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Jazzzeitung
2011/01 ::: seite 19
education
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Aus dem Kammermusiksaal der Musikhochschule Nürnberg dringt ein
Samba-Groove. Drinnen auf der Bühne agieren ein Drummer, ein Bassist
und ein Pianist, halbkreisförmig um dessen Flügel gruppieren
sich mehrere Saxophonisten, zwei Sängerinnen und wie ein Fixstern
in der Mitte der brasilianische Komponist Pianist Jovino Santos Neto – lebhaft
gestikulierend, singend, zählend und klatschend. Professor Steffen
Schorn hat den Brasilianer für einen Workshop und ein anschließendes
Konzert gewinnen können. Für das grenzüberschreitende
Programm mit dem Titel „Brazilian Night – Classic meets Jazz“ haben
die Studierenden neben Neto unter anderem mit den brasilianischen Klassik-Dozenten
Débora Halasz (Klavier) und Marcos Fregnani (Flöte) zusammengearbeitet.
Santos Neto war lange Zeit musikalischer Weggefährte der brasilianischen
Jazz-Koryphäe Hermeto Pascoal und mit seinem eigenen Ensemble mehrfach
für den Grammy nominiert. Die JazzZeitung sprach mit dem Baritonsaxophonisten
und Komponisten Schorn über den Jazz an der Hochschule für
Musik Nürnberg.
JazzZeitung: Welche Rolle spielen Workshops als Teil der Ausbildung
im Jazz?
Steffen Schorn: Workshops sind eine wichtige und wertvolle Ergänzung
zum regelmäßigen Unterrichtsprogramm. Wir haben ein reichhaltiges
Workshopangebot von lokalen bis internationalen Größen. Wir
nutzen unsere Kontakte, um internationale Künstler ans Haus zu holen.
Dieser Herbst ist dicht gepackt mit Workshops: Letzte Woche war der ungarische
Saxophonist Toni Lakatos da, diese Woche Jovino Santos Neto, und nächste
Woche wieder ein Saxophonist, der Holländer Joris Roelofs, der sein
hochkarätig besetztes New Yorker Quartett mitbringt: Aaron Goldberg,
Greg Hutchinson, Joe Sanders.
Jovino Neto ist nicht nur Komponist und Pianist, sondern auch Verwalter
des musikalischen Erbes von Hermeto Pascoal; immerhin 3.000–4.000
Stücke. Ich selber bin Anfang der 90er-Jahre nach Brasilien zu Hermeto
Pascoal gepilgert und kenne Jovino seit dieser Zeit.
JazzZeitung: Wie funktioniert ein Ensemble-Workshop?
Schorn: Ensemble-Workshops sind prinzipiell offen für
alle Fachrichtungen. Je nach Dozent werden unterschiedliche instrumentale
und künstlerische
Schwerpunkte gesetzt. Hier geht es vorrangig um musikalisches Zusammenspiel,
Interaktion, Improvisation, Klangvorstellung, Hören – natürlich
mit aktiver Teilnahme von Studenten und Dozenten. Bei Neto wollte
ich, dass möglichst viele Leute etwas von diesem
umfassenden Musikkosmos mitkriegen. In dessen Umfeld wird Musik sehr ganzheitlich vermittelt: Man lernt über
das Ohr und speichert sofort den Gesamtklang in Verbindung mit allen
Parametern: Harmonie, Melodie, Groove. Das dauert länger, hat aber
einen ungleich höheren Grad an Verinnerlichung zur Folge, der sofort
eine tiefe musikalische Kommunikation ermöglicht. Ich möchte
erreichen, dass auch die klassischen Musiker lernen, dass Musik nicht
von den Noten kommt. Erst ist die Musik da, dann die Noten.
JazzZeitung: Hier studieren über 50 Personen Jazz an der Hochschule.
Wie würdest Du das Profil der Jazzabteilung der HfM Nürnberg
beschreiben?
Schorn: Für wichtig halte ich, dass Nürnberg noch eine junge
Hochschule ist, deren Gründungsdynamik noch stark ist. Hier ist
es möglich, eine Oase der Kreativität zu schaffen. Ich will
die Musiker sehr früh mit sich selbst konfrontieren, ungeachtet
stilistischer Vorgaben. Die Möglichkeit, instrumentales beziehungsweise
vokales Hauptfach mit Komposition zu verbinden, ist für mich auch
ein wichtiger Faktor im Rahmen unserer Ausbildung.
JazzZeitung: Wenn man hier die Studenten aus
den verschiedenen Fakultäten
gemeinsam auf der Bühne sieht, dann gewinnt man den Eindruck, dass
in Nürnberg ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen der
Jazz- und Klassikabteilung herrscht.
Schorn: Das hängt immer noch stark von Einzelpersonen
ab. Wir haben bisher verschiedene Gemeinschaftsprojekte durchgeführt: etwa „Saxissimo“ mit
sämtlichen Saxophon-Studenten aller Klassen, oder „Summer-Hummer“ mit
der Big Band und dem Hochschulorchester. Das sind aber eher noch Einzelfälle.
Ich würde mir wünschen, dass eine derartige interdisziplinäre
Zusammenarbeit innerhalb der Hochschule eine stärker fundierte Plattform
bekommt: ein Forum, das Budget-mäßigen Rückhalt hat.
Immerhin gibt es schon die Möglichkeit, Zusatzqualifikationen in
verschieden Studienrichtungen zu erwerben.
JazzZeitung: Mit einem der ältesten Jazzclubs und dem ehemaligen
Festival „Jazz Ost–West“ galt Nürnberg lange Zeit
als Jazzstadt. Ist das verblasster Ruhm vergangener Zeiten?
Schorn: Ich arbeite nun schon zehn Jahre hier und finde,
Nürnberg
hat eine lebendige Szene: Denken Sie an das Sunday Night Orchestra, das
Groove Legend Orchestra oder das neu gegründete Metropol-Orchester,
welches in einer sehr spannenden gemischten Großbesetzung viele
kreative Kräfte aus der Region bündelt und neue Wege bestreitet. Diese Aktivitäten sind Früchte der Initiative von Musikern,
die Wege gefunden haben, ihrer Musik Raum zu verschaffen.
JazzZeitung: Den Beruf Jazzmusiker, gibt es
den überhaupt?
Schorn: Musiker ist heute ganz allgemein ein Berufsbild
im Wandel. Im Film „Rhythm Is It” sagt Simon Rattle: „We don’t
need just good workers, those times are over, we need patch workers.” Das
trifft auf Jazzmusiker besonders zu: Man muss versuchen, seine eigene
Marktnische zu finden. In der heutigen Zeit sind für junge Künstler
Leidenschaft und eine große Offenheit nötig, um Resonanzen
zu finden und die richtigen Leute zu treffen, die einem die wesentlichen
Dinge zeigen.
JazzZeitung: In ihrer Ausgabe Nr. 5 2010 porträtierte die JazzZeitung
Simon Scharf, einen Nürnberger Jazzstudenten, der sich auf Filmmusik
spezialisiert hat. Ist Filmmusik ein typisches Berufsfeld für Jazzmusiker
geworden?
Schorn: Ich versuche, jenseits von den Prüfungsanforderungen zu
denken. Was ist Jazz, warum machen wir das? Was hat die Gesellschaft
nötig? Meiner Meinung nach hat sie nötig, dass sich die Menschen
von alten Traumata befreien, dass sie zu sich selber finden. Musik ist
ein mögliches Transportmittel dafür. Das ist ein langer Prozess.
Wenn wir jetzt eine Generation von Leuten ausbilden, die in die Schulen
gehen, bis die alten Strukturen aufbrechen, dauert das 20 bis 30 Jahre.
Aber der Keim muss gelegt werden: damit junge Leute angstfrei Musik machen
und sich selber finden. Die Zeiten des musikalischen Schubladendenkens
im Jazz sind vorbei. Zu glauben, es genüge, die Musikstile von den
40er bis zu den 60er-Jahren zu kennen und so zu klingen, ist anachronistisch.
Diese Musikstile hatten einen sozialen Sinn, aus dem heraus sie sich
entwickelt haben. Freejazz entstand etwa in der Zeit, in der auch Rock
entstanden ist. Es ging um ein Loslösen von allen Begrenztheiten,
ein sich Befreien von allen Traditionslinien. Wenn ich das heute imitiere,
dann ist das blutleer.
JazzZeitung: Simon Scharf
steht also für so einen neuen Typus von
Musiker?
Schorn: Scharf hatte Filmmusik bereits absolut absorbiert
und kam mit professionell orchestrierten Partituren an der Hochschule
an. Er hat
tolle Filmmusik kreiert, da kann ich ihm gar nicht groß was zeigen,
das kann der alles schon – bei ihm geht es darum in der Combo und
im Sinfonieorchester real zu kommunizieren, Information aufzunehmen und
weiterzugeben. JazzZeitung: Wie kam denn Ihre Leidenschaft für Pascoals Musik zustande?
Schorn: Ich hatte Hermeto Pascoal bereits als Teenager live im Graf Zeppelinhaus
in Friedrichshafen gehört. Kurz nach diesem Konzert hörte ich
eine Platte: Brasil Universo. Darauf war ein Stück, „E nem
da pra dizer“ (Es gibt nichts zu sagen), das hat mein Leben verändert.
Es war wie eine Initialzündung. Ich hatte noch nie einen derart
reichen Kosmos an Melodien, Harmonien und Rhythmen gehört, noch
nie eine derartige Intensität in der Musik verspürt.
Eine musikalisch-künstlerische Suche war in Gang gesetzt worden.
Hermeto Pascoal lebte damals in einer Musikerkommune nördlich von
Rio, die offen war für Musiker, die einsteigen wollten. Das taten
damals auch große Namen wie Gil Evans, Stan Getz, Chick Corea oder
Pat Metheny. Ich studierte damals in Köln und fühlte mich vom
Studienbetrieb eingezwängt. Alles war so akademisch … und
ich hatte großes Fernweh. Es war völlig klar, ich muss dort
hin. Irgendwann hatte ich genug Geld, ging ins Reisebüro und kaufte
mir ein Ticket. Ich schnappte meinen Duopartner Claudio Puntin und sagte: „Hier
unterschreib mal.“ Als er mich dann fragte, was er denn da unterschrieben
hätte, sagte ich: „Du hast gerade ein Ticket nach Rio unterschrieben.“
Und so flogen wir beide für einige Monate nach Rio de Janeiro.
Es blieb nicht bei dieser einzigen Brasilienreise. Und Hermetos Musik
schwingt noch heute in vielen meiner Kompositionen nach. Vita
Steffen Schorn ist ein Musiker, für den die üblichen Schranken
zwischen E und U nicht existieren. Er begann seine musikalische Ausbildung
als Sechsjähriger an der Trompete, unternahm erste kompositorische
Versuche mit 8 und wechselte mit 14 ans Saxophon, das er als Autodidakt
erlernte. Von 1988 bis 1992 studierte er an der Hochschule für Musik
Köln Jazz-Saxophon; parallel war er zwischen 1990 und 1996 in Rotterdam
im Fach Bassklarinette mit dem Schwerpunkt auf Zeitgenössische Musik
eingeschrieben. Er trat in 65 Ländern rund um den Globus auf. Seit
2001 ist Schorn Professor an der Jazz-Abteilung der Hochschule für
Musik Nürnberg.
2011
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CD-Veröffentlichung mit „Steffen Schorns Universe of Possibilities“ im
Rahmen der Reihe „Art of Jazz“ am 28.3. in der Tafelhalle
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Big Band Arbeitsphase mit der Hochschul-Big Band, Einstudierung und Aufführung
der „Chiang Mai Suite“ von Steffen Schorn
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Auftragskomposition für das Sommer Festival des Kammer Ensembles „Danish
Chamber Planers“
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Konzerte mit dem Norwegian Wind Ensemble und internationalen Gastsolisten
unter Ltg. von Steffen Schorn
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Jubiläum: 20 Jahre Schorn Puntin Duo
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