ich spiele, denke ich nicht. Ich spiele schneller als ich denken kann. Ich weiß nicht, woher die Ideen kommen. So ist es auch bei meinen Kollegen Frank Harrison (Piano, Fender Rhodes, Electronics, Farfisa Orgel, Harmonium), Yaron Stavi (Kontra- & Elektrobass) und Asaf Sirkis (Drums): wir schließen die Augen und die Musik fließt.“ Dennoch ist sein Stil nicht willkürlich, bildet sich vielmehr aus der Bebop-Tradition und arabischen Einflüssen, wobei für Gilad Atzmon (Sopran- & Alto Saxophone, Klarinette und Flöten) die Persönlichkeiten John Coltrane, Cannonball Adderly und vor allem Wayne Shorter „eine Inspiration“ sind. Obwohl Gilad Atzmon europäische Philosophie und Komposition studiert hat, ist für ihn die Musik des Orients wesentlich: „Im Okzident lernt man, Musik in Noten zu lesen, da dominiert eine Schrift- oder Augen-Kultur, während bei uns im Orient die Kommunikation sich über die Ohren vollzieht, man also primär zuhören muss. Dafür gibt es keine Lehrbücher oder Partituren. Ich versuche schon lange, Analogien von arabischen Maqam- und westlichen Zwölfton-Skalen zu erkennen und mich zwischen den Systemen hin und her zu bewegen. Zwar kann ich auf dem Saxophon keine Mikrointervalle oder so genannte Komma-Töne spielen, aber durch spezielle Phrasierungen und Glissandi erreiche ich eine gewisse Nähe zu den modalen orientalischen Klängen. Deshalb singe ich gelegentlich, um Nuancen genauer zu spüren. Meistens jedoch mit elektronisch verfremdeter Stimme wie auf >Her Tears<, weil mein Gesang nicht professionell ist. Die Modi sind für uns wichtiger als Akkorde. Andererseits gibt es Melodien, die auf strikten harmonischen Progressionen basieren, da sind wir mehr an Formen gebunden, wie >In The Small Hours< oder dem >Prayer For Peace<. Im übrigen pflegen wir im Orient House Ensemble hörenden Kontakt, sodass wir bei Konzerten spontan und je anders die Themen und Motive an vereinbarten Stellen variieren können. So gibt es für uns manchmal gemeinsame Momente des Glücks oder sogar der Ekstase, das ist unser Ziel.“ Politiker zu werden war nie eine Alternative für Gilad Atzmon, weil sie nach seiner Meinung in einer etablierten symbolischen Ordnung mit Menschen kommunizieren. „Ich möchte die symbolische Ordnung neu gestalten, indem ich mich auf meine Ohr-Kultur verlasse. Denn so höre ich meine innere Stimme, wodurch ich, im Unterschied zu einem Politiker, ein ethisch denkender Mensch werde. Deshalb kann ich jeden Morgen in den Spiegel sehen und mich als Menschen erkennen. Zwar bin ich meiner Gefühle nicht sicher, aber ich möchte immer wieder etwas probieren. Erfolg ist nicht so wichtig wie zu spielen.“ So versucht Gilad Atzmon einen Weg zu finden, dass seine Musik nicht politisch vereinnahmt und trotzdem seine Empörung bemerkt wird. Hans-Dieter Grünefeld
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