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Seine Lebensreise hat ihn rund um die Welt geführt. Das eine ergab sich sinnvoll aus dem anderen. Mit großer Bescheidenheit nennt er all das „zufällig“. Doch vielleicht konnten ihm die musikalischen Fusionen – die des Jazz mit den Rhythmen und Klängen des Rock und vor allem die mit anderen Kulturen – in der Tat nur deshalb so überzeugend gelingen, weil er nicht gesucht, sondern gefunden hat. Er ging nie von Vorsätzen aus, sondern folgte der Verlaufsform. Sich zuvor Unbekanntes zu eigen zu machen bedeutet für ihn zuallererst, zuzuhören und dann seine Gedanken im Dialog zu entwickeln, sich stets nicht nur professionell, sondern auch emotional einbringend.
Sein Ton ist unverwechselbar und mit Worten kaum zu beschreiben. Charles Mingus charakterisierte ihn mit „Tears of Sounds“ und kam ihm damit auf poetische Weise sehr nahe. Charlie Mariano spielte „Weltmusik“ bevor es den Begriff überhaupt gab. Und er setzte Maßstäbe für Ernsthaftigkeit, die seine jahrzehntelangen Beschäftigungen mit anderen Kulturen von kurzlebigen „Allerweltsmusiken“ unterscheiden. Sein Schaffen fußt auf der Kraft der Begegnung, auf der Bereitschaft, unvoreingenommen aufeinander zuzugehen und voneinander zu lernen. Charlie Mariano mit achtzig. Was für eine Fülle! Was für ein wunderbares Alter! Und vor allem: was für eine bewundernswerte Vitalität! Nicht entfernt erinnert er an einen Veteranen, der in der Vergangenheit lebt. Er ist – all die Reife, all die jahrzehntelange Erfahrung einbringend – mit genialem Spiel, hellwachem Geist und einer gütigen Gesinnung präsent. „Die meisten Musiker in Amerika“, so der Jubilar, „wissen gar nicht, was ich heute mache. Sie kennen mich von den 50er- und 60er-Jahren. In Europa ist es genau umgekehrt. Hier weiß man, womit ich mich in den letzten 30 Jahren beschäftigt habe, aber kaum etwas von der Zeit davor.“ Die Zeit davor beginnt in Boston. Dort geboren am 12. November 1923 schien ihm die Musik mit in die Wiege gelegt worden zu sein. Als Sohn italienischer Einwanderer früh mit den Opern-Klassikern vertraut, bekam er von klein an Klavierunterricht. Mit 18 Jahren begann er seine Laufbahn als Profimusiker. „Das war noch während der Big-Band-Ära. Ich mochte die Ellington-Band, und unter den Saxophonisten ganz besonders Johnny Hodges“, erzählt er mit noch immer spürbarer Begeisterung. „Dann habe ich mich an Charlie Parker orientiert. Nie zuvor hatten wir jemanden gehört, der so schnell spielte und so leidenschaftlich. Doch mir wurde bald klar, dass ich nie wie Parker klingen würde und deshalb etwas anderes versuchen musste.“ Anfang der 50er-Jahre spielte Charlie Mariano erstes Altsaxophon in der Big Band von Stan Kenton. Zugleich begann er, sich mehr und mehr für offenere Spielsituationen zu interessieren. Er gründete eine Band mit seiner ersten Frau, der Pianistin Toshiko Akiyoshi, er spielte 1962 bei Charles Mingus, und er unterrichtete am Berklee College of Music in Boston. Mit Toshiko ging er nach Japan; durch sie fand er einen ersten Zugang zu asiatischen Musikkulturen. Doch erst als er 1967 eine Einladung nach Kuala Lumpur erhielt, um mit
der dortigen Radio Big Band zu arbeiten, gewann die Hinwendung eine neue
Qualität. Charlie Mariano blieb ein halbes Jahr in Malaysia und lernte
während dieser Zeit den südindischen Nasgaswaram-Spieler Muthaia
kennen, der ihn in eine ihm zuvor fremde Klangwelt einweihte. 1973 kehrte
Charlie Mariano zurück zu seinem indischen Guru. Fast ein halbes
Jahr lebte er im dem kleinen Dorf Thiruvarankulum, zweihundert Kilometer
südlich von Madras. Täglich 6.30 Uhr mit dem Üben beginnend,
tauchte er in eine andere Erlebnis- und Erfahrungswelt ein, lernte das
Doppelrohrblattinstrument Nagaswaram zu meistern. Aber er lernte viel
mehr als das, auch die Kraft der Meditation, die Konzentration auf Wesentliches.
Wenn man sich heute mit Charlie Mariano über diese Themen unterhält,
wird man überraschend mit seiner These konfrontiert, dass Musik nichts
mit Religion zu tun habe. Erst wenn man nachfragt und längere Zeit
mit ihm zusammen ist, entdeckt man Spuren einer tiefer liegenden Spiritualität.
Nicht die Oberflächenphänomene, sondern eben diese Tiefendimensionen,
nicht die stilistischen Kodizes, sondern die Spielhaltungen verbinden
ihn diesbezüglich mit John Coltrane. Hat Coltrane die Musikkulturen
Asiens und Afrikas zu seiner Zeit mit der Seele gesucht, so ist Charlie
Mariano einen wichtigen Schritt weitergegangen: Er hat sich selbst auf
die Reise begeben. Charlie Mariano war auch dabei, als sich eine Karawane
von Musikern um Christian Burchards Gruppe „Embryo“ nach Indien
aufmachte. Was den Saxophonisten seither mit dem Kreis des Karnataka College
of Percussion verbindet, lässt sich kaum anders als Wahlverwandtschaft
bezeichnen. Im vergangenen Jahr, zu den Dresdner Tagen der zeitgenössischen Musik (aufgezeichnet von MDR Kultur), kam Charlie Mariano in einem Programm mit Musikern aus unterschiedlichen Himmelsrichtungen zusammen: mit R.A. Rama Mani und T.A.S. Mani vom Karnataka College of Percussion, mit den beiden Algeriern Chaouki und Yahia Smahi, mit dem Argentinier Quique Sinesi, dem Inder Ramesh Shotham, dem Amerikaner Dave King und dem Deutschen Mike Herting. Das musikalische Geschehen glich einer Drehscheibe, die Unterschiedliches in den Vordergrund treten lässt: südindische Skalen und Rhythmen, orientalische Klangwelten und Assoziationen zum argentinischen Tango. Bei all den wechselnden Klanglandschaften gab es keine Brüche, sondern fließende Übergänge und einen gemeinsamen Bezugspunkt: Charlie Mariano. Sich seiner Fähigkeiten zur Integration wohl bewusst, setzte er sich selbst nicht in den Mittelpunkt. Güte und Gelassenheit, Meisterschaft und Begeisterungsfähigkeit verleihen ihm eine Autorität, die ihm zugleich eine bemerkenswerte Art von Selbstlosigkeit erlaubt. Die gemeinsamen Spielprozesse treten in den Vordergrund und die Egos zurück. Eine Großfamilie, die miteinander musiziert und feiert. Charlie Mariano Global Music Celebration. Noch nach dem Konzert, tief nachts, trafen sich die Beteiligten auf den Hotelzimmern, um spielend voneinander zu lernen. Bert Noglik
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