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Über 400 Veröffentlichungen sind mittlerweile im Katalog des 1979 gegründeten britischen Labels Leo Records zu finden, und sehr viele von ihnen repräsentieren den jeweils fortgeschrittenen Stand zeitgenössischer Improvisationsmusikentwicklung. Künstlerisch geprägt wird das Label durch viele Aufnahmen des Art Ensembles of Chicago, Anthony Braxton, John Wolf Brennan, Eugene Chadbourne, Marilyn Crispell, des Ganelin Trios, von Joelle Leandre, Joe and Mat Maneri, Simon Nabatov, Sainkho Namchylak, Lauren Newton, Evan Parker, Ned Rothenberg, Sun Ra, Cecil Taylor und Reggie Workman. Neben den gestandenen Vertretern freier Jazzmusik widmet sich Leo Records mit seinem Sub-Label Leo Lab auch neuen, suchenden jungen Künstlern und Projekten. Das Sub-Label „Golden Years of New Jazz” (GY) bringt Dokumentation von vorher noch nicht veröffentlichten „Sternstunden”-Aufnahmen des freien Jazz heraus.
Gründer und Inhaber, Leonid Feigin, ein aus der damaligen Sowjetunion stammender Russe, vereint eine tiefempfundene Hingabe an musikalische Kreativität und Eigenständigkeit mit einem deftigen Schuss Geschäftssinn – sehr zugunsten der Musik. „Ohne Leo Records wäre unsere Wahrnehmung dessen, was zeitgenössische Musik ausmacht und was sich in ihr entwickelt, völlig anders”, urteilte das CODA Musikmagazin und trifft damit wohl auch heute noch den Nagel auf den Kopf. Und der „The Penguin Guide to Jazz on CD, LP and Cassette” bezeichnet Leo Records als „eines der allerwichtigsten unabhängigen Labels der letzten Zeit.” Klar, wie bei anderen Projekten zeitgenössischer Improvisationsmusik auch, viel Geld ist mit Leo Records wohl nicht zu verdienen, weder als Label-Inhaber noch als Musiker. Der entscheidende Aspekt ist ein anderer: das Label macht eine ansonsten im Unbekannten verbleibende Musik bekannt – und damit auch deren hohe Qualität und deren Musiker. „Man kommt miteinander gut aus”, schmunzelt verständnisvoll Gebhardt Ullmann, der als Komponist und Saxophonist mehrere CDs bei Leo Records veröffentlicht hat, „Leo will sein Label am Laufen halten, und wir Musiker wollen unsere Musik bekannter machen.” Und bei Feigin geht das über zwei Faktoren: künstlerische Originalität und künstlerische Eigenständigkeit – wer für eine CD-Veröffentlichung ausgewählt ist, hat dann alle Freiheiten, seine individuellen Vorstellungen im Rahmen seiner eigenen finanziellen Möglichkeiten zu realisieren. Ullmann: „Das ist der eigentliche Vorteil. Wer bei Leo Records veröffentlicht, kriegt damit so eine Art Qualitätssiegel – gewissermaßen Leo-proofed, also Leo-geprüft –, und das zählt sowohl in Veranstalterkreisen als auch bei Journalisten.” Angefangen hatte Feigin, der 1974 aus dem damaligen Leningrad (nun wieder St. Petersburg) nach Großbritannien kam und dort bei der BBC als Redakteur und Produzent für das russische Programm arbeitete, im Jahre 1979. Da nämlich erhielt er ein aus der DDR hinausgeschmuggeltes Band mit Live-Aufnahmen des Ganelin-Trios, das in Ost-Berlin aufgetreten war. Feigin war dermaßen elektrisiert von dieser Musik, dass er sich entschloss, sie herauszubringen – die Idee eines eigenen Labels war geboren. Doch mit einem damals im Westen völlig unbekannten Act ein neues Label starten war kaum erfolgversprechend, also nahm Feigin zunächst noch Amina Claudine Myers und Keshavan Maslak auf, mit denen er sein „Leo Records” startete, um dann Ganelin herauszubringen. Die Herausgabe fast aller LPs /CDs des Ganelin Trios gehört seither ebenso zu den wesentlichen Veröffentlichungsaktivitäten wie die vieler weiterer hochinteressanter Jazzmusiker aus der damaligen Sowjetunion – unlängst ist der Teil IV der Reihe „Golden Years of the Soviet Jazz” (4-CD-Box) erschienen, vor einiger Zeit ein Mitschnitt des Wiedervereinigungskonzertes des Ganelin-Trios von der Frankfurter Buchmesse am 8. Oktober 2002 („15-Year-Reunion”, LR 375). Darüber hinaus engagiert sich Leo Feigin seit Jahren systematisch für bestimmte Künstler, deren Œuvre er auf diese Weise entscheidend mitprägt, so beispielsweise Ivo Perelman, Carlo Actis Dato, Gebhardt Ullmann und auch Anthony Braxton. Neben der soeben erschienenen, bemerkenswerten 4er-CD „23 Standards (Quartet) 2003” sind noch weitere 23 (!) Braxton-CDs auf Leo Records beziehungsweise auf dem Leo-Sub-Label GY erschienen. Der Leo-Records-Katalog verführt mit einer überbordenden stilistischen
Fülle und eigentlich jeder einzelne Titel bietet Hörerlebnisse
der feinen Art. Verblüffend sind die an diversen Vogelgesängen
orientierten Reed-Duette Peter A. Schmids mit Vinny Golia („Birdology”,
LR 389), beunruhigend schön die harten, dunklen Akkordeon-Solo-Stücke
der Russin Evelyn Petrova („Year’s Cycle”, LR 395),
atemberaubend die CDs der Ensembles um Simon Nabatov („Autumn Music”,
LR 397) und Joelle Leandre („For Flowers”, LR 396), um nur
einige wenige CDs aus der jüngsten Vergangenheit zu nennen. Die Platte enthält freie Passagen, ist aber alles andere als Free Jazz; sie klingt stellenweise wie Swing, zeugt aber von einem viel freieren Geist. Ganz große klasse! Anlässlich des 25. Geburtstags des Labels sind verschiedene Leo-Records-Festivals im Herbst geplant, so in Köln, Seattle, Leeds, in der Schweiz und in Moskau. Das in Moskau allerdings ist wieder unsicher geworden: der dortige Festivalmacher und rastlose Jazzaktivist Nick Dmitriev, Feigins Partner vor Ort, ist 48-jährig am 9. April verstorben. Mathias Bäumel |
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