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Am Anfang stand der GAU. Die japanische Polygram drehte 1995 dem JMT-Label einfach den Saft ab. Zehn Jahre lang hatte Labelgründer Stefan Winter die Ohren der Welt für ein höchst ambitioniertes Panorama zeitgenössischen Jazzgeschehens geöffnet und heutigen Stars wie Cassandra Wilson, Steve Coleman und Hank Roberts die Wege geebnet. Von einem Tag auf den anderen hatte der Produzent, der einst bei Enja volontierte und schließlich mit Jazz Music Today seine eigene Produktionsfirma gründete, nichts mehr zu tun. Doch bereits bei der Bekanntgabe der Hiobsbotschaft in der New Yorker Knitting Factory, kündigte Winter Neues an. Es dauerte dann doch sechzehn Monate, bis er 1997 mit drei Cello-Soloplatten (Paolo Beschi) in München reüssierte. Winter & Winter war aus der Taufe gehoben. Anders als der Vorgänger JMT, dessen Backkatalog neu abgemischt, seit diesem Herbst nach und nach wieder aufgelegt wird, stand Winter & Winter von Anfang an für eine größere Breite und mehr Vielfalt. Notierte Musik hat ebenso ihren Platz wie die des 20. Jahrhunderts, Improvisation und eine Schiene, die Künstlerpersönlichkeiten vorbehalten ist. Ausdruck findet diese Einteilung in einem Konzept, das keinem gewohnten Standardsystem erliegt, sondern die Kategorien Basic, New und Artist Edition und seit kurzem zusätzlich eine JMT-Edition kennt. So kommt es, dass nach fast fünf Jahren Labelgeschichte die Cello-Suiten von Johann Sebastian Bach ein einträchtiges Auskommen mit Paul Motians Electric Bebop Band, dem kühnen Trompeter Dave Douglas und eigenwilligen Akkordeon-Interpretationen von Erik Saties seltsamen Klavierkompositionen führen. Hat man sich einmal zurecht gefunden, kommt mit Audio-Films eine weitere Unbekannte ins Spiel und stiftet neue Verwirrung. Filme, die im Kopf entstehen, die sich aus Klängen, Rhythmen, Geräuschen und Melodien formen und ihre Imagination, ihren Zauber und eigenen Reiz aus Erinnerungen, Bildern, Mythen und Vorstellungen von Hörern gewinnen. Jüngstes Exemplar: Orient Express eine von Winters Kopfexplosionen, wie er es nennt. Ein musikalisches Tagebuch, das von der Reise im berühmten Dampfexpress von Paris nach Konstantinopel im Juni 1905 erzählt. Zugpfiffe, Türenschlagen, Bahnhofslärm und ein einsames Altsaxophon stehen am Anfang am Gare dEst, in das sich ein Akkordeon mit einer Musette einmischt. In München werden die Hörreisenden vom Heeresmusikkorps 4 aus Regensburg mit unvermeidlichen Präsentier- und Defiliermärschen empfangen. Zwischen dem ta-tak, ta-tak, ta-tak der Rollgeräusche schaukelt´s sich nach der Habanera von Carmen nach Wien, wo Georges Bizet die ersten Erfolge feiern konnte. Ungarische Tänze, Puccini und archaische Balkanlieder lassen einen Exotismus erblühen, der mit Karl Mays Balkanabenteuer bis heute Fantasien erregt. Eine ganze Reihe dieser Hörfilme, musikalischer Essays hat Winter inzwischen produziert. Venezia la Festa,
eines seiner erfolgreichsten Alben mit dem Zauber des Kaffeehaus-Orchesters auf dem Markusplatz, ein Tango-Trip durch
Buenos Aires nachtdunkle Bar- und Clubwelt (¡Tango Vivo!) und eine fiktive, gleichwohl mögliche, Geschichte
eines Hauspianisten aus dem schweizerischen Arosa, der in Verdi verschossen ist. Behutsam lässt der japanische
Pianist Fumio Yasuda, der in der Rolle des Alexander Schiffgen aufgeht, auf Im Zauber von Verdi Vertrautes
in musikalisch Neueres, Jazz und Blues, hinübergleiten. Stefan Winter fährt selbst an die Orte, recherchiert,
taucht ein in die Klangwelt, das spezifische Geräuschambiente eines französischen Bordells, eines schweizerischen
Bergkurortes und die argentinischen Bars. Dort nimmt er auf, ungeachtet von Nebengeräuschen, Gesprächsfetzen,
sucht sogar den authentischen akustischen Raum, den er bewusst mit einbezieht oder herstellt. Zu Winters Konzept,
an dem er niemals Abstriche macht, gehören alle Bereiche einer Produktion: Ort, Aufnahmetechnik, Covergestaltung
und Präsentation, die mit den jeweiligen musikalischen Ideen zu einem ästhetischen Gesamtkunstwerk verknüpft
werden. Im Zauber von Verdi wurde auf Schloss Elmau aufgenommen. Ein Ort, der es Yasuda ermöglichte,
der Situation des einsamen Hauspianisten nachzuspüren. Häufig schickt Winter Musiker zu Aufnahmen in die
pittoresk gelegene Villa Medici in der Lombardei. Fernab von urbaner Hektik, in einer gediegenen, geschmackvollen
Umgebung spielten hier Musiker wie der amerikanische Pianist Uri Caine, der niederländische Cellist Ernst Reijseger
und der Akkordeonspieler Guy Klucevsek, der erst jüngst einen Vier-Jahres-Vertrag mit Winter & Winter unterzeichnet
hat, großartige Musik ein. Michael Scheiner aktuelles
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