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Jazzzeitung

2011/01  ::: seite 19

education

 

Inhalt 2011/01

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene / kurz, aber wichtig Jazzlexikon: Stan Levey Farewell: James Moody // Richard Wiedamann


TITEL -
Marie Laveaus Vermächtnis
Versuch über Voodoo und Jazz – von Hans-Jürgen Schaal


Berichte

Jazzfest Berlin 2010 // 41. Deutsches Jazzfestival Frankfurt // Berliner Festival präsentiert Musiker-Vereinigungen aus ganz Europa // Festival der Jazzmusiker-Initiative München // Zur „Europäischen Jazzakademie Birdland Neuburg“ // Bass und Cello im Jazzclub Unterfahrt // 17. Thüringer Jazzmeile


Portraits

Lajos Dudas // Die Sängerin Maria Farantouri // Jessica Pilnäs // Der Saxophonist Karl Seglem


Jazz heute und Education
Thomas Muderlak, Leiter BMW Welt, im Gespräch // Steffi Denk und ihr Education-Projekt „Swing for Kids“ // Musikhochschule Nürnberg: Steffen Schorn im Interview Abgehört: Letzte Nächte in Kopenhagen: Stan Getz‘ Solo über Night and Day

Rezensionen und mehr im Inhaltsverzeichnis

Brasilianischer Musikkosmos

Musikhochschule Nürnberg: Steffen Schorn im Interview

Aus dem Kammermusiksaal der Musikhochschule Nürnberg dringt ein Samba-Groove. Drinnen auf der Bühne agieren ein Drummer, ein Bassist und ein Pianist, halbkreisförmig um dessen Flügel gruppieren sich mehrere Saxophonisten, zwei Sängerinnen und wie ein Fixstern in der Mitte der brasilianische Komponist Pianist Jovino Santos Neto – lebhaft gestikulierend, singend, zählend und klatschend. Professor Steffen Schorn hat den Brasilianer für einen Workshop und ein anschließendes Konzert gewinnen können. Für das grenzüberschreitende Programm mit dem Titel „Brazilian Night – Classic meets Jazz“ haben die Studierenden neben Neto unter anderem mit den brasilianischen Klassik-Dozenten Débora Halasz (Klavier) und Marcos Fregnani (Flöte) zusammengearbeitet. Santos Neto war lange Zeit musikalischer Weggefährte der brasilianischen Jazz-Koryphäe Hermeto Pascoal und mit seinem eigenen Ensemble mehrfach für den Grammy nominiert. Die JazzZeitung sprach mit dem Baritonsaxophonisten und Komponisten Schorn über den Jazz an der Hochschule für Musik Nürnberg.

Jovino Santos Neto (Mitte) im Kreis seiner Kursteilnehmer/-innen. Fotos: Bernd Freundorfer

Bild vergrößernJovino Santos Neto (Mitte) im Kreis seiner Kursteilnehmer/-innen. Fotos: Bernd Freundorfer

JazzZeitung: Welche Rolle spielen Workshops als Teil der Ausbildung im Jazz?
Steffen Schorn: Workshops sind eine wichtige und wertvolle Ergänzung zum regelmäßigen Unterrichtsprogramm. Wir haben ein reichhaltiges Workshopangebot von lokalen bis internationalen Größen. Wir nutzen unsere Kontakte, um internationale Künstler ans Haus zu holen. Dieser Herbst ist dicht gepackt mit Workshops: Letzte Woche war der ungarische Saxophonist Toni Lakatos da, diese Woche Jovino Santos Neto, und nächste Woche wieder ein Saxophonist, der Holländer Joris Roelofs, der sein hochkarätig besetztes New Yorker Quartett mitbringt: Aaron Goldberg, Greg Hutchinson, Joe Sanders.

Jovino Neto ist nicht nur Komponist und Pianist, sondern auch Verwalter des musikalischen Erbes von Hermeto Pascoal; immerhin 3.000–4.000 Stücke. Ich selber bin Anfang der 90er-Jahre nach Brasilien zu Hermeto Pascoal gepilgert und kenne Jovino seit dieser Zeit.

JazzZeitung: Wie funktioniert ein Ensemble-Workshop?
Schorn: Ensemble-Workshops sind prinzipiell offen für alle Fachrichtungen. Je nach Dozent werden unterschiedliche instrumentale und künstlerische Schwerpunkte gesetzt. Hier geht es vorrangig um musikalisches Zusammenspiel, Interaktion, Improvisation, Klangvorstellung, Hören – natürlich mit aktiver Teilnahme von Studenten und Dozenten. Bei Neto wollte ich, dass möglichst viele Leute etwas von diesem umfassenden Musikkosmos mitkriegen. In dessen Umfeld wird Musik sehr ganzheitlich vermittelt: Man lernt über das Ohr und speichert sofort den Gesamtklang in Verbindung mit allen Parametern: Harmonie, Melodie, Groove. Das dauert länger, hat aber einen ungleich höheren Grad an Verinnerlichung zur Folge, der sofort eine tiefe musikalische Kommunikation ermöglicht. Ich möchte erreichen, dass auch die klassischen Musiker lernen, dass Musik nicht von den Noten kommt. Erst ist die Musik da, dann die Noten.

JazzZeitung: Hier studieren über 50 Personen Jazz an der Hochschule. Wie würdest Du das Profil der Jazzabteilung der HfM Nürnberg beschreiben?
Schorn: Für wichtig halte ich, dass Nürnberg noch eine junge Hochschule ist, deren Gründungsdynamik noch stark ist. Hier ist es möglich, eine Oase der Kreativität zu schaffen. Ich will die Musiker sehr früh mit sich selbst konfrontieren, ungeachtet stilistischer Vorgaben. Die Möglichkeit, instrumentales beziehungsweise vokales Hauptfach mit Komposition zu verbinden, ist für mich auch ein wichtiger Faktor im Rahmen unserer Ausbildung.

JazzZeitung: Wenn man hier die Studenten aus den verschiedenen Fakultäten gemeinsam auf der Bühne sieht, dann gewinnt man den Eindruck, dass in Nürnberg ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen der Jazz- und Klassikabteilung herrscht.
Schorn: Das hängt immer noch stark von Einzelpersonen ab. Wir haben bisher verschiedene Gemeinschaftsprojekte durchgeführt: etwa „Saxissimo“ mit sämtlichen Saxophon-Studenten aller Klassen, oder „Summer-Hummer“ mit der Big Band und dem Hochschulorchester. Das sind aber eher noch Einzelfälle. Ich würde mir wünschen, dass eine derartige interdisziplinäre Zusammenarbeit innerhalb der Hochschule eine stärker fundierte Plattform bekommt: ein Forum, das Budget-mäßigen Rückhalt hat. Immerhin gibt es schon die Möglichkeit, Zusatzqualifikationen in verschieden Studienrichtungen zu erwerben.

Bild vergrößernSteffen Schorn. Foto: Lutz Vogtländer

JazzZeitung: Mit einem der ältesten Jazzclubs und dem ehemaligen Festival „Jazz Ost–West“ galt Nürnberg lange Zeit als Jazzstadt. Ist das verblasster Ruhm vergangener Zeiten?
Schorn: Ich arbeite nun schon zehn Jahre hier und finde, Nürnberg hat eine lebendige Szene: Denken Sie an das Sunday Night Orchestra, das Groove Legend Orchestra oder das neu gegründete Metropol-Orchester, welches in einer sehr spannenden gemischten Großbesetzung viele kreative Kräfte aus der Region bündelt und neue Wege bestreitet. Diese Aktivitäten sind Früchte der Initiative von Musikern, die Wege gefunden haben, ihrer Musik Raum zu verschaffen.

JazzZeitung: Den Beruf Jazzmusiker, gibt es den überhaupt?
Schorn: Musiker ist heute ganz allgemein ein Berufsbild im Wandel. Im Film „Rhythm Is It” sagt Simon Rattle: „We don’t need just good workers, those times are over, we need patch workers.” Das trifft auf Jazzmusiker besonders zu: Man muss versuchen, seine eigene Marktnische zu finden. In der heutigen Zeit sind für junge Künstler Leidenschaft und eine große Offenheit nötig, um Resonanzen zu finden und die richtigen Leute zu treffen, die einem die wesentlichen Dinge zeigen.

JazzZeitung: In ihrer Ausgabe Nr. 5 2010 porträtierte die JazzZeitung Simon Scharf, einen Nürnberger Jazzstudenten, der sich auf Filmmusik spezialisiert hat. Ist Filmmusik ein typisches Berufsfeld für Jazzmusiker geworden?
Schorn: Ich versuche, jenseits von den Prüfungsanforderungen zu denken. Was ist Jazz, warum machen wir das? Was hat die Gesellschaft nötig? Meiner Meinung nach hat sie nötig, dass sich die Menschen von alten Traumata befreien, dass sie zu sich selber finden. Musik ist ein mögliches Transportmittel dafür. Das ist ein langer Prozess.
Wenn wir jetzt eine Generation von Leuten ausbilden, die in die Schulen gehen, bis die alten Strukturen aufbrechen, dauert das 20 bis 30 Jahre. Aber der Keim muss gelegt werden: damit junge Leute angstfrei Musik machen und sich selber finden. Die Zeiten des musikalischen Schubladendenkens im Jazz sind vorbei. Zu glauben, es genüge, die Musikstile von den 40er bis zu den 60er-Jahren zu kennen und so zu klingen, ist anachronistisch.
Diese Musikstile hatten einen sozialen Sinn, aus dem heraus sie sich entwickelt haben. Freejazz entstand etwa in der Zeit, in der auch Rock entstanden ist. Es ging um ein Loslösen von allen Begrenztheiten, ein sich Befreien von allen Traditionslinien. Wenn ich das heute imitiere, dann ist das blutleer.

JazzZeitung: Simon Scharf steht also für so einen neuen Typus von Musiker?
Schorn: Scharf hatte Filmmusik bereits absolut absorbiert und kam mit professionell orchestrierten Partituren an der Hochschule an. Er hat tolle Filmmusik kreiert, da kann ich ihm gar nicht groß was zeigen, das kann der alles schon – bei ihm geht es darum in der Combo und im Sinfonieorchester real zu kommunizieren, Information aufzunehmen und weiterzugeben.

JazzZeitung: Wie kam denn Ihre Leidenschaft für Pascoals Musik zustande?
Schorn: Ich hatte Hermeto Pascoal bereits als Teenager live im Graf Zeppelinhaus in Friedrichshafen gehört. Kurz nach diesem Konzert hörte ich eine Platte: Brasil Universo. Darauf war ein Stück, „E nem da pra dizer“ (Es gibt nichts zu sagen), das hat mein Leben verändert. Es war wie eine Initialzündung. Ich hatte noch nie einen derart reichen Kosmos an Melodien, Harmonien und Rhythmen gehört, noch nie eine derartige Intensität in der Musik verspürt.
Eine musikalisch-künstlerische Suche war in Gang gesetzt worden. Hermeto Pascoal lebte damals in einer Musikerkommune nördlich von Rio, die offen war für Musiker, die einsteigen wollten. Das taten damals auch große Namen wie Gil Evans, Stan Getz, Chick Corea oder Pat Metheny. Ich studierte damals in Köln und fühlte mich vom Studienbetrieb eingezwängt. Alles war so akademisch … und ich hatte großes Fernweh. Es war völlig klar, ich muss dort hin. Irgendwann hatte ich genug Geld, ging ins Reisebüro und kaufte mir ein Ticket. Ich schnappte meinen Duopartner Claudio Puntin und sagte: „Hier unterschreib mal.“ Als er mich dann fragte, was er denn da unterschrieben hätte, sagte ich: „Du hast gerade ein Ticket nach Rio unterschrieben.“

Und so flogen wir beide für einige Monate nach Rio de Janeiro.
Es blieb nicht bei dieser einzigen Brasilienreise. Und Hermetos Musik schwingt noch heute in vielen meiner Kompositionen nach.

Vita

Steffen Schorn ist ein Musiker, für den die üblichen Schranken zwischen E und U nicht existieren. Er begann seine musikalische Ausbildung als Sechsjähriger an der Trompete, unternahm erste kompositorische Versuche mit 8 und wechselte mit 14 ans Saxophon, das er als Autodidakt erlernte. Von 1988 bis 1992 studierte er an der Hochschule für Musik Köln Jazz-Saxophon; parallel war er zwischen 1990 und 1996 in Rotterdam im Fach Bassklarinette mit dem Schwerpunkt auf Zeitgenössische Musik eingeschrieben. Er trat in 65 Ländern rund um den Globus auf. Seit 2001 ist Schorn Professor an der Jazz-Abteilung der Hochschule für Musik Nürnberg.

2011

• CD-Veröffentlichung mit „Steffen Schorns Universe of Possibilities“ im Rahmen der Reihe „Art of Jazz“ am 28.3. in der Tafelhalle
• Big Band Arbeitsphase mit der Hochschul-Big Band, Einstudierung und Aufführung der „Chiang Mai Suite“ von Steffen Schorn
• Auftragskomposition für das Sommer Festival des Kammer Ensembles „Danish Chamber Planers“
• Konzerte mit dem Norwegian Wind Ensemble und internationalen Gastsolisten unter Ltg. von Steffen Schorn
• Jubiläum: 20 Jahre Schorn Puntin Duo

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