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Jazzzeitung

2001/12-2002/01  ::: seite 23

label portrait

 

Inhalt 2001/12

standards
Editorial
News
Fortbildung
no chaser: Queen of the Road
Glossar: Y (oung, Lester)
Farewell: In Memoriam Milt Gabler

berichte
Elmau. Jazztival wird zum Folktival
Ebersberg. Jazz im alten Kino
Regensburg. Maria-Verehrung
Ingolstadt. Jazztage zwischen New Orleans und Dancefloor
Ingolstadt. Das Roman Schwaller Nonett im Audiforum
Berlin. Elchtest. Jazzfest Berlin 2001
Eine Geburtstagsparty mit Dusko Goykovich

jazz heute
Break (von Joe Viera)
 Farewell.
 no chaser. Queen of the Road
  Zugereister Mafioso. Nürnbergs neuer Jazzprofessor: Steffen Schorn
 

portrait / interview
Hör-Pretiosen. Das Münchner Label Winter & Winter
Zappelbruder Schlagzeugvirtuose. Wolfgang Haffner

play back.
Das Tanzorchester.
50 Jahre leitet Erwin Lehn sein Südfunkorchester

education
Fortbildung
Abgehört 1
Dusko Goykovich: In My Dreams

Abgehört 2
Oscar Peterson: Exclusively for my friends

dossier
Neue CDs und neue Chorusse. „Abgehört“: Eine neue Rubrik in Ihrer Jazzzeitung

medien/service
Die Time macht die Musik. Videos mit Swing und Latin Drumming
Charts & Critics Choice
Internet. Link-Tipps
Rezensionen 2001/12
Service-Pack 2001/12 als pdf-Datei (kurz, aber wichtig; Clubadressen, Kalender, Jazz in Radio & TV, Jazz in Bayern und anderswo (144 kb))

 

Hör-Pretiosen

Das Münchner Label Winter & Winter

Am Anfang stand der GAU. Die japanische Polygram drehte 1995 dem JMT-Label einfach den Saft ab. Zehn Jahre lang hatte Labelgründer Stefan Winter die Ohren der Welt für ein höchst ambitioniertes Panorama zeitgenössischen Jazzgeschehens geöffnet und heutigen Stars wie Cassandra Wilson, Steve Coleman und Hank Roberts die Wege geebnet. Von einem Tag auf den anderen hatte der Produzent, der einst bei Enja volontierte und schließlich mit Jazz Music Today seine eigene Produktionsfirma gründete, nichts mehr zu tun. Doch bereits bei der Bekanntgabe der Hiobsbotschaft in der New Yorker Knitting Factory, kündigte Winter Neues an.

Es dauerte dann doch sechzehn Monate, bis er 1997 mit drei Cello-Soloplatten (Paolo Beschi) in München reüssierte. „Winter & Winter“ war aus der Taufe gehoben. Anders als der Vorgänger JMT, dessen Backkatalog neu abgemischt, seit diesem Herbst nach und nach wieder aufgelegt wird, stand Winter & Winter von Anfang an für eine größere Breite und mehr Vielfalt. Notierte Musik hat ebenso ihren Platz wie die des 20. Jahrhunderts, Improvisation und eine Schiene, die Künstlerpersönlichkeiten vorbehalten ist. Ausdruck findet diese Einteilung in einem Konzept, das keinem gewohnten Standardsystem erliegt, sondern die Kategorien Basic, New und Artist Edition und seit kurzem zusätzlich eine JMT-Edition kennt. So kommt es, dass nach fast fünf Jahren Labelgeschichte die Cello-Suiten von Johann Sebastian Bach ein einträchtiges Auskommen mit Paul Motians Electric Bebop Band, dem kühnen Trompeter Dave Douglas und eigenwilligen Akkordeon-Interpretationen von Erik Saties seltsamen Klavierkompositionen führen.

Hat man sich einmal zurecht gefunden, kommt mit „Audio-Films“ eine weitere Unbekannte ins Spiel und stiftet neue Verwirrung. Filme, die im Kopf entstehen, die sich aus Klängen, Rhythmen, Geräuschen und Melodien formen und ihre Imagination, ihren Zauber und eigenen Reiz aus Erinnerungen, Bildern, Mythen und Vorstellungen von Hörern gewinnen. Jüngstes Exemplar: „Orient Express“ – eine von Winters „Kopfexplosionen“, wie er es nennt. Ein musikalisches Tagebuch, das von der Reise im berühmten Dampfexpress von Paris nach Konstantinopel im Juni 1905 erzählt. Zugpfiffe, Türenschlagen, Bahnhofslärm und ein einsames Altsaxophon stehen am Anfang am Gare d’Est, in das sich ein Akkordeon mit einer Musette einmischt. In München werden die Hörreisenden vom Heeresmusikkorps 4 aus Regensburg mit unvermeidlichen Präsentier- und Defiliermärschen empfangen. Zwischen dem ta-tak, ta-tak, ta-tak der Rollgeräusche schaukelt´s sich nach der „Habanera“ von Carmen nach Wien, wo Georges Bizet die ersten Erfolge feiern konnte. Ungarische Tänze, Puccini und archaische Balkanlieder lassen einen Exotismus erblühen, der mit Karl Mays Balkanabenteuer bis heute Fantasien erregt.

Eine ganze Reihe dieser Hörfilme, musikalischer Essays hat Winter inzwischen produziert. „Venezia la Festa“, eines seiner erfolgreichsten Alben mit dem Zauber des Kaffeehaus-Orchesters auf dem Markusplatz, ein Tango-Trip durch Buenos Aires nachtdunkle Bar- und Clubwelt (¡Tango Vivo!) und eine fiktive, gleichwohl mögliche, Geschichte eines Hauspianisten aus dem schweizerischen Arosa, der in Verdi verschossen ist. Behutsam lässt der japanische Pianist Fumio Yasuda, der in der Rolle des Alexander Schiffgen aufgeht, auf „Im Zauber von Verdi“ Vertrautes in musikalisch Neueres, Jazz und Blues, hinübergleiten. Stefan Winter fährt selbst an die Orte, recherchiert, taucht ein in die Klangwelt, das spezifische Geräuschambiente eines französischen Bordells, eines schweizerischen Bergkurortes und die argentinischen Bars. Dort nimmt er auf, ungeachtet von Nebengeräuschen, Gesprächsfetzen, sucht sogar den authentischen akustischen Raum, den er bewusst mit einbezieht oder herstellt. Zu Winters Konzept, an dem er niemals Abstriche macht, gehören alle Bereiche einer Produktion: Ort, Aufnahmetechnik, Covergestaltung und Präsentation, die mit den jeweiligen musikalischen Ideen zu einem ästhetischen Gesamtkunstwerk verknüpft werden. „Im Zauber von Verdi“ wurde auf Schloss Elmau aufgenommen. Ein Ort, der es Yasuda ermöglichte, der Situation des einsamen Hauspianisten nachzuspüren. Häufig schickt Winter Musiker zu Aufnahmen in die pittoresk gelegene Villa Medici in der Lombardei. Fernab von urbaner Hektik, in einer gediegenen, geschmackvollen Umgebung spielten hier Musiker wie der amerikanische Pianist Uri Caine, der niederländische Cellist Ernst Reijseger und der Akkordeonspieler Guy Klucevsek, der erst jüngst einen Vier-Jahres-Vertrag mit Winter & Winter unterzeichnet hat, großartige Musik ein.
Ein Genuss für sich sind die kartonierten Verpackungen, auf die das Label einen Geschmacksmusterschutz besitzt. Wie edle Bücher nimmt man diese gern in die Hand, blättert in den sorgfältig und geschmackssicher zusammen gestellten Booklets, für die nicht selten renommierte Künstler verantwortlich zeichnen. Yasudas Debüt mit eigener Musik, jenseits herkömmlicher Stil- und Grenzlinien zwischen Klassik und Jazz angesiedelt, arbeitet mit Blütenfotografien des weltberühmten Japaners Nobuyoshi Araki. Für Paul Motians jüngste Produktion „europe“ hat Robert Coto bemerkenswerte düstere Malereien beigesteuert. Bei dieser additiven Form künstlerischer Zusammenarbeit lässt es der umtriebige Musikverleger nicht bewenden. Im Schauraum in Münchens Bohemeviertel Schwabing Pündterplatz/Clemensstraße präsentiert er auch Ausstellungen von Künstlern, die für das Label arbeiten. Bis 28. Februar 2002 ist eine Wandmalerei und Ausstellung von Stephen Fritsch zu sehen, der ebenfalls bereits für Winter & Winter Booklets gestaltet hat. Ebenfalls im edlen, allerdings einheitlich schwarz-weiß-rot gehaltenen Kartonagen-Outfit erscheinen die JMT-Reissues. Die Hüllen der Originalplatten liegen als Nachdruck mit bei. Damit wird sogar das Nostalgiebedürfnis vieler Fans befriedigt, die lange auf eine CD-Neuauflage dieser hochkarätigen Reihe gewartet haben.

Michael Scheiner

aktuelles

Orient Express, W&W 910 066-2
Paul Motian and the E.B.B.B., Europe, W&W 910 063-2
Fumio Yasuda: Charmed with Verdi, W&W 910 072-2
JMT-Edition: Steve Coleman Group, Motherland Pulse, W&W 919 001-2
JMT-Edition: Herb Robertson, Transparency, W&W 919 002-2
JMT-Edition: Jane Ira Bloom/Fred Hersch, As One, W&W 919 003-2
 
Lesestoff
Die Welt, 19. Dez. 2000
Jazzthetik 5/1997

 

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