Vor einem Jahr gingen „Sun Dew“ (das Sextett um die Violinistin Héloïse Lefebvre und den Gitarristen Paul Audoynaud) in Paris ins Aufnahmestudio von Laborie Jazz und spielten an mehreren Tagen 9 Stücke ein. Die CD ist nun gepresst und feierte ihre Veröffentlichung im Paris Berlins: in einer Neuköllner Seitenstraße. „Neue Nachbarn“ heißt die kleine Lokalität in der Schierker Straße, geführt von sympathischen, höflichen und den rücksichtsvollsten Gastwirten und -gebern, die ich je erlebt habe. Das Publikum am Ort, stehend oder auf dem Boden vor der Bühne sitzend, mit fast heiliger Lockerheit, entspannten Gesichtszügen. Kurz: Ein respektvolles Umgehen untereinander. Beste Bedingungen für eine Musik, die mit nachahmenswertem Understatement ihr Klanguniversum aufbaute und den Raum mit schillernden und duftenden Kompositionen füllte. „Sun Dew“: Um Gitarre und Violine gruppieren sich die Cellistin Liron Yariv, der Pianist Johannes von Ballestrem, Bassist Paul Santner und Christian Tschuggnall am Drumset. Zu hören gibt es kammermusikalisch feinst durchgemalte Musik, die gleichwohl nach außen einen erheblichen Druck zu erzeugen in der Lage ist. In „Tones from the Blackwoods“ (Nr. 7) schwebt der Klangraum in federleichter Weise, angestoßen von der Gitarre Paul Audoynaud – …
WeiterlesenAuthor: Huflaikhan
Der streitbare Musiker und Forscher – Zum Tod von Ekkehard Jost
Letzten Donnerstag starb im Alter von 79 Jahren Ekkehard Jost. Er gilt als einer, wenn nicht, der Pionier der Jazzforschung in Deutschland. Seine Habilitationschrift „Free Jazz“ aus dem Jahr 1972 brachte dem Jazz in Deutschland nicht nur akademische Weihen, sondern war natürlich, mehr als bemerkenswert. Eine Arbeit über Jazz und zwar eine über aktuellen Jazz zu schreiben und damit in der Musikwissenschaft zu reüssieren muss als Unmöglichkeit erscheinen. Gewiss, 1970, im Umfeld des Beethovenkongresses hat sich in der deutschen Musikwissenschaft viel bewegt. Der Zeitpunkt war günstig. Dass er, Ekkehard Jost, ein echter 68er mit allen politischen Implikationen, dann aber auch noch Ordinarius für Musikwissenschaft an der Universität Gießen wurde, darf als nächste Erstaunlichkeit wahrgenommen werden. Am Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik sammelte sich zu der Zeit eine junge Schar progressiver Musikwissenschaftler (wie der Musikpsychologe Eberhard Kötter, der junge tschechische Forscher Peter Faltin, der Dahlhaus-Schüler und Ästhetiker Peter Nitsche und später und leider zu kurz der Sozialgeschichtler Erich Reimer). Peter Brömse war damals der Direktor, der mit Mut und guter Hand das Institut profilierte – sicher zusammen mit der Musikpädagogin Gisela Distler-Brendel. Hier also blühte die …
WeiterlesenVermutungen über Musikkritik, Qualität, Quote und die Psychologie des Musiklebens
Nicht nur in der nmz gab es vor kurzem ein interessantes Dossier zum Thema Frauenquote, auch beim Jazzfest Berlin ging es um Gleichbehandlung von Menschen – als Menschen. Angeblich gut die Hälfte der in Berlin vertretenen Gruppen standen unter weiblicher Leitung. Ich habe es nicht nachgezählt, aber an Tag 2 und 3 war die Verteilung bei der Hauptveranstaltung unmissverständlich und dominant männlich. Darüber soll jetzt gar nichts gesagt werden. Es ist nur ein Anlass über den seltsamen Zusammenhang von Quote, Qualität und damit Kriterien der Musikkritik im Allgemeinen nachzudenken. Und zwar nicht als „Kritik“ der Kritik – es ist in diesem Zusammenhang schon so viele publiziert worden, ganze Tagungsbände – sondern, um den ganz normalen Zuhörern, die immer auch Kritiker sind, darzulegen, welche Funktion Kritik überhaupt haben kann und warum Kritiker auch nur Menschen sind. Quote ./. Qualität Aufschlussreich war eher die eigentlich gutgemeinte Idee, man stelle Frauen jetzt nicht besonders in den Vordergrund, der Quote wegen, sondern weil es um die Qualität gehe. Und da seien Frauen und Männer nicht zu differenzieren, sondern selbstverständlich gleich „gut“. Man nehme nur das wahr, was zähle, die …
WeiterlesenJazzfest Berlin 2016 (4) – Fegefeuer, Turbine und das/der Rauschende
Bisher war das Jazzfest Berlin 2016 eher „naja“. Der letzte Abend brachte die Wendung, es war Stimmung im Saal, es wurde auch mal gebuht. Irgendwer im Publikum durfte lautstark behaupten: „Das ist doch kein Jazz“. Emotionen! Die Antwort darauf kann nur lauten: Wenn man Jazz nur an den Namen, nicht aber an der Musik festmacht, dann habe der Jazz sich eben selbst kannibalisiert. Aber nehmen wir die Aussage als Frage auf: Was ist Jazz? Der Abend im Haus der Berliner Festspiele lieferte drei Antworten. Fegefeuer des Einfachen Julia Holter & Strings Julia Holters Musik lässt sich sicher ganz einfach und trivial beschreiben als Singer/Songwriter-Show mit ihr selbst an Stimme und Keyboard (immer schön leicht in den Songstrukturen freundlich singend), einer Rhythmusgruppe, einem Saxophon und einem Streichtrio (!). Holter hat darauf Arrangements gesetzt, die einfach perfekt waren, in Tonsatz und Timing. Man wird vergebens nach dem virtuosen Solo suchen, denn das gab es nicht. Kammermusik als ArtPop, so wie man es vielleicht verbinden mag mit der brodelnden Zeit der 80er und 90er Jahre, als die Genres ineinandergriffen und Bernd Leukert im Hessischen Rundfunk seine „Avantgarderobe“ lancierte. …
WeiterlesenJazzfest Berlin 2016 (3) – Unter Groovekillern: Spielen und kaputtspielen
Eigentlich eine Domäne des europäischen Jazz, das Kaputtspielen – ganz aus den späten 68ern heraus. So wie vorgestern beim Globe Unity Orchestra. Man kann die Dinge aber auch anders kaputtspielen: entweder wegen Überforderung oder durch ein aneinander vorbeispielen. Wird ja schon keiner merken – bei Profis oder gar Superstars der Szene gelingt doch sowieso immer alles. Nein! Dafür ist Platz für andere da. So war der erste Act des Abends im Haus der Berliner Festspiele einer der Höhepunkte des Festivals bislang! [Alle Fotos: Petra Basche] Robust, ökonomisch, fluffig! Das Angelika Niescier und Florian Weber Quintet Das Quintet um Angelika Niescier (as) und Florian Weber (p) beherrscht sich selbst und beherrscht das Metier. Mit „And Over“ betitelten sie ihr erstes Stück: Eine famose Komposition, bei der die Musikerinnen jeweils ihre Linien durchführen, wenig doppeln – im Gegenteil, tatsächlich ihre Wege einzeln komponiert verfolgen, ja geradezu polyphon. Virtuose Soli bei allen Instrumentalisten, ein groovender Bass (Eric Revis) und ein wunderbar ökonomischer Schlagzeuger (Gerald Cleaver), der mit wenig Aufwand ein Maximum an Wirkung erzielt. Großartig! Toll schon das Doppelsolo von Florian Weber und Ralph Alessi, entspannt, leicht, präzise. …
WeiterlesenJazzfest Berlin 2016 (2) – Freejazzflöhe, Verzweiflung und Struktursumpf
Okay, der Beruf der Jazzkritikerin ist nicht ganz einfach. An jeder Ecke wittert man eine Musikerin, die einem die letzte Kritik um die Ohren haut – wenn man Glück hat. Wenn man Pech hat, wird man gar nicht mehr erkannt. Die Sache ist ja doch die: Nach einem Konzert kommen die Menschen mehr oder weniger ungefragt auf einen zu und fragen einen: „Und? Wie fandest Du’s?“ Und dann steht man doof da. Es ist ja eine Fangfrage. Die richtige Antwort ist salomonisch: „Jaaa?!“ Andere treten direkt mit Lob oder Tadel zu einem und sagen das auch deutlich. „Jaaa?!“ „Hmmm.“ Kurzum, es ist nicht einfach, bei so vielen verschiedenen Meinungen und Urteilen gerecht zu sein. Man ist immer ungerecht. Für die Musikerinnen zählt sowieso nur das positive Urteil, bei einer eher negativen Kritik habe man als Kritikerin eben auch nix verstanden oder sei ein Ignorant. Überschwang zählt mehr als Inhalt. Das ist schon traurig häufig. Aber, da muss man durch. Und natürlich kann man auch schiefliegen. Wahrscheinlich tue ich das heute besonders. Der zweite Tag beim Jazzfest Berlin war nämlich ziemlich durchwachsen mies. Die guten Stellen …
WeiterlesenJazzfest Berlin 2016 (Interlude): Silbermeer schaut Video zur Musik
Eine kleine Nebenbetrachtung. Beim Auftritt von Myra Melford’s Snowy Egret auf dem Jazzfest Berlin 2016 kamen auch Videos zum Einsatz. Die Leinwand reflektierte ins Publikum zurück. Wir sehen hier das sogenannte Silbermeer beim Lauschen und Beobachten von Musik. Das Silbermeer, das unbekannte Wesen. ich gestehe ich liebe es sehr. Wir haben ja nicht den Originalton verwendet, denn der ist ja geschützt.
WeiterlesenJazzfest Berlin 2016 (1) „Man kann nicht Jazz auch“ – Julia Hülsmann, Mette Henriette und Wadada Leo Smith
Das Jazzfest in seiner erweiterten Form ist zwar schon am Dienstag gestartet, aber erst am Donnerstag legte es auch im Haus der Berliner Festspiele los. Mit wechselndem Ergebnis. Aber zunächst ist zu erwähnen, dass die diesjährige Ausgabe von der Kulturstaatsministerin Monika Grütters eröffnet wurde. Sie unterließ es dieses Mal auch nicht, die hervorragende Arbeit ihres Ministeriums umfänglich zu erwähnen. Aber sie zitierte und interpretierte auch einen Satz des langjährigen Leiters des Jazzfests George Gruntz: „Man kann nicht Jazz auch.“ Kann man nicht. Richtig. Was man heute künstlerisch kann, dafür stand der erste Abend exemplarisch. Drei Spielkulturen in drei Acts. Komprovisationen Julia Hülsmann Quartett & Anna-Lena Schnabel Zum Julia Hülsmann Quartett muss man nicht viel sagen. Es ist ein eingespieltes Ensemble, bei dem sich die Musikerinnen alle bestens verstehen – vor allem die engere rhythm section aus Marc Muellbauer (b) und Heinrich Köbberling (dm). Julia Hülsmann am Klavier bleibt dezent und wenn sie zum solo ansetzt, ist sie immer überaus präzise ohne Allüren, feinsinnig sowieso. Für das Jazzfest Berlin trat die Saxophonistin Anna-Lena Schnabel hinzu. Eine wunderbare Musikerin, die an ihrem Altsaxophon alles kann. Fünf Musikerinnen …
WeiterlesenPlastisches Rauschen, offene Fragen: antwortlos – Das Präludium zum Jazzfest Berlin 2016
Ab 1. November geht es mit einer erweiterten Fassung beim Jazzfest Berlin 2016 los. Es wird durch die Kulturstaatsministerin Monika Grütters eröffnet werden. Ein Zeichen des Bekenntnisses zum musikalischen Genre „Jazz“ von hoher bundespolitischer Bedeutung. Darauf wies Thomas Oberender, der Intendant der veranstaltenden Berliner Festspiele hin. Der Musikjournalist Ulf Drechsel besprach im Anschluss mit dem künstlerischen Leiter des Jazzfests, Richard Williams, die Eckpunkte des Programms. „Viele, viele bunte Smarties“? Nein, wieder ein Versuch, die Bandbreite aktueller Bewegungen im Jazz zu einem stimmigen Programm zu kristallisieren. Wie gut das gelingen wird? Abwarten. Eines ist jedenfalls offensichtlich: Man hat registriert, was längst normal ist. Es sind endlich auch viele Frauen in sichtbar im Programm präsent. Eigentlich längst eine Normalität? Eigentlich ja, in der Praxis jedoch noch selten umgesetzt. Unter der Moderation von Nadin Deventer wollte man der Sache etwas tiefer auf den Grund gehen. Unter dem Titel „Wie offen, gleichberechtigt und divers ist der Jazz heute wirklich?“ versammelte man die Musikjournalistin Franziska Buhre, die Sängerin Lucia Cadotsch, den Musiker und Interessenvertreter Nikolaus Neuser und den Leiter des Jazzinstituts Darmstadt, Wolfram Knauer, zur Analyse der Frage, der sich …
WeiterlesenLink-Tipp: Black Classical – History of Spiritual Jazz
Der Untertitel ist ein Understatement: „Black Classical charts the history of spiritual jazz through a 12 hour mega-mix.“ Unter Black Classical – History of Spiritual Jazz gibt es die volle Ladung Jazz seit den 50er Jahren. Die Playlist würde den Rahmen dieses Eintrag sprengen. Einfach dort vorbeischauen und sich Zeit nehmen, wenn man mag. Damit kann man jedenfalls einen vollen halben Tag verbringen. Und auch länger … eine exzellente Compilation. Und das ist ja nur ein Ausschnitt. Vertiefen muss man sich dann jeweils eigens. Das gleiche gibt es auch unter Archive. org an einem Stück mit Playlist und in verschiedenen Audio-Formaten.
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