Anzeige |
|
|
Anzeige |
|
Zu seinen Lebzeiten haben sich die Jazzkritiker über seine Bedeutung zerfetzt. Einige von ihnen taten ihn beharrlich als Scharlatan ab. Joachim Ernst Berendt präsentierte ihn 1970 in Donaueschingen und zu den Berliner Jazztagen. Das war der Durchbruch in Europa. Doch Sun Ra blieb umstritten, er polarisiert. Mit seiner Musik, seinen Ideen und seinen Phantasmagorien. Kein Jazzlexikon, das etwas auf sich hält, würde auf seinen Namen verzichten wollen. Sun Ra galt schon zu Lebzeiten als ein Mythos. Einer der von Mythen umweht wurde und der sich selbst als Mythos verstand.
Bereits das Geburtsdatum ist umstritten. In den meisten Nachschlagewerken steht: 22. Mai 1914 Mai 1934. Sun Ra selbst gab zu Protokoll: „in the month of may, arrival zone USA“. Die Ankunftszone lässt sich lokalisieren: Birmingham, Alabama. Aufgewachsen als Sohn einer alleinerziehenden Mutter, gemeinsam mit einem älteren Bruder, einer Halbschwester und einigen Stiefkindern, wird er früh mit dem Dasein als Schwarzer und Underdog in einem von Weißen beherrschten Amerika konfrontiert worden sein. Als Pianist und mit ersten Bands orientiert er sich am Swing-Stil von Fletcher Henderson. Er spielt für ein schwarzes Publikum. Als man ihn 1942 einziehen will, wird er Wehrdienstverweigerer. Er kommt fünf Wochen ins Gefängnis und muss anschließend Zivildienst leisten, Sun Ra fühlte anders als die patriotisch gesinnten Amerikaner, er spielte anders, und er hörte andere Klänge. Jazz Underground. In diesem Jahr 1942 dürfte er für sich die Weichen anders gestellt haben. Wie anderen Innovatoren des Jazz ging es auch Sun Ra um eine Symbiose aus Archaik und Avantgarde. Das Art Ensemble of Chicago brachte es später auf die Formel „Ancient to the Future“, aus ferner Vergangenheit in die Zukunft. „Futuristisch“ hat Sun Ra zur Beschreibung seiner Musik gelten lassen. Gleichwohl ist er, ebenso wie etwa der große orchestrale Klangmaler Duke Ellington, mit dem er mitunter verglichen wurde, nur aus der Geschichte der afroamerikanischen Musik zu verstehen. 1946 und 1947 arbeitete er in Chicago als Pianist und Arrangeur für sein frühes Vorbild Fletcher Henderson. In der Folge entwickelt er mit eigenen Bands eine eigene Musik und eine eigene Philosophie. 1952, nun in New York ansässig, erklärte er sich zum Bürger des Planeten Saturn. Der als Herman Blount geborene, nannte sich fortan Sun Ra. Mit dem Namen bezog er sich auf den ägyptischen Sonnengott Ra, und er gab sich eine eigene Bestimmung. All das spiegelt sich in seiner Musik, in seiner Lyrik und in den Titeln seiner Aufnahmen. Sigrid Hauf: „Der Mythos Sun Ra lässt sich in seinen Titeln umreißen: Er steht gegen die Realität (Myth versus reality) und ist ein Sonnenmythos (The sun myth). Die Sonne steht im Mittelpunkt der Welt Sun Ras (The heliocentric world of Sun Ra). Es gibt eine Tür zum Kosmos (Door of the cosmos) und einen Weg zu unbekannten Welten (Pathways to unknown worlds).“ Sun Ra hat stets Wert darauf gelegt, einen Stamm von Musikern um sich zu sammeln. Seine Bands nannte er Arkestra, die Bedeutung von Arche und Orchester zusammenziehend. Die Getreuen seiner Bands mussten sich in einer für Jazzmusiker ungewöhnlichen Disziplin üben. Auch wenn die Musik von Sun Ra weite Spielräume für individuelle und kollektive Improvisationen öffnete und schon in den fünfziger Jahren den späteren Free Jazz vorwegnahm, so erwies sich der von seinen Musikern als Guru Verehrte als autoritärer Leader. „Manchmal habe ich morgens um Drei eine Idee, und dann wecke ich alle. Sie haben keine Lust aufzustehen, aber sie tun es, und sie bleiben dann da, stundenlang, wenn es sein muss.... Ich sage meinem Orchester, dass die ganze Menschheit irgendwelchen Beschränkungen unterworfen ist, dass sie aber im Ra-Gefängnis sind, und das ist das beste auf der Welt. Der Schöpfer hat alle in ein Gefängnis gesteckt – lebenslänglich.“ Was musikalisch passierte, war aufregend: ein Prozess, der die späteren
Entwicklungen zu freiem Spiel vorwegnahm und zugleich Elemente der Tradition
zu integrieren wusste. Sun Ra entwarf orchestrale Gemälde von komplexer
Klanggestalt mit ständig wechselnden Texturen und Rhythmen. Sun Ra
integrierte für den Jazz ungewöhnliche Instrumente wie Sonnenharfe,
Oboen, Celli, afrikanische Hörner, japanische Flöten, Kotos
und jede Menge exotischer Perkussionsinstrumente. Mittendrin der Meister
im Cockpit des Raumschiffes: Sun Ra an Piano und diversen elektrischen
Keyboards. Sounds from Outer Space. Aus dieser Vorstellung heraus schuf
Ra eine ungewöhnliche Synthese aus eigenem Spiel und Spiel mit dem
Orchester. Sun Ra: „Ich habe intergalaktische Musik gewählt – oder vielmehr, sie hat mich erwählt... Mit meiner Musik male ich eigentlich Bilder der Unendlichkeit, und daher kommt es, dass viele Leute sie nicht verstehen können. Wenn sie aber ihr und anderen Arten von Musik zuhören würden, dann würden sie herausfinden, dass in meiner etwas anderes steckt, etwas aus einer anderen Welt.“ Sun Ra beschwor eine andere Welt, vielleicht auch deshalb, weil er diese, so wie er sie erlebt hat, einfach nicht akzeptieren konnte? „Ich wollte nie Teil des Planten Erde sein, und ich habe alles getan, um ihm nicht anzugehören. Ich habe nie nach seinem Geld oder seinem Ruhm gestrebt, und alles, was ich für diesen Planeten tue, tue ich, weil mich der Schöpfer des Universums dazu antreibt.“ Vermessenheit und Verachtung der gemeinen Realität. Aber auch bewusster Verzicht: „Ich gab alles auf, was ich nie hatte; denn alles, was ich nie hatte, ist das Leben, dass ich hinter mir ließ. Ja, ich gab alles auf, was ich nie hatte: Alles, was mir gefallen hatte und all meine Träume. An allem, was auf Erden zu einem guten Leben gehört, ging ich vorbei...“ Im Jahr vor seinem Tod habe ich Sun Ra getroffen. Noch einmal ging er auf Tour. The Sun Ra Arkestra. One concert in town. Das einzige weit und breit. Eine Band, die sich um ihn dreht wie ein Sonnensystem. Vielstimmig und klanggewaltig. Der Meister im Rollstuhl zwischen Piano und Keyboard. Etwas Vorstadt und ein Zipfel vom Weltall. Noch einmal funktioniert der Zauber. Nach dem Konzert sitzt er in sich gesunken, fast teilnahmslos in der Garderobe, wartet auf den Transport zur Unterkunft. Ein Interview wird abgesagt. Der Roadie verweist mich an Spencer, einen hageren Schwarzen. Der bestellt mich für nächsten Morgen, 8.30 Uhr, ins Hotel. Warten in einer heruntergekommenen Lobby. Gegen elf darf ich in das Zimmer. Audienz. Sun Ra mit dunkler Sonnenbrille und Pelzmütze. Wie ein alter Indianer sitzt er mir gegenüber, alt und dick, stolz und verbittert. Der Magier schweigt. Einstiegsfragen versagen, schmerzlich lange Pausen. Er scheint ins Unendliche zu schauen, reagiert schließlich einsilbig. Was die Glaubwürdigkeit seiner Musik ausmache? „Aufrichtigkeit“. Jazzmusiker vergleicht er mit Soldaten. Es gäbe Kräfte, die sie umbringen wollen. Auch er ein Soldat? Ja, und ein Pionier. Was er Jüngeren rate? „Sich um die Grundlagen dieser Musik zu kümmern.“ Ob er akzeptiere, dass man sich bei seinen Konzerten vergnüge? Ja, es gäbe zu wenig Glück unter der Sonne. Plötzlich hatte ich das Gefühl, er würde mich anblicken. Er begann Namen und Stichworte aufzunehmen. Über Albert Ayler und Cecil Taylor zu John Cage, mit dem er auf Coney Island zu einer gemeinsamen Performance zusammengetroffen ist. Noch während des Gesprächs kommt ein zweiter junger Mann ins Zimmer. Er und Spencer hängen Sun Ra einen lila Umhang über, ziehen ihm die Fellhandschuhe an, lösen die Justierungen des Rollstuhls, fahren ihn vorbei an den verwunderten Aufräumefrauen, mit dem Fahrstuhl hinunter, hinüber zum Bus. Spät in der Saison hat es noch einmal geschneit. Taut schnell weg. Er ist, dachte ich, auf dem Weg, uns zu verlassen. Sie rollen ihn in den Bus hinein. Ob er all das mache, solange er könne, habe ich ihn gefragt. Er hat darauf lange geschwiegen. Was heißt Free Jazz… Jazz ist seinem Wesen nach frei. Ob er glaube, zur Besserung des Planeten beigetragen zu haben. Ja, aber es sei die falsche Zeit. Er habe das kommen sehen. „Wenn der Sinn des Lebens der Tod ist“, heißt es in einem der Gedichte von Sun Ra, „dann ist der Sinn des Todes das Leben.“ Sun Ra starb am 30. Mai 1993. Mit freundlicher Genehmigung von Triangel
|
|