Improvisation über Improvisation #9

Meine erstes Jazzalbum war „Portrait in Jazz“ des Pianisten Bill Evans. Vom Cover blickte mir ein adrett gekleideter Endzwanziger entgegen, mit Seitenscheitel, Intellektuellenbrille und traurigem Gesichtsausdruck. Das Album war fortan Dauergast in meinem CD-Spieler, und auch wenn mich die gesamte Aufnahme auf vielfältige Art faszinierte, so stach doch ein Stück besonders heraus: „When I Fall In Love“. Diese Klangfarben! Dieser Sound! Diese sensible Eleganz, die feine Melancholie in der Ausgestaltung von Melodie und Improvisation! Das Stück sprach direkt zu mir und war mit ein Grund für meine Entscheidung, Jazzklavier zu studieren. In den 17 Jahren, die zwischen meinem ersten Höreindruck und heute liegen, habe ich unzählige Tage Jazzmusik gehört und ganz unterschiedliche Phasen der Begeisterung für bestimmte Stile oder Musiker durchlebt. Viele davon kamen und gingen, aber diese Aufnahme beeindruckt mich noch immer. Sie bleibt stets frisch für mich; mit jedem Mal Hören finde ich einen neuen Anknüpfungspunkt, warum sie mir so gut gefällt. War ich damals sehr fixiert auf den Pianisten, genieße ich heute vor allem die Leistung seiner beiden Triokollegen (Bassist Scott LaFaro und Schlagzeuger Paul Motian): LaFaro spielt im Thema nichts außer …

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Improvisation über Improvisation #8

Jerome Kerns „All the things you are“ ist ein Musikstück, das einem im Jazzkontext häufig begegnet – ein sogenannter Standard. Wie so viele Stücke aus dem Great American Songbook wurde es ursprünglich für ein Broadway-Musical („Very warm for May“, 1939) geschrieben. Das Musical war schnell vergessen, der Song aber erwies sich als Hit: die „Coverversionen“ von Tommy Dorsey (1939) und Frank Sinatra (1945) schafften es beide auf Platz eins der Hitparade (… wie ich dieses Wort liebe!). Die frühen Vokalversionen – wie jene von Helen Forrest (1939), Jo Stafford (1946) oder Tony Martin (1946) – untermalten mit opulenter Orchestrierung Oscar Hammersteins hochromantischen Text und verdeutlichten die Tanzmusikfunktion des Jazz in der Ära der Swing-Big-Bands. Recht schnell fand das Stück aber auch in Bebop-Kreisen Anklang, wo es als reine Instrumentalmusik für kleinere Besetzung abstrahiert wurde. Dizzy Gillespie stellte „All the things“ 1945 erstmals ein Intro voran, das auf den ersten Blick wenig mit dem eigentlichen Stück zu tun hat und eine neue, geheimnisvollere Komponente hinzufügt. Dieses Intro tauchte bereits wenig später – etwa bei Red Rodney (1946) und Charlie Parker (1947) – so selbstverständlich integriert auf, …

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Improvisation über Improvisation #7

I – M – P – R – O – V – I – S – A – T – I – O – N . A – I – I – I – M – N – O – O – P – R – S – T – V . V – O – R – M – O – P – I – I – N – A – S – T – I . IM. MP. PR. RO. OV. VI. IS. SA. AT. TI. IO. ON. ATI. MIN. NPR. PRO. TOP. NSA (→ Ami → Spion → Tarn). VOIP. NATO. TISA… INTRO: Na? „Moin moin“ an: Armin; Ina, Isa, Insa, Iris + Irma; Martin, Marion, Mira + Miro (!!); Nora + Norma; Omar; Omars Oma + Opa; Pit, Pino + Patin; Rami, Rani, Rias, Rita, Rosa + Rosi; Sami, Sani, Siri, Sinti + Roma; Tim + Timo; Tom + Tomi; Toni, Tomas + Vati. Roman ist Romanist. Taoist. Maoist. Primat. Primitiv. Asi. Vampir. Tapir. Mops. Sponti am Main: Anti → Pro. Proviant: Vitamin, Provitamin, Opiat, Anis, Pita, Tran, Spinat, Raps + …

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Improvisation über Improvisation #6

Das Thema Revolution hat mich seit dem letzten Blog nicht losgelassen. Genauer gesagt wurde ich erneut darauf gestoßen, als ich feststellte, dass Igor Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ mich auch beim hundertsten Hören mehr packt und erschüttert als jedes andere Musikstück. Ein Blick auf die Geschichte des Werkes zeigt, dass es auch anderen so ging: massive Zuschauerproteste und Handgreiflichkeiten während der Uraufführung; Hohn und Unverständnis seitens der Kritiker; Orchester, die sich weigerten, diese Musik zu spielen. Der „Sacre“ erzwingt beim Ausführenden wie beim Rezipienten eine Reaktion – egal wie diese ausfällt. Spurlos vorüber zieht er nie. Bei Gil Scott-Heron heißt das dann: „You will not be able to stay home, brother“. Die Musik des „Sacre“ ist von einer so urtümlichen Wucht, aus ihr spricht die zarteste Schönheit ebenso wie die brachialste Zerstörungskraft. Wunderschöne Melodien werden fragmentiert und im gezielten Chaos neu zusammengesetzt. Nichts ist mehr, wie es vorher war. Was sich in der Natur jedes Jahr aufs Neue vollzieht, taucht bei den Menschen zwar seltener, aber doch ebenfalls immer wieder auf – meist mit gravierenden Folgen, nicht nur für die Menschen, sondern auch für die …

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Improvisation über Improvisation #5

„A lot of people never use their initiative because no-one told them to.“ (Banksy) Wenn ich dieser Tage meine Facebook-Startseite durchforste, lese ich von stetig wachsendem Unmut gegenüber den menschenverachtenden Auswüchsen des (Spät-)Kapitalismus und der seltsamen Vorstellung von einer „marktkonformen Demokratie“, die unsere Kanzlerin postuliert. Gerne wird dann eine „Revolution“ herbeigewünscht, die eine Änderung der Verhältnisse zum „Besseren“ herbeiführen möge. Die Revolution ist aber doch bereits in vollem Gange. Oder möchte noch irgendjemand behaupten, sein Leben habe sich in den letzten 10-15 Jahren nicht grundlegend verändert? Es geht nur noch um die Frage, wie wir uns zu ihr verhalten – passiv hinnehmend oder aktiv beeinflussend. Dass eine große Revolution aus Hunderten, Tausenden, Millionen individueller Revolutionen bestehen und im Kopf beginnen muss, wissen wir nicht erst seit Gil Scott-Heron. Wenn jeder von uns sein eigenes Denken revolutioniert – und sei es nur ein kleines bisschen – sieht die Welt womöglich schon bald ganz anders aus. Wir wollen uns nicht länger von Großkonzernen die Spielregeln diktieren lassen? Also gut: Warum haben wir dann noch Social Media-Accounts – sind persönliche Gespräche nicht viel wertvoller als virtuelle Chats? Warum …

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Improvisation über Improvisation #4

Eine gelungene Jazz-Improvisation ist wie eine schöne Blüte. Sie entsteht als Frucht der Arbeit, die die Pflanze vorher geleistet hat – als Samenkorn angefangen, mühsam Wurzeln gebildet und sich als Keimling an die Oberfläche getraut, in Millimeterschritten Blatt für Blatt ausgebildet, an Größe und Widerstandskraft gewonnen, bis sie schließlich stark genug war zu knospen. Fortan hat sie all ihre Kraft in die Ausbildung der Knospe gelegt, bis diese reif genug war, sich zu einer Blüte zu öffnen. Dieser lange, schwierige und vor allem unbedingt notwendige Prozess ist mindestens ebenso bewundernswert wie die eigentliche Blüte. Aufmerksame Gärtner freuen sich über jeden kleinen Schritt, den die Pflanze macht. Meist aber werden die Nutznießer – die Bienen, die Hummeln, das Publikum – erst dann auf die Pflanze aufmerksam, wenn die Blüte sich bereits geöffnet hat. Das ist jedoch nicht weiter verwunderlich, schließlich erregt nichts an der Pflanze so viel Aufsehen wie seine Blüte. Eine offene Blüte legt das Erbgut der Pflanze für jeden sichtbar frei und ermöglicht es Betrachtern wie Nutznießern, Freude an ihr zu haben und den jeweils eigenen Nutzen aus ihr zu ziehen. Jede Pflanze hat …

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Improvisation über Improvisation #3

„Aus dem Nichts heraus“ spielen zu können ist eine Qualität, die bei Improvisatoren hoch geschätzt wird. Zwar habe ich das Gefühl, intuitiv zu wissen, was damit gemeint ist, und schätze diese Qualität ebenfalls sehr. Sobald ich aber versuche, in Worte zu fassen, was damit genau gemeint ist, gerate ich ins Straucheln und der Begriff wird zunehmend schwammig. Eine erste, naheliegende Definition wäre, dass damit die Fähigkeit gemeint ist, ohne jegliche Vorgabe – also ohne Bezug zu einem komponierten Werk, ohne vorherige Absprachen mit den Mitmusikern und ohne Reaktion auf eine bereits bestehende musikalische Situation – Musik entstehen zu lassen. Diese Definition würde jedoch streng genommen nur bis zum ersten Ton einer freien Improvisation reichen; danach ergäben sich zwangsläufig Reaktionen, Bezüge, Fortführungen von bereits Bestehendem. Die Qualität, aus dem Nichts heraus spielen zu können, wurde zudem beileibe nicht nur Vertretern des Free Jazz zugesprochen. Eine weitere Definition bezöge sich auf die Fähigkeit, nicht nur in per se freien Spielsituationen, sondern auch in Bezug auf feststehende Werke jede Interpretation neu gestalten zu können, alternative Herangehensweisen zu finden und sich nicht auf eingespielte Gewissheiten zu verlassen. Diese Art …

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Improvisation über Improvisation #2

„Ja mach nur einen Plan, sei nur ein großes Licht! Und mach dann noch ’nen zweiten Plan, gehn tun sie beide nicht.“ Jeder Mensch improvisiert. Jeden Tag, sein ganzes Leben lang. Jeder Mensch agiert und reagiert, mal für sich allein, mal im Zusammenspiel (oder ernster: in Zusammenarbeit) mit anderen Menschen. Rituale, feste Arbeitszeiten und sorgfältig geplante Tagesabläufe sorgen für Struktur, für einen „komponierten“ Rahmen; aber selbst der durchstrukturierteste Mensch ist nicht gefeit vor Überraschungen, die ihn zu einer spontanen – improvisierten – Reaktion zwingen und gegebenenfalls seine Pläne über den Haufen werfen. Sogar wenn der Mensch schläft, improvisiert sein Gehirn, indem es im Traum Erlebtes ordnet, neue Erfahrungen mit alten verbindet oder uns auf kommende Situationen vorbereitet. Interessanterweise arbeitet während des Träumens das Emotionszentrum im Gehirn stärker als im Wachzustand, der für geradliniges Denken, Planen und Handeln zuständige Bereich hingegen weniger stark. Träume und Improvisationen haben viel gemeinsam. Beide laufen irgendwo zwischen Un-, Unter- und Bewusstsein ab; beide verbinden bereits Gelerntes mit neuen Reizen; beide lassen sich nicht (oder nur sehr begrenzt) planen und folgen nicht zwangsläufig einer vorhersehbaren Logik; zudem spielen Emotionen bei beiden …

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Improvisation über Improvisation #1

Der Wecker klingelt wie gestellt. Der Taxifahrer klingelt wie bestellt. Auch der Zug, der mich zum Flughafen bringt, ist auf die Minute pünktlich. Abfertigung reibungslos, Flug ohne Turbulenzen. Ankunft um 14:48. Raus aus der Schalterhalle, rein ins alltägliche Chaos. Lautes Stimmengewirr, ich verstehe kein Wort. Stau. Enge. Ein Paradies für Huptonforscher. Theoretisch gilt Rechtsverkehr; praktisch gilt links wie rechts das Recht des Schnelleren. War das gerade ein Geisterfahrer? Ach so, normal. Beißender Benzingeruch. Überlandfahrt.Autos,Minibusse,hoffnungslosüberladeneLastwagen,Fahrradtaxis,Pferdefuhrwerke,Fußgänger-allegleichzeitigundkreuzundquer.FünfköpfigeFamilieaufeinemMoped.Stau.Hupkonzert. AmStraßenrandbaumelnnackteKälberohneKopf.ImDrecknebenanliegteintoterHund. UnfertigesHausnebenunfertigemHaus.BrennendesPlastik.Smog.Staub. WowollendieLeutedennallehin? W ü s t e . Hoteloase. Balkon mit Flussblick. Endlich: ein wenig Ruhe. Zeit für diese Zeilen. Es funktioniert ja alles, irgendwie. Nur ganz anders als bei uns. Die Menschen winken uns zu, heißen uns mit herzlichem Blick willkommen, sind auf untertänige Weise höflich. „Die Ausländer haben ihre Sandwiches bei mir gekauft“, ruft der Verkäufer stolz über den ganzen Platz. Ich schäme mich. Was will ich denn? Eigentlich am liebsten keine bevorzugte Behandlung. Aber ich bin auch gewöhnt an „Leben light“, an reibungslose Abläufe und sichere Häfen. Von meinem vermeintlich hohen westlichen Ross ist der vermeintliche Boden kaum zu erkennen. Traue ich mir den Absprung zu? Hätte …

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Improvisationen über Improvisation – Einleitung

Die Improvisation ist ein zentrales Merkmal des Jazz. Sie ermöglicht es den beteiligten Musikern, trotz wenig vorgeschriebenem Material oder sogar ganz ohne auskomponierte Vorlage sinnvoll miteinander zu musizieren. Entgegen einer landläufigen Meinung hat Improvisation absolut nichts mit Beliebigkeit zu tun. Dass das für ungeübte Ohren bisweilen so klingen mag, ist nachvollziehbar, macht diese Meinung aber nicht weniger falsch. Es ist nicht egal, was wer wann spielt – auch und gerade im Free Jazz nicht. Um zu verstehen, warum das so ist, lohnt sich der Blick auf die verschiedenen Spielformen des Jazz. Eine seit den Anfängen bis heute sehr gängige Form ist die Improvisation über eine feststehende Vorlage, bei der die Akkordfolge (die „changes“) einer Komposition als Grundlage für die Improvisation dient. Ob diese Komposition ein einfacher Blues, ein Song aus einem Broadway-Musical oder ein komplexes Instrumentalstück ist, spielt dabei keine Rolle. Im Normalfall sind hier viele der wesentlichen musikalischen Parameter festgelegt: harmonischer Verlauf, Melodie und gegebenenfalls Text des Stückes, rhythmisches Metrum; oft auch Tempo, Stilistik, Grundstimmung und Arrangement. Bei letzterem erfreut sich das Modell Anfangsthema – Improvisation(en) – Schlussthema besonderer Beliebtheit. Bereits diese „Standardform“ hat …

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